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# taz.de -- Krise in Tunesien eskaliert: Präsident setzt Regierung ab
> Tunesiens Präsident Saied suspendiert auch das Parlament, dessen Gebäude
> vom Militär umstellt wird. Der Parlamentschef spricht von Putsch.
Bild: Tunis am Sonntag: Plakat gegen Parlamentspräsident Rached Ghannouchi
Tunis rtr/afp | Tunesiens Präsident Kais Saied hat am Sonntag
Regierungschef Hichem Mechichi entlassen und angeordnet, das Parlament
müsse seine Arbeit für 30 Tage aussetzen. Die Immunität der Abgeordneten
werde aufgehoben, erklärte der Präsident des nordafrikanischen Landes und
drohte für den Fall gewaltsamen Widerstands mit einem Einsatz der Armee.
„Viele Menschen wurden mit Heuchelei, Verrat und Raub um die Rechte des
Volkes betrogen“, sagte Saied. Er warne davor, zu Waffen zu greifen. „Wer
eine Kugel abfeuert, dem werden die Streitkräfte mit Kugeln antworten.“ Er
kündigte an, die Regierungsgeschäfte an der Seite eines neuen
Ministerpräsidenten zu übernehmen.
Parlamentspräsident Rached Ghannouchi sprach in einer ersten Reaktion von
einem Staatsstreich. Er wurde am Montagmorgen von der Armee daran
gehindert, das Parlamentsgebäude zu betreten. „Ich bin dagegen, alle Macht
in den Händen einer Person zu bündeln“, sagte Ghannouchi vor dem
Parlamentsgebäude. Der Entscheidung des Präsidenten waren [1][gewaltsame
Proteste in mehreren Städten des Landes] vorausgegangen. Das Land kämpft
mit einer Wirtschaftskrise, einer drohenden Haushaltskrise und einer
schleppenden Bewältigung der Coronapandemie.
In der Hauptstadt Tunis und anderen Städten gingen Zehntausende Anhänger
Saieds auf die Straße und drückten mit Hupkonzerten und Feuerwerk ihre
Unterstützung aus. Auch größere Demonstrationen, zu denen Aktivisten in den
sozialen Medien aufgerufen hatten, fanden am Sonntag statt. Der Großteil
der Proteste richtete sich gegen die gemäßigte islamistische
Ennahda-Partei, die größte im Parlament.
## Menschen feiern Absetzung der Regierung
„Wir sind von ihnen befreit worden“, sagte Lamia Meftahi, die auf den
Straßen der Hauptstadt inmitten einer Menschenmenge die Nachricht feierte,
mit Blick auf die Regierung. „Das ist der glücklichste Moment seit der
Revolution!“ Der Präsident schloss sich am frühen Montag den feiernden
Menschen auf der zentralen Allee Habib Bourguiba an, wie Bilder des
staatlichen Fernsehens zeigten. Die Hauptverkehrsader in Tunis war
Ausgangspunkt der demokratischen Revolution 2011.
Zwei Augenzeugen sagten der Nachrichtenagentur Reuters, dass wenige Stunden
nach der Suspendierung des Parlaments das Regierungsgebäude von
Militärfahrzeugen umstellt worden sei. Eine in der Nähe versammelte
Menschenmenge habe die Ankunft des Militärs bejubelt und die Nationalhymne
angestimmt.
Lokale Medien berichteten, die Armee habe auch das Gebäude des staatlichen
Fernsehens umstellt, Hubschrauber kreisten über der Stadt. Die Polizei habe
Tränengas eingesetzt, um Menschen zu vertreiben, die am späten Sonntag
versuchten, den Sitz der Ennahda-Partei in Tunis zu stürmen.
Während Saied erklärte, seine Anordnungen stünden im Einklang mit der
Verfassung, bezeichnete der Parlamentspräsident und
Ennahda-Parteivorsitzende Ghannouchi Saieds Vorgehen als Staatsstreich. In
einem Telefonat mit der Nachrichtenagentur Reuters sprach Ghannouchi von
„einem Putsch gegen die Revolution und die Verfassung“. „Wir sind der
Meinung, dass die Regierungsinstitutionen noch stehen, und die Anhänger der
Ennahda und des tunesischen Volkes werden die Revolution verteidigen“,
fügte er hinzu.
Das Parlament werde trotz Saieds Schritt tagen. In einer Video-Botschaft
rief er die Tunesier dazu auf, gegen den Umbruch auf die Straße zu gehen.
Auch der Vorsitzende der Partei Karama und der ehemalige Präsident Moncef
Marzouki bezeichneten Saieds Schritt als Putsch. „Ich bitte das tunesische
Volk zu bedenken, dass es glaubt, dass dies der Anfang einer Lösung sei. Es
ist aber der Anfang des Schlitterns in eine noch schlimmere Situation“,
sagte Marzouki.
## Präsident reagiert auf regierungskritische Proteste
Die Ankündigungen Saïeds erfolgten nach regierungskritischen Protesten in
mehreren tunesischen Städten am Sonntag. In der Hauptstadt Tunis hatten
sich hunderte Menschen vor dem Parlament versammelt. Sie warfen der
Ennahda-Partei und Ministerpräsident Mechichi Versagen im Kampf gegen
steigende Corona-Infektionszahlen vor.
In Tunesien [2][steigt die Zahl der Corona-Infektionen massiv], in
Krankenhäusern ist der Sauerstoff knapp. Bislang starben in dem
Zwölf-Millionen-Einwohnerland mehr als 18.000 Menschen an Covid-19.
Angesichts der Lage wuchs bei vielen Tunesiern zuletzt die Verärgerung über
das Gezänk zwischen den Parteien im Parlament und den Machtkampf zwischen
Mechichi und dem Parlamentspräsidenten und Ennahda-Vorsitzenden Rached
Ghannouchi auf der einen und Staatspräsident Saied auf der anderen Seite.
Der parteilose Saied hatte bei seinem Amtsantritt 2019 geschworen, das
komplexe und von Korruption geprägte System zu reformieren. Tunesien ist
das einzige Land, das als Demokratie aus dem Arabischen Frühling
hervorgegangen ist. Vor zehn Jahren war der Autokrat Zine al-Abidine Ben
Ali nach rund 25-jähriger Herrschaft gestürzt worden. In der Bevölkerung
herrscht jedoch Unzufriedenheit, weil die Schere zwischen Arm und Reich
weit auseinanderklafft.
26 Jul 2021
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