| # taz.de -- Migration auf Social Media: Abenteuer Europa | |
| > Tunesische Frauen posten auf Social Media ihre Überfahrten als | |
| > Migrantinnen nach Europa als cooles Erlebnis. Experten sehen das | |
| > kritisch. | |
| Bild: Ein Boot mit Migranten auf dem Mittelmeer | |
| Auf einem im November geposteten Foto trägt die 18-jährige Sabee al Saidi | |
| knallroten Lippenstift, lehnt an einer Seite auf dem hölzernen Boot, mit | |
| einem ruhigen blauen Meer im Hintergrund. Ein Video zeigt sie lächelnd | |
| inmitten anderer Migranten, sie bewegt ihre Hände zu den Rhythmen eines | |
| populären tunesischen Rapsongs – alles sorglos. Einen Monat später stellte | |
| die 21-jährige Chaima Ben Mahmoude ein ähnliches Video ins Internet, auf | |
| dem sie winkt, während sie mit ihrem Verlobten und anderen Migranten auf | |
| einem überfüllten Boot das Mittelmeer überquert, von Tunesien nach Italien. | |
| Die Reise über das Mittelmeer ist in Tunesien als „Harka“ bekannt – ein | |
| Hinweis auf das symbolische „Brennen“ von Grenzen und die Vernichtung | |
| persönlicher Dokumente vor der gefährlichen Überfahrt. Die Harka ist das | |
| Jugendthema, denn mindestens 40 Prozent der Jugendlichen wollen ihr Land | |
| lieber heute als morgen verlassen. Nicht nur nur aus wirtschaftlicher Not, | |
| sondern aus einem kulturellen und sozialen Mangel an attraktiven | |
| Lebensperspektiven. Europa scheint in jeder Beziehung reich. | |
| Andere Beiträge der beiden Frauen in den sozialen Medien, die folgten, | |
| zeigten, wie sie durch Europa touren, neben Sehenswürdigkeiten Selfies | |
| machen. Al Saidi und Ben Mahmoude haben in der Zeit, seit sie in Europa | |
| sind, ihre Einkaufsbummel, Fahrten in BMWs (wie kamen sie eigentlich dazu?) | |
| und ihre Café Lattes in Fotos und Videos festgehalten. | |
| ## Ausflug zum Eiffelturm | |
| Ein Foto von al Saidi auf einem Elektroroller im historischen französischen | |
| Dorf Puy-Notre-Dame erhielt fast 6.000 Likes, das von Ben Mahmoude unter | |
| dem Eiffelturm 8.000. Likes und Shares begleiten ihre Reise. Beide Frauen | |
| sollen in Tunesien Sponsoren gefunden haben, die für ihre Werbung für | |
| Schönheitsprodukte und örtliche Unternehmen in sozialen Medien zahlen, aber | |
| es ist nicht klar, ob sie mit ihren Posts in Europa Geld verdienen, | |
| schreibt afp. | |
| In den sozialen Medien, in der Musik und im Fernsehen in Tunesien wird die | |
| Harka viel diskutiert. Auch auf den Social-Media-Plattformen Instagram und | |
| TikTok. „Schande über sie?“, fragt ein Tiktoker. „Vielmehr ist es eine | |
| Schande über uns!“, postete er als Antwort auf die Kritik an al Saidis | |
| Video. „Sie hat es geschafft, nach Italien zu gelangen, während wir alle | |
| hier in Tunesien festsitzen.“ Kritiker werfenden Frauen vor, eine Reise zu | |
| verharmlosen, ja zu verherrlichen, bei der jedes Jahr viele Migranten ums | |
| Leben kommen. | |
| Der Organisation Missing Migrants Project zufolge sind 2.048 Menschen im | |
| Jahr 2021 auf dem Mittelmeer verschollen, seit 2014 waren es insgesamt | |
| 23.000. Experten warnen, dass Al Saidi und Ben Mahmoude andere dazu | |
| ermutigen könnten, die gefährliche Bootsfahrt zu wagen. Tunesien ist ein | |
| Hauptabreiseort für Migranten aus Nordafrika, die nach Europa wollen. 2021 | |
| haben die Behörden 23.000 Menschen beim Versuch abgefangen, von der | |
| tunesischen Küste aus in See zu stechen. 2019 lag die Zahl noch bei 5.000. | |
| ## Die Migrationslüge | |
| „Ich habe ein Diplom als Friseurin und konnte keine Arbeit auf diesem | |
| Gebiet finden“, klagt Ben Mahmoude gegenüber The Associated Press. „Und als | |
| ich es tat, war das monatliche Einkommen wirklich hoffnungslos – ungefähr | |
| 350 Dinar (107 Euro). Du kannst nichts damit machen. Du kannst nur | |
| öffentliche Verkehrsmittel benutzen und dein Mittagessen kaufen – das ist | |
| alles.“ | |
| Der Psychologe Wael Garnaoui ist auf die Erforschung der Motive tunesischer | |
| Migranten spezialisiert. Er meint, dass die Hoffnung auf ein besseres Leben | |
| in Europa weitgehend auf einer „Migrationslüge“ beruhe, die durch soziale | |
| Medien verstärkt werde. Leute sähen andere nach Europa gehen, verfolgten | |
| deren anscheinenden Erfolg und dächten, dass es leicht sei, Papiere, Arbeit | |
| und Geld zu erhalten. Aber die Realität sei oft sehr anders, sagt der | |
| Experte „Und so gehen sie zum Eiffelturm und machen Selfies in einem | |
| Lacoste-T-Shirt, Fotos von teuren Autos. Sie sagen ihren Familien daheim, | |
| dass alles gut läuft.“ | |
| „Soziale Medien verbreiten ein falsches Bild von Europa“, sagte Matt | |
| Herbert, Forschungsdirektor der Global Initiative against Transnational | |
| Organized Crime. Posts wie diese „entmystifizieren“ eine Reise, die | |
| ansonsten zu furchteinflößend wäre, um sie zu beginnen, sagte Herbert. | |
| Eines der Hindernisse für die Migration sei die Angst, sich auf die Reise | |
| zu begeben. Diese Videos senkten die mentale Messlatte für das Verlassen | |
| des Landes. | |
| Die Videos sind jedenfalls eine Grenzüberschreitung: Sie entdramatisieren | |
| das Thema Flucht und Migration, indem sie es als touristischen | |
| Abenteuertrip darstellen, und real überwinden sie die europäischen Grenzen | |
| spielerisch und geschäftstüchtig. Für die beiden Influencerinnen bleibt es | |
| auf jeden Fall eine Win-win-Situation. Auch wenn sie voraussichtlich aus | |
| Europa abgeschoben werden, sie sind Heldinnen. Und die wachsende Zahl von | |
| Followerinnen macht sie zum interessanten Werbemedium, ob in Tunesien oder | |
| anderswo. Sie sind berühmt, reich kommt vielleicht noch. (afp) | |
| 15 Feb 2022 | |
| ## AUTOREN | |
| Edith Kresta | |
| ## TAGS | |
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