| # taz.de -- Draußen etwas Neues finden: Kohortencornern in urbanen Nischen | |
| > Stille Ecken entdecken in der eigenen Stadt: Unter Brücken, hinter | |
| > Denkmälern, unter Vordächern. Das pandemiebedingte Leben verändert den | |
| > Blick. | |
| Bild: Die Pandemie zwingt uns in Ecken, in denen wir Leute treffen, die uns son… | |
| Wir hängen derzeit viel in Ecken rum, meine Kinder, das Handy und ich. Vor | |
| allem draußen: diese Ecken, in die man schnell flüchtet, wenn sich im Mai | |
| willkürliche Regenschauer ankündigen und die gewohnten Zufluchtsorte wie | |
| Café und Kita nun mal seit Monaten geschlossen sind; die Ecken, in die man | |
| dann geht, wenn das eine Kind seine Brezel essen will und das andere seinen | |
| Brei. | |
| Oder wenn sich wieder einer dieser Momente im Alltag einspielt, in dem | |
| schon das Ansinnen meinerseits, im Laufe des Tages zu einem Ziel zu kommen, | |
| an einem zwischen Fantasie und Sturheit changierenden Widerstreben der | |
| Kinder scheitert, sodass man eben kurzerhand in solche Ecken einkehrt. Und | |
| abhängt. Zweckfrei seine Zeit vertreiben. Wir cornern. | |
| Wir würden es gerne mit anderen Leuten tun, aber das geht nun mal in der | |
| Pandemie nicht. Also kohortencornern wir. Zum Beispiel in den mit Efeu | |
| gebetteten Nischen hinterm Tempodrom in Berlin Kreuzberg, in dem | |
| Wandelrondell aus Wohnhaus und Platanen am Mehringplatz oder unter den | |
| Vordachkaskaden des TU-Mathegebäudes, dieses Riesenglashauses. | |
| Wir hielten auch schon unter der Kanalbrücke an der Fischerinsel an, wo die | |
| Reiher geradezu majestätisch dem Autogedonner der Leipziger Straße trotzen, | |
| und krochen östlich hinter das Ernst-Thälmann-Denkmal – Naziarchitektur auf | |
| der einen Seite, postmoderner DDR-Plattenbau auf der anderen –, wo sich | |
| plötzlich eine Vegetation auftut, die in ihrer Regenwaldartigkeit schon | |
| unwirklich ist. | |
| ## Ein generöses Angebot | |
| Manch eine:r würde diese urbanen Nischen als Pissecken bezeichnen. Doch | |
| wie da Architektur und Vegetation, Beton und rechtsdrehender Hopfen | |
| plötzlich so Orte zum Anhalten offerieren – das ist nichts anderes als | |
| generös von ihnen. Keine protzige Generosität wie so ein Säulenportikus | |
| Unter den Linden, sondern eine zaghafte, freundliche. Manche sehen sie wohl | |
| nicht, zumindest deutet der so häufig dort hinterlassene, pandemische | |
| Müllmix aus Einwegschalen und FFP2-Masken darauf hin. Wir nehmen aber diese | |
| Generosität gerne an. Dann schauen meine Kinder und ich uns die Welt an, | |
| die jenseits der Ecken an uns vorbeizieht, und kommentieren sie. | |
| Hier trifft man dann auch andere Leute, die in Ecken rumhängen. Und weil | |
| wir in der Pandemie überhaupt nur so wenige Menschen treffen, resonieren | |
| diese Eckbegegnungen auf Abstand noch Wochen danach. | |
| Die mit Ingo zum Beispiel. Hieß er Ingo? Er sei ein Ururenkel Paul von | |
| Hindenburgs, behauptete er, des Reichspräsidenten, der Hitler 1933 zum | |
| Kanzler ernannte und empörenderweise erst seit einem Jahr Ex-Ehrenbürger | |
| von Berlin ist. (Jaja, denke ich, Harald Martenstein war auch schon mal | |
| sein Ururenkel). Ingos Hippie-Eltern hätten sich in den 1960ern in die | |
| ehemals deutsche Kolonie Namibia abgesetzt. Mutter und Vater abgedreht | |
| alternativ, hätten ihn auf ein Waldorfinternat in Südafrika geschickt. Zulu | |
| könne er sprechen. | |
| ## Ingo googlen | |
| Ingos Geschichte ist derart eklektisch zusammencollagiert, sie verschiebt | |
| sich schon deswegen von der Unmöglichkeit in den Konjunktiv. | |
| Ich nehme das Handy und google: Mindestens fünf Urenkel Hindenburgs | |
| verzeichnen irgendwelche Ahnenseiten; Waldorfinternate soll es seit den | |
| 1950ern viele in Südafrika geben, ein regelrechter Trend sollen die Schulen | |
| während der Apartheid gewesen sein; ein einsamer Wehrturm der kolonialen | |
| „Schutztruppen“ ist in Namibia noch immer nach Hindenburg benannt – und | |
| wird vom Reiseanbieter Bwana Tucke-Tucke als Abstecher seiner | |
| 7-Tage-„Schutztruppen-Tour“ empfohlen, wenn man denn wieder reisen kann. | |
| Weiter komme ich nicht. Auf dem Handybildschirm flirren die Hashtags bis | |
| vor mein inneres Auge: #Deutschlands verdrängter Kolonialismus, #Völkermord | |
| an den Herero und Nama, #Kolonialismus im Alternativgewand, #Altes Geld. | |
| Und die Welt dreht sich einmal heftig, um diese Ecke. | |
| 24 May 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Sophie Jung | |
| ## TAGS | |
| Kolumne Berlin viral | |
| Alltag | |
| Stadt | |
| Architektur | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Architektur | |
| Kolumne Berlin viral | |
| Fotografie | |
| taz Plan | |
| Kolumne Berlin viral | |
| Kolumne Berlin viral | |
| Kolumne Berlin viral | |
| Kolumne Berlin viral | |
| Kolumne Berlin viral | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Nachhaltigkeit beim Bauen: Angst vor den Betonmonstern | |
| Abriss und Neubau verbraucht mehr Energie als Umbau. Trotzdem wird die | |
| Betonarchitektur der 1970er Jahre oft abgerissen. | |
| Leben nach den Lockdowns: Völlig aus der Übung | |
| Unser Autor muss wegen Corona soziale Interaktion wieder üben. Obwohl er | |
| seine Freunde vermisst hat, merkt er auch, dass er intoleranter geworden | |
| ist. | |
| Erinnerung an die Verbrechen in Namibia: Landschaft an Straße | |
| Werbeflächen, die gerade im „Afrikanischen Viertel“ auftauchen, halten dem | |
| kolonialistischen Zerrbild von Afrika einen schwarz-weißen Realismus vor. | |
| Kunsttipps der Woche: Menschen und Berge und Tiere | |
| Fluide Installationen in der Galerie Bärenzwinger, komplexe Lichtspiele bei | |
| Ebensperger und kräftige Malereien im Projektraum Sangt Hipolyt. | |
| Ausflug im Pampersbomber: Aus Versehen SUV-Fahrer | |
| Mit dem Auto ins Grüne zu fahren verspricht zu Coronazeiten dringend nötige | |
| Abwechslung. Dumm nur, wenn aus dem Kleinwagen ein protziger SUV wird. | |
| Haustier allein zu Haus: Das Jaulen der Coronahunde | |
| Corona-Einsamkeit hat die Tierliebe bei so manchen BerlinerInnen geweckt. | |
| Aber was passiert mit Wuffi, wenn das Leben plötzlich wieder losgeht? | |
| Homeoffice und Corona: Von Unterwäsche und Schrankwänden | |
| Die Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Arbeitsraum sind schon lange | |
| aufgeweicht. Ein Gutes hat es: Man lernt die Kolleg*innen neu kennen. | |
| Plasmaspenden während Corona: The Next Best Thing | |
| Fast so gut wie im Kaffeehaus: Im Saal der Blut- und Plasmaspender liegen | |
| und Zeitung lesen, bis die Prozedur beendet ist. | |
| Improvisation im Baumarkt: Recycling mit MacGyver und Adenauer | |
| Wenn man zum Testen zu faul ist, muss der Erfindergeist ran: Klebeband für | |
| die defekte Brause statt einer neuen aus dem Baumarkt. |