# taz.de -- Seenotrettung per Satellit: Leben retten mit Daten | |
> Im Mittelmeer ertrinken jedes Jahr hunderte Menschen auf der Flucht. Eine | |
> Gruppe von Wissenschaftler*innen möchte das ändern. | |
Bild: Eine Schwimmweste treibt im Ägäischen Meer – zu viele Menschen sterbe… | |
Minden taz | [1][Laut Statista] sind im Jahr 2021 bis zum 24. November | |
1.645 Menschen bei der Flucht gestorben. Allein zwischen dem 22. und dem | |
25. Dezember [2][ertranken 30 Menschen in der Ägäis]. Von 2014 bis Anfang | |
2020 starben so laut der UN-Organisation für Migration (IOM) [3][über | |
20.000 Menschen]. Die Dunkelziffer dürfte weit höher sein. Denn obwohl | |
private Organisationen zur Seenotrettung regelmäßig hunderte Menschen in | |
Not im Mittelmeer aufnehmen und – so die Politik es zulässt – in sichere | |
Häfen bringt: Sie haben kaum verlässliche Daten, die ihnen helfen, zur | |
richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. | |
Der Verein [4][Space-Eye] möchte dagegen mit Technik vorgehen und den | |
Rettungs-Crews bei ihren Search-and-Rescue-Missionen helfen, hinter den | |
Horizont zu blicken. Rund zehn Wissenschaftler*innen und einige | |
Studierende arbeiten deswegen seit November 2018 ehrenamtlich daran, ein | |
neuronales Netz zu trainieren, das Rettungsschiffe bei ihren Missionen mit | |
Informationen unterstützt. Eine der Ehrenamtlichen ist Elli Wittmann, eine | |
Entwicklungsingenieurin, die aktuell in Regensburg promoviert. | |
Die meisten Rettungsboote würden im Mittelmeer nach bestem Wissen und mit | |
vielen Erfahrungswerten über die Wetterlage und Fluchtrouten durch die | |
Gegend fahren, sagt Wittmann bei der Vorstellung von Space-Eye auf dem rC3, | |
dem jährlichen Kongress des [5][Chaos Computer Clubs], der wegen Corona | |
2021 online stattfindet. „Sie stehen an der Reling und schauen mit ihrem | |
Fernglas raus, ob sie vielleicht ein Boot in Seenot entdecken. Das ist | |
nicht besonders effizient.“ | |
Eine Lösung dafür wäre, mit Flugzeugen nach Fluchtbooten zu suchen. Auch | |
[6][Sea-Watch] arbeitet bereits mit zwei Kleinflugzeugen, die die Lage aus | |
der Luft checken sollen und [7][nach eigenen Angaben bereits Pullbacks | |
beobachten konnten]: [8][Moonbird und Seabird]. „Aber die Flugzeuge dürfen | |
häufig nicht starten aus mehr oder weniger politischen Gründen“, sagt | |
Wittmann. „Und selbst mit einem Flugzeug kann man nicht das gesamte | |
Mittelmeer überwachen. Aus diesem Grundgedanken heraus entstand die Idee, | |
Satelliten zu nehmen.“ Zudem haben Satelliten einen weiteren großen Vorteil | |
gegenüber Flugzeugen: „Satelliten kann man nicht einfach am Boden | |
festsetzen.“ | |
## Wolken versperren die Sicht | |
Einfach die Bilder von Google Maps zu benutzen, ist jedoch keine Option, | |
auch wenn sie einen starken Zoom ermöglichen und selten Wolken die Sicht | |
versperren. Denn um genau diese Wolken aus den Bildern zu entfernen, werden | |
die Aufnahmen stark retuschiert. „Sie sind eine Kombination aus vielen | |
Hundert Bildern. Ziemlich geil“, sagt Wittmann. „Aber nicht geeignet, um | |
Boote zu finden. Boote bewegen sich ja, bleiben nicht an einem Ort.“ | |
Space-Eye musste also nach anderen Satellitenbildern suchen und sich dafür | |
erst mal selbst in das Gebiet einarbeiten. | |
Von Radarsatelliten nahm die Initiative schnell Abstand. Die liefern zwar | |
auch Daten über visuelle Erhöhungen, da die Wellen, die der Satellit | |
aussendet, von Oberflächen auf der Erde reflektiert werden, doch die | |
Bildern sind schwer zu interpretieren. Stattdessen arbeitet Space-Eye vor | |
allem mit den Daten visueller Satelliten. „Die funktionieren im Prinzip wie | |
eine Fotokamera: Objektblende auf, Licht rein, Foto. Man versteht die | |
Bilder, kann sie ansehen. Sie schauen aus wie ein ganz normales Bild“, sagt | |
Wittmann. | |
Space-Eye arbeitet dabei mit frei verfügbaren [9][Satellitendaten], etwa | |
von den Sentinel-Satelliten der Esa. Deren Auflösung ist jedoch nicht | |
ideal. „Sie haben im allerbesten Fall eine Auflösung von 10 Metern, | |
meistens eher 30 Metern pro Pixel“, erklärt Wittmann. „Wenn wir ein | |
Fluchtboot haben, das im Durchschnitt 12 Meter lang ist, wird es also ein | |
bisschen schwierig.“ Zusätzlich können allerdings Satellitendaten von | |
privaten Anbietern gekauft werden, deren Auflösung besser ist. | |
## Das Problem mit der Zeit | |
Zur teilweise nicht ausreichenden Auflösung kommt jedoch noch ein Problem | |
hinzu: die Revisit Time, also die Zeit, die zwischen zwei Aufnahmen des | |
gleichen Ortes durch den gleichen Satelliten liegt. Ein | |
[10][Sentinel-2-Satellit] braucht auf Höhe des Äquators etwa zehn Tage, um | |
zwei Bilder vom gleichen Ort zu machen. Geostationäre Satelliten, die immer | |
über der gleichen Region ihre Schleifen ziehen, bringen dieses Problem | |
nicht mit sich – müssen dafür jedoch so weit entfernt von der Erde fliegen, | |
dass sich die Auflösung der Bilder stark verschlechtert. „Sie sind für | |
unsere Zwecke also nicht geeignet“, sagt Wittmann. | |
Die Revisit Time ist nicht das einzige Zeitproblem, das Space-Eye hat: auch | |
der sogenannte Downlink wird ihre Arbeit in Zukunft erschweren. Denn wenn | |
der Satellit ein Bild erstellt hat, müssen die Daten auch erst mal wieder | |
zurück zu Erde finden, damit sie ausgewertet werden können. „Die Zeit, die | |
die Bilder brauchen, um wieder nach unten zu kommen, hängt ganz stark davon | |
ab, wie groß die Bilder sind, was der Satellit sonst noch so macht, wie | |
viel Energie er gerade hat“, erklärt Wittmann. | |
Der Downlink könne ein paar Stunden dauern – oder auch ein paar Tage. | |
Sollte auf dem Bild tatsächlich ein Boot in Seenot zu finden sein, könnte | |
es in dieser entscheidenden Zeit bereits sinken. Dieses Zeitproblem will | |
Space-Eye aber erst angehen, wenn andere Aufgaben gelöst sind. | |
## Das Netz trainieren | |
Doch wie findet man auf einem Satellitenbild ein so kleines Boot wie ein | |
Fluchtboot? Ein weiterer Wissenschaftler aus dem Team machte sich mit | |
seinem eigenen Segelboot von 15 Metern Länge auf ins Mittelmeer. Sendete | |
drei Tage lang alle paar Minuten aktuelle Daten zu seinem Aufenthaltsort, | |
damit das Team herausfinden konnte, ob und wie sie ihn auf den Bildern | |
finden können. Das Team hatte Erfolg. „Wir wissen also, dass wir ein Boot | |
dieser Größe finden können.“ | |
Doch alle Bilder eigenhändig auf kleine Boote zu untersuchen, macht wenig | |
Sinn. Space-Eye wurde das spätestens dann klar, als sie es selbst testeten. | |
„Wir als Nerdinnen und Nerds haben uns gefragt: Ist das nicht etwas, was | |
wir automatisieren können?“, erklärt Daniel, ein Kollege von Wittmann beim | |
rC3. „Idealerweise wollen wir regelmäßig ein sehr großes Gebiet überwache… | |
Da zahlt sich Automatisierung aus.“ | |
Space-Eye trainierte das neuronale Netz, legte ihm Satellitenbilder vor, | |
passten immer wieder Variablen im System an und brachte ihm schließlich mit | |
den Daten des Segelschiffs und Daten, die befreundete NGOs aus der | |
Seenotrettung übermittelten, bei, kleine Boote zu finden – auch wenn es die | |
Schaumkronen von großen Wellen noch immer nur schwer von Booten | |
unterscheiden kann. | |
## Boot, aber wofür? | |
Auch ob es sich bei den Booten um Fluchtboote handelt oder nur Segel- und | |
Schlauchboote, die für andere Zwecke eingesetzt werden, kann die KI noch | |
nicht erkennen. Die Gruppe, so Daniel, arbeitet jedoch an einer Lösung. Die | |
sogenannten [11][AIS-Daten des Automativ Identification System] könnten | |
dabei helfen. Sie sind ab einer Bootgröße über 20 Meter verpflichtend zu | |
übermitteln und enthalten Informationen zu Ort, Geschwindigkeit und Größe | |
eines Schiffes. Sie sollen verhindern, dass Schiffe versehentlich | |
kollidieren. | |
Doch kleine Boote übermitteln die AIS-Daten nur freiwillig – und in vielen | |
Fällen gar nicht. „Wenn etwas kein AIS-Signal hat, können wir erst mal | |
davon ausgehen, dass es ein Fluchtboot ist. Aber das ist nicht zuverlässig | |
und es gibt genügend andere Boote, die keine Fluchtboote sind, aber | |
trotzdem leider kein AIS-Signal von sich geben“, sagt Wittmann. Hinzu käme, | |
dass manche Boote in Küstenregionen die Daten gerne ausschalten würden, | |
etwa weil sie in illegale Aktivitäten involviert sind und nicht getrackt | |
werden möchten. | |
Das System steht also auch nach mehreren Jahren ehrenamtlicher Arbeit noch | |
an seinen Anfängen, ist bisher nicht einsatzbereit. „Ob es wirklich akut | |
Rettungsschiffe lenkt, hängt noch in der Luft. Davon sind wir noch ganz | |
weit entfernt“, gesteht Wittmann auf dem rC3. „Uns interessiert vor allem: | |
Bekommen wir es überhaupt hin? Und können wir das System auch hernehmen, um | |
zum Beispiel historische Daten auszuwerten?“ So könnte man in Zukunft | |
vielleicht die IOM-Zahlen zu Ertrunkenen genauer überprüfen und von einer | |
weiteren Seite verifizieren. Oder auch Pullbacks und weitere | |
Rechtsverletzungen durch Küstenwachen und Frontex untersuchen. | |
Wie Space-Eye verhindern kann, dass seine Technologie auch von | |
Grenzschützer*innen genutzt wird, die eben jene Rechtsverletzungen zu | |
verantworten haben, darüber ist sich der Verein noch nicht sicher. „Das ist | |
eine Frage, die wir auch schon oft diskutiert haben“, sagt Wittmann. | |
„Aktuell läuft das bei uns alles vor Ort, also lokal. Und wir haben auch | |
nur die historischen Daten.“ Sie seien noch im akademischen Kontext, nicht | |
in der Nutzungsphase. Bis es dazu kommt, hat der Verein hoffentlich ein | |
Sicherheitskonzept. Grundsätzlich mache man mit der Suche per Satellit zwar | |
etwas Ähnliches wie Frontex, so Daniel, „aber aus einem anderen Grund. Es | |
geht um die Fragen: Wer hat die Daten? Wer kann mit ihnen arbeiten? Das | |
unterscheidet uns dann doch von Frontex, die auch mit der sogenannten | |
libyschen Küstenwache zusammenarbeitet.“ | |
Bis zur korrekten Erkennung von Fluchtbooten wird es wohl noch dauern. | |
Wittmann spricht von einem Fünfjahresplan, den Space-Eye hätte. Außerdem | |
hoffe man, Ende 2022 bereits vorzeigbare Ergebnisse zu haben. | |
Ruhig wird es bei Space-Exe bis dahin jedoch nicht. Neben dem | |
wissenschaftlichen Arm rund um die Satellitenbilderkennung gibt es auch | |
einen humanitären, sehr aktiven Arm, der Nothilfe leistet in Krisengebieten | |
auf griechischen Inseln oder auch im bosnischen Bíhac. Sie betreiben ihr | |
eigenes Schnellboot zur Seenotrettung, die „Nomad“ auf Lesbos und | |
zusätzliche Wohnprojekte für obdachlose Geflüchtete. Auch in Regensburg | |
selbst sind sie aktiv und [12][erleichtern Geflüchteten die Ankunft in | |
Deutschland]. | |
29 Dec 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/892249/umfrage/im-mittelmeer… | |
[2] https://www.t-online.de/nachrichten/ausland/id_91378110/mittelmeer-sea-watc… | |
[3] https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-03/flucht-mittelmeer-fl… | |
[4] https://space-eye.org | |
[5] /Schwerpunkt-Chaos-Computer-Club/!t5010258 | |
[6] /Sea-Watch/!t5010751 | |
[7] https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/seenotretter-sea-bird-mittelmeer-10… | |
[8] https://sea-watch.org/mission/moonbird-seabird/ | |
[9] https://space-eye.org/wp-content/uploads/2021/08/Poster-Satellit.jpg | |
[10] https://sentinel.esa.int/web/sentinel/missions/sentinel-2 | |
[11] http://www.schiffundtechnik.com/lexikon/a/ais.html | |
[12] /Projekt-fuer-gefluechtete-Menschen/!5761495 | |
## AUTOREN | |
Johannes Drosdowski | |
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