# taz.de -- Unruhen in Tunesien: Chance und Mahnung zugleich | |
> Tunesien drohen gewaltsame Auseinandersetzungen der politischen Gegner. | |
> Um die Not und Korruption im Land zu bekämpfen, ist nun die EU gefragt. | |
Bild: Jubel in Tunis: Diese zwei Tunesier freuen sich über das Ende der Regier… | |
Jubel brach in dem Wahlkampfteam von [1][Kais Saied] aus, als der bis dahin | |
unbekannte Uniprofessor am 13. Oktober 2019 die Präsidentschaftswahlen | |
gewann. Nur der 63-Jährige blieb still, griff zu einer tunesischen Fahne | |
und küsste sie. Mit ähnlichem Pathos verkündete der wegen seiner ungelenken | |
Art als „Robocop“ veralberte Saied am vergangenen Sonntag nicht weniger als | |
einen [2][Staatsstreich]. | |
Diesmal aus dem Präsidentenpalast. Wenige Minuten nach seiner Rede strömten | |
im ganzen Land die Menschen auf die Straßen. Genau wie an jenem Sonntag vor | |
drei Jahren hatte Saied mit einer Eigenschaft das Vertrauen der Tunesier | |
gewonnen: Unbestechlichkeit. Viele fürchten jedoch nach der Absetzung der | |
Regierung von Premierminister Hichem Mechichi, dem vierwöchigen Stopp der | |
Parlamentsarbeit und dem per Dekret erlassenen Versammlungsverbot ein | |
drohendes ägyptisches Szenario. | |
Kais Saied könne womöglich ein neuer [3][Abdel Fattah al-Sisi] werden und | |
die Demokratie in dem Leuchtturmland des arabischen Frühlings beenden. Der | |
Jubel der Massen über den Schlag gegen die politische Elite wird vor allem | |
von ausländischen Kommentatoren als politische Naivität abgetan. Dennoch | |
lohnt es sich zu fragen, warum die Tunesier einen zuvor völlig unbekannten | |
Kandidaten mit 70 Prozent zum Präsidenten gewählt haben, dessen gepflegtes | |
Hocharabisch viele Tunesier gar nicht verstehen. | |
Obwohl sein Vorgehen nicht von der Verfassung gedeckt ist, unterstützt eine | |
breite Mehrheit der Bevölkerung den Schlag gegen die politische Elite. Die | |
Wut der Menschen richtet sich vor allem gegen die moderaten Islamisten der | |
Ennhada-Partei, die unter dem Diktator Zine El Abidine Ben Ali verfolgt | |
wurden. Doch ihre jahrelange Popularität haben sie – wie alle anderen auch | |
– nur zum eigenen Vorteil genutzt. | |
## Generation ohne Perspektive | |
Wer durch Tunesien reist, trifft überall auf eine junge Generation, die | |
sich aus ihrer Heimat verabschiedet hat und nur noch weg will. Wahlen und | |
Meinungsfreiheit schön und gut, aber Korruption und Vetternwirtschaft ist | |
selbst an den Schulen Alltag. 18.000 Tunesier haben sich im letzten Jahr | |
in ein Boot nach Europa gesetzt. Das bei uns so viel gelobte tunesische | |
Demokratiemodell hat die Menschen im Land nie erreicht. Im Gegenteil: | |
Sozialer Aufstieg, ein Job zum Überleben ist für viele unerreichbar. | |
Reformen wie das neue Erbschaftsrecht, das Frauen und Männer gleich | |
behandelt, werden de facto nie umgesetzt. Stattdessen beutet die korrupte | |
politische und wirtschaftliche Elite das Land stärker aus denn je. Vor | |
allem die Finanzhilfe aus Europa hält die noch aus französischen | |
Kolonialzeiten stammende Bürokratie am Leben. Tunesien leistet sich eine | |
der weltweit größten Verwaltungen der Welt. | |
Als der aufgeblähte und inkompetente Staatsapparat es zuließ, dass auch die | |
Zahl der Corona-Infektionen und Toten weltweit führend war, war die Geduld | |
vom politischen Quereinsteiger Kais Saied endgültig aus. Auch ihm fehlen | |
Ideen und politische Verbündete, um die zutiefst gespaltene tunesische | |
Gesellschaft zu einen. Deshalb muss die EU aktiv werden, bevor es zu einer | |
möglichen gewaltsamen Konfrontation der politischen Gegner kommt. | |
Nach der [4][Jasmin-Revolution von 2011] gaben sich Brüssel und Berlin mit | |
Reformideen zufrieden. Die ständige Terrorgefahr nutzte die politische | |
Elite geschickt. Ungeachtet ausbleibender Reformen floss das Geld aus | |
Europa. Der [5][unblutige Jasmin-Staatsstreich] vom letzten Sonntag ist nun | |
Chance und Mahnung zugleich. Die Eliten haben moralisch abgewirtschaftet. | |
Europa muss Tunesiens Zivilgesellschaft und den zahlreichen Fachleuten bei | |
der radikalen Reform der Verwaltung und des korrupten öffentlichen Dienstes | |
helfen. Und das Land schnell in ein Partnerschaftsprogramm mit der EU | |
aufnehmen. | |
28 Jul 2021 | |
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## AUTOREN | |
Mirco Keilberth | |
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