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# taz.de -- Kunsttipps der Woche: Tiere, Häuser und Menschen
> Transzendierte Fotokunst: Manoj Kumar Jains prägnante Dokumentation eines
> Dorfes. Manifest: Solidarität von Tieren und Menschen im Stadtraum.
Bild: Boy with Peacock, Village Pulcha, Bastar, India 2002, Ed. no.: 5/5, 43,18…
Es ist lange her, dass die Fotos entstanden. Von 2002 bis 2008 reiste Manoj
Kumar Jain (*1970) immer wieder in das Dorf Bahigaon im Distrikt Bastar im
indischen Bundesstaat Chhattisgarh. Seine Aufnahmen sind klassische große
SW-Fotokunst, wobei ihre sublimen Kompositionen ihr dokumentarisches
Anliegen transzendieren. Schon deshalb spielt es keine Rolle, wann sie
entstanden sind. Sie berühren uns unmittelbar. Da ist nichts Historisches,
wenn auch einiges Archaisches.
Aus diesem Grund könnten die Bilder heute entstanden sein: Beheimatet tief
in den Wäldern, kaum berührt vom modernen Leben und nur selten in Kontakt
mit dessen Vertretern wie der Fotograf zum Beispiel einer ist, leben das
Dorf und seine indigenen Bewohner in einem anderen Zeitalter, in einem
anderen Tempo und in einer anderen Welt. Was sollte daran schon groß anders
sein, rund 20 Jahre später?
Aber da ist alles anders: Längst wurden die Wälder gerodet, die Ureinwohner
von ihrem Land vertrieben, es werden Eisenerz und Kohle gefördert und der
Tourismus. Manoj Kumar Jains Fotos sind nun Zeugnisse einer untergehenden
Kultur. So war das ursprünglich nicht gedacht. Die Aufnahmen zeigen ein
dokumentarisches, kein sozialdokumentarisches Interesse.
Das Augenmerk des Fotografen galt dem prägnanten Stil, mit dem die Adivasi
sich selbst, ihre Tiere, Häuser und Gerätschaften schmücken, er galt dem
Stolz ihres Auftretens, ihrer Anmut, nicht ihrer Armut. Er arbeitete nicht
über das Dorf, er arbeitete mit dem Dorf, die Aufnahmen entstanden als
gemeinsame Inszenierung.
## Ausgefeilte Porträtkomposition
Der alte Mann etwa, mit seinem preisgekrönten Hahn: Es brauchte seinen
selbstgewissen Blick und seinen – kaum merklich – fröhlichen
Gesichtsausdruck, damit Jain seine ausgefeilte Porträtkomposition gelang,
technisch so perfekt, dass jede einzelne Feder des Hahns und jede
Bartstoppel seines Besitzers derart plastisch ins Bild kommt, dass man
meint, sie berühren zu können.
Manoj Kumar Jain hat an der gleichen Kunsthochschule in Delhi studiert wie
die Grafikdesignerin Mini Kapur, die in Schöneberg seit nunmehr zehn Jahren
ihre Galerie „Under The Mango Tree“ betreibt. „[1][The Forgotten Frames.
Zeugnisse der Verbindung von Mensch und Natur]“ unterstreicht nachdrücklich
Mini Kapurs diskursiven Ansatz, von dem sie sagt, er ziele auf das
Verständnis des Anderen durch das Erleben der Kunst (bis 24. Juli,
Merseburger Str. 14, Mi.–Fr. 15.30–19 Uhr, Sa./So. 13–16.30 Uhr).
## Noch wild oder fast schon Haustier?
Das Andere sind eben auch die Tiere. So wie der Hausrotschwanz, der
zufällig in den Fokus von Daniel Pollers Kamera geriet. Der ursprünglich im
Gebirge beheimatete Vogel flatterte durch das Abrissgeschehen am
leerstehenden Institut für Lehrerbildung in Potsdam, das der
Architekturfotograf dokumentierte: Offensichtlich nistete der Vogel dort
und suchte verzweifelt nach seinem Brutplatz samt Brut. Sie war dem
Abrissbagger, also der Rekonstruktion des historischen Zentrums, zum Opfer
gefallen.
Höchste Zeit für ein „Manifest für Solidarität von Tieren und Menschen im
Stadtraum“, wie es die Architekturzeitschrift Arch+ initiiert hat.
[2][Unter dem Titel „Cohabitation“ sind im Silent Green] noch bis zum 4.
Juli dreißig künstlerische Arbeiten zum Zusammenleben von Mensch und Tier
in der Großstadt versammelt.
Da geht es natürlich um die Haustiere, unvermeidlich um den Hund, um dessen
Wohlbefinden sich ein riesiger Markt gebildet hat – oder geht es nicht doch
wieder nur um das Wohlbefinden des Menschen, hier in der Form der
Hundehalters, der seinem Rüden selbstverständlich sein Sexspielzeug gönnt?
Wie in der Installation „Pet City“ (2021) von Theo Deutinger, Charlotte
Kaulen und Crew eindrücklich zu erleben?
Rätselhafter sind freilich die wilden Tiere in der Stadt, von denen man oft
nicht zu sagen weiß, ob sie nun wirklich wild oder doch fast schon Haustier
sind. Was soll man von den grasgrünen Halsbandsittichen halten, deren
Tagesablauf Cyprien Gaillard in eindrucksvollen Filmbildern („KOE“, 2015)
festgehalten hat?
Wie die exotischen Gefangenschaftsflüchtlinge in der Düsseldorfer
Innenstadt morgens aufbrechen zur Futtersuche und am Abend als riesiger
Schwarm wieder auf die Kö einfliegen, um dort in den Platanen zu nächtigen.
## Parlament nichtmenschlicher Organismen
Sie wären auch Kandidaten für ein Parlament der nichtmenschlichen
Organismen, wie es der Club Real vorschlägt. Auf einer Brache im Wedding
wies der Club das Hoheitsgebiet, auf dem alle Macht von den dort ansässigen
Lebewesen ausgeht, egal ob Wurm oder früher Vogel, ob Eichhörnchen oder
Wurzelknöllchenbakterium. Eine Verfassung und eine Allgemeine Deklaration
der Organismenrechte sind Gründungsdokumente der Organismen-Demokratie.
Dazu könnten auch das Recht auf Animal Aided Design gehören, wie Thomas
Hauck und sein Büro es in „Not so silent green“ (2021) vertreten. Und damit
das Recht auf eine Stadtplanung und „eine Architektur, die die Vernetzung
und Barrierefreiheit der Wege von nicht-menschlichen Tieren gewährleistet“,
wie es unter anderem in ihrem Manifest für eine Architektur der
Cohabitation heißt.
Man darf also staunen im Silent Green und dazu auf Stadterkundungen gehen,
Diskussionen, Interventionen und Performances beiwohnen, und alles wird am
Ende in eine unbedingt lesenswerte Publikation einfließen (bis 4. Juli,
Silent Green, Gerichtsstr. 35, Di.–So. 11–19 Uhr, weitere Infos:
[3][cohabitation.de]).
Die auffällig arrangierten bunten Klebestreifen auf der Fensterfront der
Galerie Anahita Contemporary taugen bestimmt, Vögel davon abzuhalten, in
die Scheiben zu fliegen. Birgit Hölmers „Cut“ ist damit genau der Fall von
Kunst, die solidarisch ist mit Tier und Mensch, auch wenn das nicht primäre
Absicht ist.
## Abstraktion in Bewegung setzen
Die Abstraktion im Fenster, die dreidimensional in den Raum dahinter zu
greifen scheint, ist Teil der [4][von Rüdiger Lange kuratierten
Gruppenausstellung „konkret abstrakt“] mit Arbeiten von acht beteiligten
Künstlerinnen, darunter zwei Siebdrucke von Anni Albers. Mit ihren
perspektivisch lesbaren Ornamenten zeigen sie Anklänge an die Op-Art, die
in den 1960er Jahren die Abstraktion in Bewegung setzte und in den Raum
hinein projizierte.
Das Spiel mit Abstraktion und konkreter Objekthaftigkeit eröffnet viele
Möglichkeiten, Fiene Scharps filigrane, vorschnell als Zeichnungen
erkannten Papierschnittarbeiten liegen verschiedenfarbige
Schnittmusterbögen zugrunde. Minutiös hat die Berliner Künstlerin die
Blätter derart entkernt, dass am Ende die reinen Linien bleiben.
Interessant sind die räumlichen Arbeiten, wie Rebecca Michaelis Mobile aus
schmalen, pulverbeschichteten Aluminiumreifen in Hellgelb, Cyan und Orange.
Je nachdem, wie man zu der Arbeit steht, sieht man sie mal mehr als
Linienzeichnung mal mehr als Raumkörper.
Deutlich räumlich ist Carla Guagliardis Installation „Partitura IV“. Die in
Rio de Janeiro und Berlin lebende Künstlerin hat Sperrholzplatten mit
Scharnieren übereinander an die Wand geschraubt und dazwischen
Schaumstoffbälle geklemmt.
Sie heben die Sperrholzplatten von der Wand in den Raum, wobei die Platten
wiederum die Bälle vor dem Herunterfallen bewahren. Ein schönes, gelungenes
Exerzitium in Balance. So wie es „konkret abstrakt“ insgesamt ist (bis 17.
Juli, [5][Anahita Contemporary], Schlüterstr. 14, Di.–Fr. 14–18 Uhr, Sa.
11–15 Uhr).
16 Jun 2021
## LINKS
[1] http://www.utmt.net/
[2] https://www.silent-green.net/programm/einzelansicht/cal/event/detail////coh…
[3] https://archplus.net/de/cohabitation/
[4] https://www.anahita-contemporary.com/exhibitions/
[5] https://www.anahita-contemporary.com/exhibitions/
## AUTOREN
Brigitte Werneburg
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