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# taz.de -- Die Kunst der Woche: Unerwartetes aus 100 Jahren
> Ein Gewinn: Die Schau „L’invitation au voyage“ bei Esther Schipper.
> Umgeben von aufkratzendem Grün: Skulpturen von Mathis Altmann bei
> Efremidis.
Bild: Cui Jie, „International Space Station“ (Ausschnitt), 210 x 500 cm, 20…
Die hellgrüne, mit abstrakten Hakenornamenten gemusterte Tapete könnte fast
schon wieder hipp sein. Überhaupt lässt sich die Familie von heute, der
Papa mit angesagtem Patriarchenbart, leicht in diesem Ambiente vorstellen.
Schöne, bedenkliche Ironie, wo doch Almut Heise ihr „Großes Wohnzimmer“
schon als Anachronismus betrachtete, als sie es 1968 auf die Leinwand
bannte. Bekanntlich liebte sie dieses überraschend langlebige Biedermeier
der 40er und 50er Jahre. In distanzierter Referenz zum Siegeszeugs der Pop
art fand sie dort die reizvollsten ihrer mit peniblem Pinselstrich auf die
Leinwand gebrachten Szenen.
Almut Heise ist mit drei Gemälden in der Ausstellung „L’invitation au
voyage“ bei [1][Esther Schipper] vertreten. Die ausschließlich von
Künstlerinnen bestrittene Malerei-Schau umfasst eine Zeitspanne von fast
hundert Jahren und entpuppt sich dabei voller Überraschungen. Auf das Jahr
1925 sind die Aquarellzeichnungen aus der Bretagne datiert, die man jetzt
nicht unbedingt Hannah Höch zugeschrieben hätte. Anders als der „Garten“
von 1948, eine für sie typische Collage. 2021 fallen dann Sarah Buckner mit
“Here! here! (dogs)“ auf, Sojoumer Truth Parsons mit “July Tree“ oder I…
Melsheimer mit ihren Gouachen Nr. 472 und 473: krummbeinige Hunde im
städtischen Grün, dessen Sonnenlicht beschienene, farbstarke Abstraktion
und zuletzt leichte, abgehobene Architekturszenarien.
Interessant wie einzelne Positionen oft gewinnen im Umfeld anderer
Konzepte. Leiko Ikemura etwa hat mir selten so gut gefallen wie hier, mit
ihren Großformaten und deren Landschaften, die dank der Technik der
Temperamalerei wie hingetuscht erscheinen. Und sofort in meine imaginäre
Sammlung aufgenommen hätte ich Cui Jie mit der „International Space
Station“ (2019), einer über zwei Meter hohen und fünf Meter langen
Leinwand. Die chinesische Künstlerin (*1983) lässt die Architektur der
Station unter einem, die Leinwand beherrschenden, monochrom grausilbern
schimmernden Mesh-Layer aufscheinen, an den Rändern zeigt sich das Bunt der
darunter verborgenen Farbschichten.
## Die glamouröse Ästhetik des „wir“ – und andere Mythen
Verdeckte Bilder auch bei [2][Efremidis]: Spiegelnde Stahlplatten erlauben
nur fragmentarische Ansichten der unterliegenden Videoloops in Mathis
Altmanns „Butcher Block“-Serie mit LED-Wandskulpturen und Leuchtbildern.
Der Hinweis, dass der Fokus der zerstückelten Bilder auf unserem
zeitgenössischen Arbeitsstil liegt, liefern im Raum Leuchtschriften in der
Typografie des skandalträchtigen Co-Working-Unternehmens WeWork. Sie
besagen dann auch „wedont“, wedontwork“, „wewontwork“.
Sinnfälligerweise wurde die Galerie speziell mit einem grellfarbenen
Teppichboden ausgelegt, der den ganzen Raum in grünes Licht taucht. Das
Grün, das üblicherweise mit Entspannung assoziiert wird, wirkt hier
durchaus stressfördernd, denn alles sieht in seinem Licht ziemlich speiübel
aus. Wozu es passt, dass man sich schon medizinischer Hilfe sicher ist,
dank der blinkenden LEDs des bekannten grünen Apothekerkreuzes an der Wand.
Doch die absurden Verfremdungen der Branding-Strategien der
Immobilienwirtschaft und ihrer Co-Worker von Architekten über
Büroentwickler bis hin zu Apotheke, Shusi-Bar und Schüsseldienst, sie
bleiben eben Zeichen an der Wand.
Altmanns Kunst zielt nicht auf Aktionismus. Sie zielt auf Beobachtung,
Schärfung der Wahrnehmung, Distanzgewinn über Spott und Ironie, wobei sie
die glamouröse Ästhetik dieses „wir“ als eines dieser Mythen des Alltags
keineswegs unterschlägt. Vielmehr zieht sie daraus ihren eigenen
Attraktions-Gewinn.
Interessant wäre es noch, anlässlich dieses ohne weiteres als verständlich
vorausgesetzten „wir“ die Rolle der Künstler:innen in der
Selbstständigenarbeitswelt, die sich über und um das Büro vernetzt, genauer
zu betrachten. Sind sie doch zunächst zwangsläufige Wegbereiter des
Vordringens der Entwickler in unbekannte Gebiete der Stadt und deren
Umfeld, genauso wie in unbekannte Gefilde gestalterischen Denkens, um dann
Opfer des so initiierten Booms zu werden, der ihnen die günstigen Flächen
und Räume genauso wie deren Ästhetik wegnimmt.
5 May 2021
## LINKS
[1] https://www.estherschipper.com/exhibitions/current/
[2] https://efremidisgallery.com/de/start/
## AUTOREN
Brigitte Werneburg
## TAGS
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