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# taz.de -- Analyst über Tunesiens Präsident: „Seine Zeit ist begrenzt“
> Tunesiens Präsident regiert weiter per Dekret. Skepsis sei angebracht,
> doch Einmischung von außen wäre das Falsche, sagt Beobachter Fadil
> Aliriza.
Bild: Kais Saied
taz: Herr Aliriza, vor einem Monat hat [1][Tunesiens Präsident Kais Saied
den Regierungschef abgesetzt, die Immunität aller Abgeordneten aufgehoben
und das Parlament suspendiert], eigentlich nur für 30 Tage. Während er
behauptet, die Demokratie zu retten, sprechen Kritiker von einem Putsch.
Nun hat er die [2][Maßnahmen per Dekret verlängert]. Wie geht es weiter?
Fadil Aliriza: Es ist unklar, was seine Pläne sind. Vonseiten des
Präsidentenbüros gibt es nur wenig Kommunikation. Was wir wissen, kommt
größtenteils von dessen Facebook-Seite. Aber es würde mich wundern, wenn es
jetzt nicht ein offizielles Statement gibt, in welche Richtung es gehen
soll.
Saied hatte versprochen, innerhalb von 30 Tagen einen neuen Regierungschef
zu ernennen.
Das hat er nicht getan. Er regiert weiter per Dekret. Dabei ist die
Exekutive laut Verfassung geteilt zwischen Präsident und Regierungschef.
Ursprünglich hatte er auch angekündigt, die Strafverfolgungsbefugnis zu
übernehmen, aber davon scheint er nach Gegenwind vom obersten Justizrat
Abstand genommen zu haben.
Warum hat er keinen Regierungschef ernannt?
Wir können nur spekulieren. Vielleicht hat er den Posten Leuten angeboten,
die aber ablehnten. Vielleicht hat er aber auch gar nicht geplant, einen
Regierungschef innerhalb von 30 Tagen zu ernennen.
Wofür hat Saied die 30 Tage denn genutzt?
Er benutzt zwar nicht das Wort „Minister“, aber er hat Leute als
Interimsminister ernannt, wobei er die Formulierung wählt, dass sie
„zuständig“ sind, zum Beispiel für das Gesundheits- oder Finanzministeriu…
Außerdem scheint es Reisesperren und Hausarrest zu geben für
Parlamentsabgeordnete und hohe Amtsträger*innen. Er sagte, Leute, denen
Verbrechen vorgeworfen werden, müssen sich der Justiz stellen. Details
kennen wir aber nicht, was viele dazu verleitet zu fragen, welche
gesetzliche Grundlage diesen Schritten zugrunde liegt.
Kommt er damit durch?
Noch scheint Saieds Popularität sehr groß zu sein. Aber seine Zeit ist
begrenzt, auch wenn sie über die 30-Tages-Frist hinausgehen mag. Seine
Kritiker*innen werden immer lauter, je mehr Zeit vergeht und je länger
kein klarer politischer Weg erkennbar ist: entweder ein neuer
Regierungschef und ein Ende der Suspendierung des Parlaments oder
radikalere Änderungen.
Zum Beispiel?
Viele spekulieren, dass er eine neue Verfassung anstrebt oder zumindest
Verfassungsänderungen. Darüber hat er schon zu seiner Zeit als Professor
für Verfassungsrecht und auch in seiner Wahlkampagne gesprochen. Er hat
starke eigene Überzeugungen, wie das politische System aussehen könnte. Das
geht in Richtung eines stärker dezentralisierten Regierungssystems,
Richtung mehr direkte Demokratie, mehr Referenden. Wie das in der Praxis
umgesetzt werden soll, ist aber unklar.
Wie könnte Saied eine grundlegende Änderung der Verfassung von 2014
durchsetzen?
Momentan gibt es keine wirkliche Kontrolle der Macht des Präsidenten, da es
bislang kein Verfassungsgericht gibt. Es wird gemutmaßt, dass Saied ein
Referendum ansetzen könnte über Verfassungsänderungen oder eine neue
Verfassung. Aber ich zögere mit Vorhersagen. Saied hat uns schon zweimal
überrascht: mit seiner ungewöhnlichen Wahlkampagne 2019, als er keine
traditionellen Medien nutzte und gewissermaßen als Outsider auftrat, und
mit seinen Schritten vom 25. Juli.
Warum protestiert Saieds Gegenspieler, die nun weitgehend entmachtete
Ennahda-Partei, nicht stärker?
Es gab einen Protestaufruf und Proteste. Die Frage ist, warum Ennahda nicht
mehr Menschen mobilisieren konnte. Teil der Antwort könnte sein, dass nicht
alle innerhalb der Ennahda und ihrer Wählerschaft unbedingt ablehnen, was
Saied gemacht hat. Das Parlament ist eine äußerst unbeliebte Institution.
Viele sind überzeugt, dass es gänzlich korrupt ist und dass die Regierung
nicht einmal versucht hat, die Gesundheits- und Wirtschaftskrise zu
bewältigen. Viele sahen es auch als Betrug, dass Ennahda für eine
Versöhnung, für eine Amnestie für frühere Amtsträger der Ben-Ali-Zeit
gestimmt hat. Für einige hatte Ennahda ja die Ideale der Revolution von
2011 repräsentiert.
Die Gewerkschaftsvereinigung UGTT hat Saieds Schritt unterstützt, aber
betont, dass er zeitlich begrenzt bleiben muss. Was sagt sie nun?
Die UGTT befindet sich in Wartehaltung. Sie sieht sich nicht nur als
Verteidigerin der organisierten Arbeiter*innen, sondern als Teil der
nationalen Befreiungsgeschichte. In der Vergangenheit hat sie nicht
gezögert, ihre Muskeln spielen zu lassen, aber ich denke, sie will sich
jetzt keinen Fehltritt leisten, sondern ihren Einfluss lieber im
Hintergrund ausüben. Ich wäre überrascht, wenn es keinen Dauerdialog
zwischen Palast und UGTT gibt, besonders weil ja die Wirtschaftskrise nicht
nachgelassen hat. Tunesien soll weiterhin Kredite an internationale
Geldgeber zurückzahlen.
Einer der wichtigsten Kreditgeber ist der Internationale Währungsfonds, mit
dem Tunesien über einen Notkredit verhandelt. Wie steht die UGTT dazu?
Sie war kritisch gegenüber den Sparmaßnahmen, die in den letzten zehn
Jahren mit IWF-Krediten einhergingen. Teilweise hat sie aber neoliberale
Argumente übernommen, wenn es etwa darum ging, einfach mehr ausländische
Investitionen anzuziehen. Zu den Preisanstiegen im Mai und Juni, die Saieds
Maßnahmen gewissermaßen schon ahnen lassen haben, sagte die UGTT, dass
IWF-Forderungen die Regierung zwangen, die Preise bestimmter Konsumgüter zu
erhöhen.
Die EU und die USA waren auffällig still in den letzten Wochen. Sollten sie
mehr Druck ausüben auf Saied?
Ich glaube nicht, das westliche Stellungnahmen helfen würden, besonders
nicht im Kontext von Demokratie. In den letzten Jahren hat die Repression
vonseiten des Staates keine Verurteilungen nach sich gezogen. Es gab ein
sehr bequemes Bild von Tunesien als Demokratie, das nicht unbedingt der
Realität vor Ort entsprach, vor allem nicht in den ärmeren Nachbarschaften.
Da wären Verurteilungen zum jetzigen Zeitpunkt, da der Präsident Maßnahmen
gegen das sehr unbeliebte Parlament ergreift, nicht sonderlich effektiv,
auch wenn diese unklar, vielleicht sogar juristisch fragwürdig sind.
Wer übt dann Druck aus?
Es gibt viele Menschenrechtsaktivisten und zivilgesellschaftliche
Organisationen wie die Anwalts- und Journalistenvereinigung, die sich
durchaus selbst in der Lage fühlen, ihre Stimme zu erheben. Sie alle
beobachten sehr genau, was der Präsident tut. In den vergangenen zehn
Jahren haben sie in einem Kontext mit recht viel Meinungs-, Versammlungs-
und Vereinigungsfreiheit agiert. Keine dieser Organisationen wird diese
Freiheiten wieder aufgeben.
25 Aug 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Jannis Hagmann
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