# taz.de -- Die Grünen und der Wahlkampf: Schwankend im Umfragerausch | |
> Annalena Baerbock und die Grünen sind gerade im Honeymoon. Aber im | |
> anstehenden Wahlkampf lauern viele Fallen und Risiken. Eine Analyse. | |
Bild: Die Körperhaltung signalisiert Entschlossenheit | |
Für Annalena Baerbock und die Grünen regnet es gerade Rosen vom Himmel. | |
Baerbock lächelt auf den Covern von Spiegel und Stern; die Zeit fragt auf | |
dem Titel in einer Collage mit Armin Laschet: „Sie oder er?“ Die Grünen | |
ziehen in Umfragen an der CDU vorbei und verzeichnen eine Welle von | |
Neueintritten. | |
Es ist: Honeymoon. | |
Dennoch – oder besser, genau deshalb – bemüht sich Bundesgeschäftsführer | |
Michael Kellner am Telefon, nicht allzu euphorisch zu klingen. „Die | |
Präsentation der Kanzlerkandidatin ist uns gut geglückt.“ Die Resonanz sei | |
„ermutigend“. Kellner konzipiert und verantwortet den grünen | |
Bundestagswahlkampf, seine Botschaft ist klar: Bloß nicht übermütig werden. | |
„Wir sind hier der Underdog“, sagt auch Kanzlerkandidatin Baerbock, und | |
dieses Understatement ist angebracht und klug. Denn den Grünen steht ein | |
Wahlkampf bevor, in dem viele Risiken und Fallen lauern – und die Euphorie | |
könnte schneller verfliegen, als man denkt, auch wenn ihnen das Karlsruher | |
Urteil zum Klimaschutzgesetz äußerst gelegen kommt. | |
Die Frage lautet: Wie bringen die Grünen ihren Veränderungswillen mit der | |
verbreiteten Sehnsucht nach Normalität zusammen? | |
Gestandene Grüne machen sich keine Illusionen. Da sie nun im Zentrum der | |
Aufmerksamkeit sind, werden sie von allen anderen Parteien hart attackiert. | |
„Ich glaube, dass der Lagerwahlkampf dieses Mal neu definiert wird: Alle | |
gegen uns“, sagt Britta Haßelmann, die Erste Parlamentarische | |
Geschäftsführerin der Bundestagsfraktion. [1][„Der Wahlkampf wird brutal“… | |
sagt auch der ehemalige Bundesminister Jürgen Trittin. „Wir werden keine | |
Freunde haben.“ | |
## Vorteil wird Nachteil | |
Ausgerechnet ein Vorteil könnte zum Nachteil werden. Die Grünen haben heute | |
über 110.000 Mitglieder, in den vergangenen Jahren sind 40.000 neu | |
dazugestoßen. Sie wollen für eine bessere Welt kämpfen, sich engagieren, | |
haben große Ideale. Aber: „Sie haben noch keine Vorstellung davon, wie hart | |
die Privilegien der alten Welt verteidigt werden“, sagt Trittin. Er spricht | |
aus Erfahrung, war er doch im Wahlkampf 2013 Spitzenkandidat, [2][als die | |
Grünen wegen des Veggiedays, ihres Steuerprogramms und der | |
Pädophiliedebatte im Feuer standen.] | |
Die fragile grüne Parteistruktur ist also ein Problem von Baerbock. | |
Unerfahrene Mitglieder sind das eine. Aber manchmal liegen auch in | |
Baerbocks direktem Umfeld die Nerven schnell blank. Ein Beispiel: Im | |
Januar forderten zwölf linke Basisgrüne in einem offenen Brief, auf eine | |
KanzlerkandidatIn zu verzichten, da Personenkult der Partei nicht gut tue. | |
Die kleine Gruppe hat nichts zu sagen, ihre Intervention war eigentlich | |
irrelevant. Umso interessanter die Reaktion der Grünen-Spitze: Bundesvize | |
Jamila Schäfer warf dem kritischen Dutzend auf Twitter vor, die Partei zu | |
„trollen“. Kellner antwortete für die Grünen-Spitze in scharfem Ton – u… | |
zeigte sich „befremdet“. Indem die Basisgrünen die Öffentlichkeit suchten, | |
ignorierten sie die von ihnen selbst gelobte Geschlossenheit, kofferte er | |
zurück. | |
Allerdings steckte die Parteispitze ihre eigene Antwort dem Spiegel, machte | |
sie also auch öffentlich. Bei den angeblich basisdemokratischen Grünen | |
wurde also Basiskritik mit großem Kaliber niederkartätscht. | |
Bleibt die Frage: Was passiert, wenn es für die Grünen wirklich hart auf | |
hart kommt? Seit Baerbock und Habeck vor gut drei Jahren den Parteivorsitz | |
übernahmen, haben sie ja warmen Wind unter den Flügeln. Ob ihr Nervenkostüm | |
mit dem Druck klarkommt, den sie selbst vorhersagen, ist offen. | |
## Ausgewogen, aber frisch | |
Kellner räumt ein, dass man bei dem Basisbrief „etwas überreagiert“ habe. | |
Er telefoniert von seinem Häuschen in der Uckermark aus, im Hintergrund | |
zwitschern Vögel. Seit Langem arbeitet er am Auftritt der Grünen im | |
Wahlkampf, Look und Anmutung der Kampagne wurden schon vor der Klärung der | |
K-Frage zwischen Baerbock und Robert Habeck mit dem ganzen Vorstand | |
abgestimmt. „Es wird eine sommerliche und frische Kampagne“, sagt Kellner. | |
„Die Botschaft ist: Aufbruch.“ Sie würden auf die Veränderungsbereitschaft | |
setzen, die sie überall im Land spüren. Ähnlich sieht es Britta Haßelmann. | |
Angesichts der müden, ambitionslosen Groko, der Schutzmaskendeals und des | |
Gezerres in der Union hätten viele Menschen das Gefühl: „Jetzt ist auch mal | |
gut“, sagt sie. „Annalena verkörpert eine andere Politik, das Neue. | |
[3][Laschet und Scholz nicht.“] | |
Vordergründig mag das stimmen, aber die Sache ist komplizierter. Die Ära | |
Angela Merkels beruhte im Kern auf einem Sicherheitsversprechen. Merkel | |
hielt den Deutschen die Krisen vom Leib, die anderswo tobten, in Europa | |
oder auf den Finanzmärkten – und garantierte so den Status quo. Deutschland | |
ist ein konservativ grundiertes Land. Deshalb balancieren die Grünen auf | |
dem schmalen Grat, niemanden zu überfordern, den Veränderungsanspruch aber | |
nicht aufzugeben. Diesen Zweiklang intonieren die Grünen schon länger. | |
Nicht ohne Grund steht über dem Grundsatzprogramm der Satz: „Veränderung | |
schafft Halt.“ | |
Fragt man Baerbock, welches soziale Thema für sie Priorität habe, nennt sie | |
als Erstes ein neues Verständnis von Daseinsvorsorge. „Das Soziale ist der | |
Kitt, der unsere Demokratie zusammenhält.“ | |
Die Grünen wollen Milliarden investieren in Schulen, Kitas, Krankenhäuser | |
und gutes Internet. Die Ökowende soll kein Projekt für die Mover und Shaker | |
der oberen Mittelschicht, sondern sozial abgefedert sein. Das Problem: Mit | |
der Union ist das kaum zu machen und ein Mitte-links-Bündnis krankt an | |
anderen Problemen. | |
Um möglichst stark zu werden, achtet die Grünen-Spitze darauf, | |
stromlinienförmig zu bleiben. Allzu linke Ideen sind aus dem | |
[4][Wahlprogrammentwurf] verschwunden, den der Vorstand vor sechs Wochen | |
vorlegte. Eine faire Erbschaftsteuer fehlt. Sie wäre ein Hebel für | |
Umverteilung, wird aber von Wirtschaftsverbänden gehasst. Auch den | |
„Klimapass“, der Klimaflüchtlingen die Migration in EU-Staaten ermöglichen | |
würde, sucht man vergebens. | |
Veränderung gibt’s mit den Grünen nur fein dosiert und hyperpragmatisch. | |
Selbst wichtige Vertreter des linken Flügels warnen ihre Parteibasis davor, | |
es zu übertreiben. „Es ist in greifbarer Nähe, dass Grüne tatsächlich | |
erstmals in Deutschland stärkste Partei werden“, sagt Sven Lehmann, der | |
sozialpolitische Sprecher der Fraktion. „Dieses Ziel muss jetzt ganz nach | |
vorne, nicht der Kampf um einzelne Spiegelstriche.“ Nicht das | |
kleinteiligste Programm sei automatisch das beste, „sondern eins, das | |
Aufbruch und Sicherheit gleichermaßen ausstrahlt“, betont Lehmann. | |
Ob die Basis da mitgeht, ist offen: Bereits jetzt sammeln sich unter dem | |
grünen Antragstool im Netz Hunderte Anträge, die den Programmentwurf des | |
Vorstands auf dem Parteitag im Juni verschärfen sollen. | |
## Anne-Will-Fragen weglächeln | |
Zu all dem passt die sanfte Rhetorik der Grünen-Spitze. Sie klingt in | |
diesen Tagen so soft wie ein biologisch abbaubares Duschgel. Da wird nicht | |
ein Vorschlag gemacht, sondern ein „Angebot“ formuliert, besser noch: eine | |
„Einladung“ ausgesprochen, denn Zukunft geht nur gemeinsam und das Team ist | |
der Star. Keine Regierungserfahrung? Baerbock lächelt jede noch so nervige | |
Anne-Will-Frage einfach weg. | |
Wenn es tatsächlich ans Regieren geht, stehen die wahren Herausforderungen | |
an. Wer welche Posten bekommt, birgt Sprengkraft. Baerbock und Habeck | |
haben das erste Zugriffsrecht, sie sind als MinisterInnen in einer | |
Regierung gesetzt. Fraktionschef Anton Hofreiter als führender Vertreter | |
des linken Flügels ebenfalls, seine breite Ökokompetenz – von Verkehr über | |
Biodiversität bis Landwirtschaft – hilft ihm zusätzlich. | |
Aber dann wird es spannend. Katrin Göring-Eckardt, ebenfalls | |
Fraktionsvorsitzende, will auch Ministerin werden, Und Cem Özdemir würde | |
nicht Nein sagen – beide gehören zum Realo-Flügel. Die Linksgrünen würden | |
aber auf eine paritätische Besetzung der Ministerposten bestehen, sagen | |
ihre VertreterInnen. Das heißt: Nach Hofreiter wäre erst mal eine linke | |
Frau dran. Baerbock muss dies, die Frauenquote und | |
Diversitätsanforderungen, ausbalancieren. | |
Auch die neue Fraktion ist ein Unsicherheitsfaktor. Im Moment sitzen 67 | |
Grünen-Abgeordnete im Bundestag, nach der Wahl könnten es doppelt so viele | |
sein. „Der Bundestagsfraktion stehen voraussichtlich große Veränderungen | |
bevor: großes Wachstum und wahrscheinlich eine andere Rolle, nämlich die, | |
Regierungsfraktion zu werden“, sagt Haßelmann. „Darauf müssen wir gut | |
vorbereitet sein.“ | |
## Viele neue Leute | |
Das ist diplomatisch formuliert. Bei den Grünen werden viele neue Leute ins | |
Parlament ziehen, darunter überzeugte Linke, die die CDU hassen, [5][oder | |
AktivistInnen von Fridays for Future.] Der junge Klimaschützer Jakob Blasel | |
steht in Schleswig-Holstein auf einem chancenreichen Listenplatz und findet | |
die klimaschutzpolitische Agenda der Grünen lasch. Mit dieser Fraktion wäre | |
Schwarz-Grün ein komplexes Unterfangen. | |
„Bei Annalena Baerbock passen Person, Programm und Partei perfekt | |
zusammen“, sagt Kellner vor seiner Datsche in der Uckermark. „Diese | |
Stimmigkeit ist ein großer Vorteil.“ | |
Da ist etwas dran, wahr ist aber auch: Der erfolgreichste Grüne, | |
Ministerpräsident Winfried Kretschmann, hält bis heute Distanz zur eigenen | |
Partei. Die Message: Zu grün darf man, will man Erfolg haben, nicht sein. | |
1 May 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Wahlprogramm-Buendnis-90/Die-Gruenen/!5763311 | |
[2] /Paedosexuelle-Netzwerke-in-Berlin/!5752353 | |
[3] /Kampf-um-Kanzlerkandidatur-der-Union/!5767122 | |
[4] https://www.gruene.de/artikel/wahlprogramm-zur-bundestagswahl-2021 | |
[5] /Aktivisten-treten-zur-Wahl-an/!5704234 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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