| # taz.de -- Die Ursprünge der Grünen: Nur keine Schrumpfrepublik | |
| > Die aktuelle Schwellenzeit hungert nach Empathie und Radikalität. Petra | |
| > Kelly, eine der Grünen-Gründerinnen, verkörpert all das. | |
| Bild: Die Aktivistin Petra Kelly, hier während einer Friedensdemo 1983 | |
| Ich liebe Politik, die auf das Ganze zielt, einen Entwurf für das Leben | |
| bietet, selbstbewusst eine Welt entwirft, mit Verantwortungen und | |
| Möglichkeiten, Politik, die von einer Zukunft erzählt, die gemeinsam und | |
| gerecht gebaut werden kann; ich vermisse diese Art von Politik, und der | |
| [1][Wahlkampf], der längst begonnen hat, fürchte ich, wird eher das | |
| Gegenteil bieten, Schrumpfargumente für eine Schrumpfrepublik. | |
| Dabei könnte es so anders sein; und es war ausgerechnet der Roman einer | |
| kanadischen Schriftstellerin, der mich daran erinnerte: [2][„Petra“ von | |
| Shaena Lambert], bislang nur auf Englisch erschienen, die Geschichte von | |
| [3][Petra Kelly, einer der Gründerinnen der Grünen], lange vergessen, würde | |
| ich sagen, vielleicht nicht als Name, aber als Energie, als Inspiration, | |
| als Frage danach, was Politik mehr sein könnte als die Verwaltung des | |
| Status quo. | |
| Wir leben in einer Schwellenzeit, wir spüren, dass das Alte stirbt, mit | |
| [4][Antonio Gramsci] gesprochen, den jetzt wieder so viele zitieren, und | |
| dass das Neue noch nicht durchdringt – und die Schwellenfigur Kelly, so wie | |
| sie Shaena Lambert mit großer Sorgfalt entwirft, führt zurück zu den | |
| Anfängen der Partei, die ab dem Herbst dieses Land regieren könnte: | |
| Es ist eine archäologische und mythologische Erkundung in die Zeit eines | |
| ganz anderen, radikaleren, weil ganzheitlicheren Politikverständnisses, und | |
| die mehr als 40 Jahre, die zwischen der Gründung der Grünen und ihrer | |
| möglichen Kanzlerinnenschaft liegen, schmelzen zusammen auf eine Zeit, in | |
| der viel verloren gegangen ist. Dabei ist das Buch nicht melancholisch – | |
| und auch ich würde nicht melancholisch auf die vergangenen 40 Jahre | |
| zurückblicken. | |
| ## Entwürfe für ein anderes Miteinander sind da | |
| Ich würde einfach sagen, dass extrem viele Fehler begangen wurden, in der | |
| Art, wie der Markt konstruiert wurde, wie die Umwelt ausgebeutet und das | |
| Klima zerstört wurde, und die Unbedingtheit von Petra Kelly, schon damals | |
| eine Außenseiterin in der Partei, eröffnet mehr als einen anderen | |
| Politikentwurf – es geht nicht um einzelne Argumente, es geht um eine | |
| Haltung, zu anderen, zum Planeten, zu sich selbst. | |
| Die Politik von Petra Kelly war radikal, weil sie persönlich war, sie war | |
| riskant, sie war gerade auch für sie selbst gefährlich, weil eine Flamme, | |
| die zu schnell und zu hell brennt, eben auch rasch verlöscht. Und vielen | |
| ist so eine Flamme auch unangenehm, weil sie selbst längst Asche sind, eine | |
| Erinnerung mehr an die eigenen Ideale, an die eigenen Anfänge, an die | |
| Möglichkeit, eine andere Welt wenigstens zu wollen. | |
| Es heißt dabei, dass es keine großen Erzählungen und Entwürfe mehr gebe, | |
| dass diese Vorstellung mit dem Kommunismus 1989 gestorben sei – ich glaube | |
| das nicht, mir scheint es, dass es umfassende Entwürfe für ein anderes | |
| Wirtschaften gibt, für ein anderes Miteinander, für die Einsicht, dass der | |
| Mensch auch nur ein Tier unter Tieren ist und sich dem Planeten unterordnen | |
| sollte und nicht umgekehrt – und das ist eben genau mein Unbehagen oder | |
| mehr, meine Ungeduld in dieser Schwellenzeit: Wer spricht hier davon? | |
| In den USA etwa scheint dieses emphatische Politik- und | |
| Zukunftsverständnis, auch historisch begründet, immer noch sehr viel | |
| präsenter zu sein, gerade in diesen Jahren wieder, in denen eine neue | |
| Generation ihren [5][Green New Deal] fordert, einen umfassenden Entwurf | |
| also für Job-Sicherheit, soziale und ökologische Gerechtigkeit, weil das | |
| alles nur zusammen verstanden und gelöst werden kann – es ist keine | |
| Ideologie, die diesen großen Entwurf verspricht, sondern ein oft persönlich | |
| geprägter Pragmatismus, der sich dem unrealistischen Realismus der | |
| Beharrungs-Eliten widersetzt. | |
| ## Soziale und ökologische Gerechtigkeit gehören zusammen | |
| Für Kelly, und das war ihre Provokation, auch innerhalb der Friedens- und | |
| Umweltbewegung der späten Siebzigerjahre, hing alles mit allem zusammen, | |
| war alles verbunden, das Patriarchat, Sexismus, Rassismus, Ausbeutung, | |
| Ungerechtigkeit, die Zerstörung der Umwelt, Krieg. | |
| „Compartmentalizing has blinded us to the suffering of the earth“, so fasst | |
| die Autorin Lambert die Gedanken der Aktivistin Kelly zusammen, die | |
| Abschottung, die Aufteilung, auch die vorgeschobene Rationalität, | |
| angebliche Notwendigkeit hat uns blind gemacht für das Leiden der Erde. | |
| All das ist lange her, aber es ist gut, mal wieder zurückzusteigen in diese | |
| Zeit, gerade auch, weil die Geschichten und Gegengeschichten so stark sind | |
| und heute direkte politische Konsequenzen haben – etwa die von den müden, | |
| den ernüchterten siebziger Jahren, die auf den Aufbruch der Sechzigerjahre | |
| folgten. Aber ist das so? Und wer bestimmt diese Erzählung, mit welcher | |
| Absicht? | |
| Aus „Petra“ spricht eine andere Stimme, die Siebzigerjahre sind hier eben | |
| auch die Zeit, in der sich aus verschiedenen höchst aktiven | |
| bürgerschaftlichen Milieus eine Bewegung geformt hat, die zur Partei wurde, | |
| die dieses Land über die Jahre und Jahrzehnte ziemlich grundsätzlich | |
| verändert hat. | |
| Der Roman also erzählt die Vorgeschichte dieser kommenden möglichen | |
| Regierung, und es würde nicht schaden, sich an die Energie dieser | |
| Anfangsjahre zu erinnern, an dieses emphatische Politikverständnis, für das | |
| Petra Kelly stand, denn die Schwellensituation am Anfang dieser | |
| Schicksalsdekade verlangt genau das wieder, persönliche Risikobereitschaft, | |
| moralische Klarheit und ein umfassender Gerechtigkeitssinn, der alles Leben | |
| auf diesem Planeten miteinbezieht. | |
| Es fällt etwas schwer, diese Worte zu schreiben, weil die | |
| Wahlkampfwirklichkeit so anders ist, [6][Gendersternchen], | |
| Pandemiegeschacher, mediale Schneeballschlachten. Umso wichtiger aber ist | |
| es, glaube ich, gerade für die Grünen, diese politische Emphase ernst zu | |
| nehmen, als Möglichkeit der Begeisterung, des Versprechens – denn die | |
| Menschen und damit die Wähler*innen wollen ja auch inspiriert und | |
| gewonnen und nicht nur nicht verschreckt werden. | |
| 2 Jun 2021 | |
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| Georg Diez | |
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