# taz.de -- Wahlprogramm der Grünen: Operation „Samtpfote“ | |
> Um anschlussfähig an die Mitte zu bleiben, lässt die Grünen-Spitze im | |
> Entwurf fürs Wahlprogramm Punkte weg, für die die Partei bisher geworben | |
> hat. | |
Bild: Beim Regelsatz für Arbeitslose nennen die Grünen lieber keine konkrete … | |
BERLIN taz Der Entwurf der Grünen-Spitze für das Wahlprogramm trägt die | |
viel versprechende Überschrift: „Deutschland. Alles ist drin.“ Aber so ganz | |
stimmt der grüne Werbespruch nicht. Es ist nicht alles drin im Entwurf, | |
zumindest dann nicht, wenn man den bisherigen Kurs der Grünen als Maßstab | |
nimmt. Und das, was fehlt, ist durchaus interessant. | |
Die Parteispitze hat die eigenen Inhalte mit der Drahtbürste durchgekämmt – | |
und einige Ideen, für die die Grünen früher engagiert warben, aussortiert. | |
Bundesgeschäftsführer Michael Kellner sagt es so: „Mit unserem Entwurf für | |
das Wahlprogramm machen wir klar, wo wir in den nächsten vier Jahren den | |
Hebel ansetzen wollen.“ | |
Die Idee hinter der Priorisierung ist, dass das Wahlprogramm nicht mit | |
Spiegelstrichen überfrachtet werden soll. Aber auch die Anschlussfähigkeit | |
an die bürgerliche Mitte spielt eine Rolle, meist sind linke Anliegen | |
rausgefallen. Annalena Baerbock und Robert Habeck wollen sich auf | |
Samtpfoten ins Herz konservativer WählerInnen schleichen. | |
## 603 Euro für Arbeitslose? Vielleicht | |
■ Sozialpolitik: Ein Beispiel ist die Garantiesicherung für Arbeitslose, | |
die Hartz IV ersetzen soll. Die Grünen-Spitze wirbt im Programmentwurf für | |
eine Mindestsicherung, die „nicht stigmatisiert“ und „einfach und auf | |
Augenhöhe“ gewährt wird. Es gibt zwei zentrale Leitlinien: die Abschaffung | |
der Sanktionen und deutlich höhere Regelsätze. Die | |
Grünen-Bundestagsfraktion hatte im Mai 2020 berechnet, dass ein Erwachsener | |
603 Euro statt 432 Euro im Monat bekommen müsste. | |
Doch diese Zahl fehlt im Programmentwurf. Stattdessen versprechen die | |
Grünen nur noch, die Regelsätze „schrittweise“ anzuheben. Das lässt gro�… | |
Spielraum, etwa in Verhandlungen mit der Union. Selbst ein kleiner | |
Aufschlag von beispielsweise 30 Euro ließe sich aus grüner Sicht noch als | |
Erfolg verkaufen. | |
■ Umverteilung: Die Grünen wollen angesichts der immensen Coronakosten und | |
der Kluft zwischen Arm und Reich für mehr Steuergerechtigkeit sorgen. So | |
plädieren sie zum Beispiel für eine Vermögensteuer von 1 Prozent, die ab | |
einem Freibetrag von 2 Millionen Euro pro Kopf greifen würde. | |
Ein wichtiges Instrument für Umverteilung fehlt allerdings komplett: eine | |
progressive Reform der Erbschaftsteuer, die im Wahlprogramm 2017 noch | |
auftauchte. Baerbock verwies auf dem tazlab vor eineinhalb Wochen auf die | |
komplexe verfassungsrechtliche Situation. Es bringe nichts, Dinge zu | |
versprechen, die sich nicht schnell ändern ließen. Damit ließen die Grünen | |
aber einen entscheidenden Hebel für Umverteilung ungenutzt. | |
## Das Wort „Drohne“ taucht nicht auf | |
■ Außen- und Sicherheitspolitik: Auch hier argumentiert die Grünen-Spitze | |
im Programmentwurf pragmatisch. So bezweifelt sie etwa, dass für | |
Militäreinsätze immer ein UN-Mandat nötig sei. „Wenn das Vetorecht im | |
Sicherheitsrat missbraucht wird, um schwerste Verbrechen gegen die | |
Menschlichkeit zu decken, steht die Weltgemeinschaft vor einem Dilemma, | |
weil Nichthandeln genauso Menschenrechte und Völkerrecht schädigt wie | |
Handeln“, heißt es im Programmentwurf. Das lässt viel Spielraum für | |
Deutungen. Auch den von den Grünen mitgetragenen Kosovokrieg führte die | |
Nato bekanntlich ohne UN-Mandat. | |
Ein zweites Beispiel: Eigentlich sind die Grünen gegen die Beschaffung und | |
den Einsatz bewaffneter Drohnen, wie es etwa die Fraktion in einem Antrag | |
im Dezember 2020 bekräftigte. Im Programmentwurf taucht nun das Wort | |
„Drohne“ gar nicht mehr auf. Stattdessen ist die Rede davon, Autonomie in | |
Waffensystemen „international verbindlich“ zu regulieren. Außerdem sollen | |
Anwendungen, die gegen völkerrechtliche Grundsätze verstoßen, verboten | |
werden. Viele Kriegsdrohnen werden aber von Menschen gesteuert, sind also | |
keineswegs autonom. Auch hier bleiben die Grünen sehr offen. | |
■ Flüchtlingspolitik: Die Grünen fordern eine an humanitären Werten | |
orientierte Flüchtlingspolitik. Aber eine besonders progressive Idee fehlt | |
im Entwurf: [1][der sogenannte Klimapass.] Er soll Menschen helfen, die | |
durch die Klimakrise ihre Heimat verlieren, zum Beispiel BewohnerInnen von | |
durch steigende Meeresspiegel bedrohte Inselstaaten. Jene würden durch | |
einen Klimapass in anderen Staaten aufgenommen werden, etwa innerhalb der | |
EU. Noch im Europaprogramm 2019 hatten die deutschen Grünen dafür geworben. | |
Allerdings ist ein Klimapass schwer umzusetzen, weil eine internationale | |
Kooperation schwer auf die Beine zu stellen wäre. Und ein solches | |
Bekenntnis der Grünen wäre für die konservative Konkurrenz ein gefundenes | |
Fressen. Denn die Klimakrise bedroht nicht nur die überschaubare | |
Bevölkerung von Inselstaaten, sondern viele Menschen in Afrika und | |
anderswo. Es könnte also perspektivisch um sehr viele Klimaflüchtlinge | |
gehen, die in Industriestaaten aufgenommen werden müssten. Diese Aussicht | |
schreckt konservative WählerInnen eher ab. | |
5 May 2021 | |
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## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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