| # taz.de -- Tunesiens Präsident Kais Saied: Volksheld der besonderen Art | |
| > Was will Tunesiens Präsident Kais Saied? Mit seinem „Putsch von oben“ | |
| > weckt er im Land Hoffnungen. Doch es gibt auch kritische Stimmen. | |
| Bild: Kann man diesem Mann vertrauen? Kais Saied am Sonntag in Tunis | |
| Tunis taz | Präsident Kais Saieds [1][Paukenschlag vom 25. Juli] hat ein | |
| neues Kapitel im nachrevolutionären Tunesien aufgeschlagen. Die Absetzung | |
| von Premierminister Hichem Mechichi, die Schließung des Parlaments für | |
| mindestens 30 Tage und der Entzug der Immunität der Abgeordneten am 25. | |
| Juli war aus Sicht seiner Kritiker ein Staatsstreich von oben. Die Mehrheit | |
| im Land spricht von tunis al-jadida, dem „neuen Tunesien“, oder auch von | |
| den „Maßnahmen vom 25. Juli.“ | |
| Wie auch immer man die eigenmächtige Erweiterung seiner Macht sieht, selten | |
| haben Bürger die Entmachtung einer Regierung und der Parlamentarier so | |
| frenetisch bejubelt. Denn viele Tunesier sehen in Saied, einem | |
| Juraprofessor ohne vorherige Politikerfahrung, einen der wenigen | |
| unbestechlichen Politiker im Land. | |
| Saieds Popularität ist nicht selbstverständlich. Sein Hocharabisch | |
| verstehen viele Tunesier nur mit Mühe. Über sein hölzernes Auftreten machen | |
| sich seit seiner Wahl vor zwei Jahren vor allem Aktivisten lustig. Medien | |
| gaben Saied wegen seines stets gleichen Gesichtsausdrucks den Spitznamen | |
| Robocop. Seine Kampagne für die Präsidentschaftswahl 2019 finanzierte er | |
| aus eigener Tasche, er ging über Wochen von Tür zu Tür und übernachtete in | |
| Billighotels. | |
| Am 25. Juli ist er zu einem atypischen Volkshelden aufgestiegen, begeistert | |
| bejubelt, als er in den Nacht des Putsches plötzlich auf der Avenue du | |
| Bourguiba im Herzen von Tunis auftauchte. Am Nachmittag hatten in einem | |
| Dutzend Städte die Parteibüros der moderaten Islamisten der Ennahda-Partei | |
| gebrannt. | |
| ## Wenig gemeinsam mit Ennahda | |
| Zigtausende waren gegen die Untätigkeit der Regierung auf die Straße | |
| gegangen. Die für seine Verhältnisse knappe Rede er las um 20 Uhr wie immer | |
| quälend langsam vor. Einer seiner Wegbegleiter sagte der taz am Abend des | |
| Putsches, Saied habe seit zehn Jahren auf diesen Moment hingearbeitet. | |
| Sein Wahlsieg 2019 mit über 70 Prozent war ein Denkzettel der Wähler für | |
| die politischen Eliten. Im Wahlkampf stand bei den im Fernsehen | |
| übertragenen Wahldebatten der großgewachsene Mann dort mit ausdruckslosem | |
| Gesicht. Die Cafés waren vollbesetzt, als die Kandidaten sich vorstellten. | |
| Wenn Saied sprach, rückten viele näher an die Bildschirme. Seine | |
| Kampfansage gegen Korruption und Machtmissbrauch klang wie der Vortrag | |
| eines Geschichtslehrers, doch die Wähler nahmen ihm ab, es ernst zu meinen. | |
| In den ersten Monaten seiner Amtszeit blieb Saied mit seiner Frau, einer an | |
| einem Gericht in Sfax angestellten Richterin, in ihrem kleinen Haus im | |
| Hauptstadtviertel Mnihla. Erst als die Beschwerden der Nachbarn über die | |
| von der Wagenkolonne des Präsidenten ausgelösten Staus auf dem Weg zu dem | |
| Palast in Karthago nicht aufhörten, packte das Paar die Umzugskartons. | |
| Mit dem Einzug in den Palast wurde es ruhig um Saied, seine kompromisslose | |
| Kritik an der Arbeit der Parlamentarier und der politischen Parteien | |
| isolierte ihn. Elf Ministern des von ihm selbst vorgeschlagenen | |
| Premierministers Hichem Mechichi verweigerte er die nötige präsidiale | |
| Zustimmung. | |
| Mit der nach der Revolution von 2011 zur Volkspartei aufgestiegenen Ennahda | |
| verband ihn nicht viel. Der Chef der moderaten Islamisten, Rahed | |
| Ghannouchi, ist Parlamentspräsident und Saieds größter Gegenspieler. Zwar | |
| verbindet beide Männer eine konservative Grundhaltung, doch die | |
| Interpretation ihrer Staatsämter könnte kaum unterschiedlicher sein. | |
| ## Diskussionen über Basisdemokratie | |
| Ghannouchi wird von vielen westlichen Medien als kompromissbereiter | |
| Vertreter der weltweit tätigen Muslimbruderbewegung gelobt. Der 81-Jährige | |
| nutzt sein Amt des Parlamentspräsidenten jedoch ungeniert als | |
| Werbeplattform für die Ennahda-Bewegung, die vor dem Arabischen Frühling | |
| ins Exil gedrängt wurde. | |
| Kais Saied will den politischen Parteien, die im Eigennutz Klientelismus | |
| betreiben, das Handwerk legen. Mit einer Mischung aus lokalen Räten, die | |
| Abgeordnete in das Parlament entsenden, will er das Verhältnis von Staat | |
| und Bürgern neu ordnen. Seine Reden sind eine Mischung aus altlinken Ideen | |
| und populistischem Panarabismus, gewürzt mit Verschwörungstheorien gegen | |
| dunkle ausländische Mächte. | |
| Jeder sei vor dem Gesetz gleich, betont Saied immer wieder. „Ein | |
| Graswurzelaktivist, der es den korrupten Politikern, die 2015 fast einen | |
| Bürgerkrieg angezettelt hatten, mit dem Gesetz zeigen will“, beschrieb ein | |
| Freund Saieds ihn am Wahlabend mit einem Schmunzeln. | |
| Seit dem 25. Juli ist Saieds Ton ein anderer. Sein drastisches | |
| Maßnahmenpaket hat der stets im Anzug auftretende Saied – als Präsident ist | |
| er auch Oberbefehlshaber der tunesischen Armee – mit einer scharfen Warnung | |
| verbunden: „Auch ein einzelner Schuss wird mit Salven beantwortet werden“, | |
| so Saied im Beisein von Armee- und Polizeigenerälen und meinte wohl die | |
| Milizen der Ennahda-Partei. | |
| Um [2][das Vertrauen zu verstehen, das so viele Menschen in den Sheikh | |
| haben], muss man bis 2011 zurückgehen“, sagt Fausi Daab. Der als | |
| Bauarbeiter tätige Aktivist war Freiwilliger im Wahlkampfteam von Kais | |
| Saied. Fast jeden zweiten Freitag sei man 2019 mit Saied in die Dörfer und | |
| Kleinstädte gefahren, ins wahre Tunesien, wie der 37-Jährige sagt. Saied | |
| habe in stundenlangen Gesprächen mit der Bevölkerung über Basisdemokratie | |
| geredet, über die grassierende Korruption, über Moral und Philosophie. | |
| ## Saied lehnt Schwule und Lesben ab | |
| Während andere politisch Interessierte die neugewonnene Freiheit nutzten, | |
| politische Parteien zu gründen, wurde aus den Organisatoren der | |
| Gesprächskreise auf dem Land eine verschworene Gruppe von Linken, | |
| Demokraten und Reformisten, sagt Daab. „Es gab unterschiedlichste | |
| Meinungen, uns einte aber der Wille, dieses Land neu zu strukturieren, um | |
| die Korruption, das koloniale Erbe und die schreiende soziale | |
| Ungerechtigkeit abzustreifen“, sagt er. „Meinungsfreiheit mit einem | |
| Parlament von über 20 zerstrittenen und in Vetternwirtschaft verwickelten | |
| Parteien sind noch keine Demokratie“, sagt Daab. | |
| Am Abend des 25. Juli waren aber auch kritische Stimmen zu hören. „Saieds | |
| Wertesystem ist nicht weniger konservativ als das der Islamisten, er lehnt | |
| Schwule und Lesben ab und ist für die Todesstrafe. Auch ein ägyptisches | |
| Szenario ist nicht auszuschließen“, sagte ein Vertreter der LGBTIQ-Szene. | |
| Doch auch seine Kritiker wollen nicht zurück in die Zeit vor dem 25. Juli. | |
| Sollte es Saied nicht gelingen, einen nationalen Dialog zu organisieren, | |
| könnte es schon bald wieder Proteste gegen das Parlament geben. Der | |
| Lebensalltag hat sich seit dem Sturz von Diktator Zine el-Abidine Ben Ali | |
| verschlechtert. | |
| Während Coronapatienten mangels Betten auf Intensivstationen auf | |
| Krankenhausparkplätzen behandelt wurden, prügelten die Islamisten der | |
| Karama-Partei auf die Abgeordnete Abir Moussi ein, die danach nur noch mit | |
| einem Motorradhelm im Parlament erschien. In dem unwürdigen Trauerspiel der | |
| Volksvertreter wirkt der parteilose Saied wie von einem anderen Planeten. | |
| Sein Wahlkampfteam mietete 2019 erst am Tag vor der Verkündung der | |
| Wahlergebnisse ein Büro in einer Seitenstraße der Avenue du Bourguiba an. | |
| Als sich mit den ersten Hochrechnungen ein erdrutschartiger Sieg für den | |
| wenige Wochen zuvor noch Unbekannten andeutete, fielen sich die Aktivisten | |
| in die Arme. Vor dem Haus trafen bekannte politische Anführer aus allen | |
| Lagern ein. Eine neue Zeitrechnung würde nun beginnen, raunten viele. | |
| In seinem Büro stand ein leerer Schreibtisch und eine tunesische Flagge. | |
| „Ich werde dieses Land wieder mit seinen Bürgern versöhnen“, sagte Saied | |
| der taz damals in ruhigem Ton. Dann küsste er die Flagge und schwieg. Die | |
| Menschen tanzten singend auf den Straßen. Viele aus dem Wahlkampfteam | |
| sprechen heute noch in höchsten Tönen von Saied. Von den Lokalräten, die er | |
| einführen will, haben allerdings nur wenige eine klare Meinung. „Ich hoffe, | |
| das Ganze ist kein Missverständnis“, sagte damals jemand in die Menge vor | |
| Saieds Büro. | |
| 6 Aug 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Mirco Keilberth | |
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