# taz.de -- Politische Krise in Tunesien: Ausnahmezustand in Dauerschleife | |
> Tunesiens Präsident hat die Sondervollmachten um unbestimmte Zeit | |
> verlängert – Regierung und Parlament bleiben suspendiert. Und nun? | |
Bild: Misere in der Hauptstadt Tunis: Auch seit dem „Putsch von oben“ geht … | |
TUNIS taz | Wenige Minuten vor Ablauf der von ihm selbst verkündeten | |
Aussetzung des Parlaments für eine Dauer von 30 Tagen meldete Tunesiens | |
Präsident sich in der Nacht zu Dienstag zu Wort. [1][Kais Saied] verlängere | |
sein Dekret vom 25. Juli auf unbestimmte Zeit, hieß es in einer knappen | |
Erklärung auf Twitter und Facebook kurz vor Mitternacht. Damit bleibt der | |
von der Armee bewachte Eingang des Parlamentsgebäudes in Tunis | |
verschlossen, die Immunität der Abgeordneten bleibt aufgehoben – und wie | |
lange, ist offen. | |
Während Gewerkschaften und Parteien zunächst keine Reaktion zeigten, werden | |
Vertreter der Zivilgesellschaft zunehmend kritisch. Die | |
Verfassungsrechtlerin Mouna Kraiem erklärte gegenüber Tunisienumérique, der | |
Präsident habe den Rahmen der Verfassung nun endgültig verlassen: „Die | |
unbestimmte Zeit und das Fehlen eines Fahrplans deuten darauf hin, dass die | |
Präsidentschaft keinen wirklichen Plan hat und improvisiert.“ | |
Die Gründer der Antikorruptionsbewegung Manich Msamah und anderer | |
Initiativen wollten sich am Dienstag Abend in Tunis treffen, um eine neue | |
Bewegung zum Schutz der Verfassung zu gründen. Gegenüber der taz warnten | |
sie, dass Saieds Isolation im Präsidentenpalast und seine Kooperation mit | |
dem verhassten Innenministerium zu neuen Konflikten mit der | |
Zivilgesellschaft führen kann. Schon jetzt bleiben sie aus Angst vor | |
Verfolgung lieber anonym. | |
Weit entfernt erscheint der 25. Juli, der Tag der Republik, als der | |
Präsident mit einem Paukenschlag [2][die Regierung absetzte], das Parlament | |
entmachtete und viele Menschen in Tunesien jubelten. Die Einheit des Landes | |
sei in Gefahr, daher würde ihn Paragraf 80 der Verfassung zu der | |
vorübergehenden Machtübernahme zwingen, so Saied damals bei seiner | |
Fernsehansprache an das Volk in Gegenwart von Armee- und Polizeigenerälen. | |
## Putsch von oben | |
Viele Juristen zweifelten schon damals an Saieds Auslegung des Paragrafen | |
und sprachen von einem [3][Putsch von oben]. Doch mangels eines | |
Verfassungsgerichts war der Widerstand der Abgeordneten nur gering. Viele | |
warten die Sommerpause ab, statt ihre Rückkehr in das mit Stacheldraht | |
abgeriegelte Gebäude im Stadtteil Bardo zurückzufordern. | |
Denn der Jurist Saied, im Jahr 2019 mit über 70 Prozent der Stimmen zum | |
Präsidenten gewählt, hatte am 25. Juli die Mehrheit der Tunesier an seiner | |
Seite. Wenige Minuten nach seiner Rede füllten sich die Straßen im ganzen | |
Land trotz Ausgangssperre mit jubelnden Menschen. Den Staat erleben viele | |
Tunesier seit der Revolution von 2011 als Grund für das Fortdauern von | |
Korruption und Vetternwirtschaft. | |
Anfang Juli war die [4][Covid-Infektionsrate in Tunesien] und die Todesrate | |
auf einen weltweiten Höchststand gestiegen. Weder Regierung noch Parlament | |
hatten sich auf einen Aktionsplan einigen können. Im Gegenteil, | |
Oppositionsführerin Abir Moussi lieferte sich mit den Islamisten der | |
Karama-Partei erbitterte Rededuelle, die in physischen Angriffen auf sie | |
endeten. „Die Abgeordneten, viele aus 22 Kleinstparteien, wurden zu einem | |
Inbegriff dafür, dass Demokratie nicht nur aus Wahlen besteht“, sagt der | |
Aktivist Omar ben Amor. | |
Parlamentspräsident Rahed Ghannouchi, der 80-jährige Vorsitzender der | |
islamistischen Ennahda-Partei, ließ die oft live im Fernsehen übertragenen | |
Handgemenge und Schmähungen gewähren. Sein Parteifreund Abdelkarim Harouni | |
schaffte es dann, den Volkszorn auf die Ennahda zu lenken: Er forderte die | |
Regierung auf, bis 25. Juli die 16.000 Opfer des Ben-Ali-Regimes, | |
mehrheitlich verfolgte Ennahda-Anhänger, finanziell zu entschädigen. | |
„Dass Ennahda die Aufarbeitung der Diktatur nur für ihre Parteimitglieder | |
forderte, war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte“, analysiert | |
rückblickend Aktivist Omar ben Amor. Am Vormittag des 25. Juli stürmten | |
junge Demonstranten Ennahda-Büros in mindestens zwölf Städten und lieferten | |
sich Straßenschlachten mit der Polizei. Am Abend dann suspendierte der | |
Präsident Parlament und Regierung. | |
## Forderung nach Einhaltung von Reformen | |
„Auf so eine Eskalation hatte Kais Saied gewartet“, sagt ben Amor aus der | |
Handelsstadt Sfax südlich von Tunis. Wie viele seiner Generation | |
unterstützt der 29-Jährige die Maßnahmen des Präsidenten, jedoch mit | |
Skepsis. „In der Provinz ist unser Feind die Korruption in Justiz, Polizei | |
und Verwaltung“, sagt Ali, der sich zusammen mit Omar um verurteilte | |
Jugendliche in Gefängnissen kümmert. „Kaies Saied und die Parlamentarier in | |
Tunis sind uns egal.“ | |
In den vier Wochen seit seiner Selbstermächtigung hat Saied mehrere | |
Provinzgouverneure ausgetauscht, die Justiz ermittelt gegen 64 Abgeordnete | |
sowie eine unbekannte Zahl von Geschäftsleuten wegen Geldhinterziehung. | |
Immer mehr Tunesier fordern aber jetzt einen klaren Zeitplan für die von | |
Saied angekündigte Wahlrechts- und Verfassungsreform, die unter anderem die | |
Zersplitterung des Parlaments durch eine Zehnprozenthürde beenden soll. | |
Manche Beobachter denken aber, dass Saied weitergehen und das Parlament | |
durch auf Gemeindeebene gewählte Delegierte ersetzen möchte. „Wir schauen | |
uns genau an, was Kais Saied vorhat“, warnt Omar ben Amor, „und gehen | |
wieder auf die Straße, wenn die Demokratie in Gefahr ist.“ | |
24 Aug 2021 | |
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## AUTOREN | |
Mirco Keilberth | |
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