| # taz.de -- Wahlprogramm Bündnis 90/Die Grünen: Können Grüne regieren? | |
| > Die K-Frage ist geklärt, jetzt geht es um Inhalte. Sechs unangenehme | |
| > Fragen zu Feminismus, Geld, Klima, Miete, Militär und Koalition. | |
| Bild: Frau Baerbock, sollen die Militärausgaben noch weiter steigen oder doch … | |
| ## Können sie mit Geld umgehen? | |
| Eine konservative Retourkutsche fehlt nie, wenn Grüne ihr Programm | |
| vorstellen: „Und wie soll das bezahlt werden?!“ Diesmal ist die Frage sogar | |
| berechtigt. Denn die Grünen haben darauf verzichtet, einen minutiös | |
| durchgerechneten Forderungskatalog zu präsentieren. Damit haben sie keine | |
| guten Erfahrungen gemacht. Ihr Wahlprogramm von 2013 war bis auf den | |
| letzten Cent kalkuliert – am Ende landeten sie bei 8,4 Prozent der Stimmen. | |
| Also haben sie diesmal vor allem Ziele formuliert. Unter anderem sind | |
| geplant: ein Qualifizierungskurzarbeitergeld, ein Klimawohngeld, eine | |
| Kindergrundsicherung, ein Elterngeld von 24 Monaten, eine Garantiesicherung | |
| statt Hartz IV und höhere Steuerzuschüsse für die Rentenkasse. | |
| Der Klimaschutz kostet auch Geld. Anvisiert sind: regionale | |
| Transformationsfonds, ein Zukunftsfonds für klimaneutrale Spitzenforschung, | |
| zusätzliche Investitionsmittel für die Bahn und den öffentlichen | |
| Nahverkehr, mehr Fahrradwege und überall schnelles Internet. Insgesamt | |
| sollen die öffentlichen Investitionen um jährlich 50 Milliarden Euro | |
| steigen. | |
| Steuerreformen sind zwar geplant, aber sie werden (fast) kein Geld in die | |
| Bundeskassen spülen. So soll es wieder eine Vermögenssteuer geben, die ab 2 | |
| Millionen Euro bei 1 Prozent liegt. Die Vermögenssteuer fließt jedoch an | |
| die Länder, nicht an den Bund. Geplant sind zudem höhere Steuern für | |
| Spitzeneinkommen, doch diese Reform ist ein Nullsummenspiel, weil | |
| gleichzeitig die unteren und mittleren Schichten entlastet werden sollen, | |
| indem der Grundfreibetrag steigt. | |
| Wo also soll das Geld für die ganzen Pläne herkommen? Die Grünen wollen | |
| unter anderem die Subvention des Diesels beenden und die Steuerflucht | |
| bekämpfen. Doch das würde maximal 10 Milliarden Euro bringen, wie sie | |
| selbst einräumen. | |
| Der große Rest soll durch Kredite finanziert werden. Die Grünen wollen die | |
| Schuldenbremse „zeitgemäß“ gestalten. Investitionen in den Klimaschutz od… | |
| ins Internet sollen erlaubt sein. Ihr Kalkül: Damit schafft man | |
| öffentliches Vermögen – und es entstehen keine Kosten, weil die | |
| Kreditzinsen derzeit bei null liegen. | |
| Ulrike Herrmann | |
| ## Reicht das Programm für 1,5 Grad? | |
| Selbst die Grünen können das Weltklima nicht im Alleingang retten. Was sie | |
| aber tun können, ist den deutschen und europäischen Anteil zu definieren, | |
| mit dem das globale Ziel, die Erderhitzung auf 1,5 bis 2 Grad zu begrenzen, | |
| erreicht werden kann. Das haben die Grünen in [1][ihrem vorläufigen | |
| Wahlprogramm] festgeschrieben. Darin bekennen sie sich zum Pariser | |
| Klimaabkommen als zentrale Grundlage ihrer Politik und fordern: „Es ist | |
| daher notwendig, auf den 1,5-Grad-Pfad zu kommen.“ | |
| Das ist der Spagat zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Einerseits fordern | |
| Geschichte und Selbstverständnis der Ökopartei ebenso wie die Bewegung | |
| Fridays for Future einen radikalen Kurs zum Klimaschutz. Andererseits | |
| wollen die Grünen realpolitisch beweglich bleiben. FFF – und mit ihnen die | |
| Wissenschaft und viele Grüne – wollen viel schneller viel mehr, etwa einen | |
| früheren Ausstieg aus Kohle und Verbrennungsmotor oder 180 statt nur 60 | |
| Euro pro Tonne CO2 bis 2023, wie es im Wahlprogramm der Partei gefordert | |
| wird. | |
| „Mit dem vorgestellten Programm bleiben die Grünen meilenweit hinter ihren | |
| Versprechen an eine 1,5-Grad-konforme Politik zurück“, sagte die | |
| FFF-Aktivistin Carla Reemtsma. An anderer Stelle sprachen FFF davon, dass | |
| es schwerfalle, „so ein Schneckentempo zu loben“. | |
| Ohnehin macht das alles für die Grünen nur Sinn, wenn im Kanzleramt ein | |
| ernsthafter Wille zum Umbau der Gesellschaft hin zur Klimaneutralität zu | |
| erkennen ist. Und auch dann müsste Baerbock als Kanzlerin oder | |
| Vizekanzlerin erst mal durchsetzen, wie Deutschland auf „diesen Pfad | |
| kommen“ kann – bei der Industrie, der Bevölkerung und einem nicht ganz so | |
| grünen Koalitionspartner. | |
| Reicht das, was die Grünen wollen? Selbstverständlich nicht. Das wissen sie | |
| selbst am besten. Aber wenn sie nur die Hälfte ihrer Pläne durchsetzen, | |
| bringt das andere in der Politik und der Wirtschaft in Zugzwang. | |
| Bernhard Pötter | |
| ## Sind sie feministisch? | |
| Die Grünen haben vorgelegt: Sie waren die erste Partei, die schon bei ihrer | |
| Gründung eine Frauenquote einführte. Mehr als 40 Jahre und diverse Machos à | |
| la Fischer später führt sie auch dieser Umstand zu ihrer ersten grünen | |
| Kanzlerkandidatin. | |
| Annalena Baerbock selbst ist die erste potenzielle Regierungschefin, die | |
| sich als Feministin versteht – ein frauenpolitischer Meilenstein. Durchaus | |
| offensiv positionierte sie sich bislang zu frauen- und queerpolitischen | |
| Themen wie Quote und Parité, Gewaltschutz und reproduktive Rechte. „Das | |
| nächste Jahrzehnt muss ein feministisches werden“, forderte Baerbock noch | |
| 2019. | |
| Irritierend ist, dass in ihrer ersten Rede als Kanzlerkandidatin am Montag | |
| nichts davon zu hören war. Offensichtlich will Baerbock auch WählerInnen | |
| erreichen, denen Feminismus als Provokation gilt. Für den Wahlkampf könnte | |
| der Spagat zwischen einer feministischen und einer bürgerlich-gesetzten | |
| Position, die möglichst breite WählerInnenschichten ansprechen will, heikel | |
| werden. | |
| Im Entwurf des Wahlprogramms ist Frauen- und Queerpolitik etwa bei | |
| Gleichstellung, Gewaltschutz und Gesundheit vertreten. Die Rechte von | |
| Sexarbeiter:innen streift die Partei nur kurz. | |
| Welchen Stellenwert Feminismus für die Grünen tatsächlich hat, dürfte sich | |
| auch in möglichen schwarz-grünen Verhandlungen zeigen. Da die Union etwa im | |
| Hinblick auf reproduktive Rechte kaum zu Zugeständnissen bereit sein wird – | |
| Stichwort „Werbeverbot“ des Paragrafen 219 a –, besteht die Gefahr, dass | |
| Frauenpolitik für die Partei zur Verhandlungsmasse wird. | |
| Patricia Hecht | |
| ## Sind sie die Partei der Mieter oder der Vermieter? | |
| Eines ist seit dem Scheitern des Berliner Mietendeckels klar: Das Thema | |
| Wohnen [2][wird den Wahlkampf begleiten] – auch den der Grünen. „Das | |
| Problem der Mietensteigerung bekommen wir nur mit Regulierung und | |
| Investitionen in den Griff, der Markt allein wird es nicht richten“, | |
| erklärt Christian Kühn, der wohnungspolitische Sprecher der | |
| Grünen-Fraktion, auf Anfrage. „Wir schlagen einen Stopp bei den Mietpreisen | |
| vor.“ | |
| Anders als die Linkspartei, die am Donnerstag einen deutschlandweiten | |
| Mietendeckel [3][im Bundestag beantragt hat], der auch die Senkung | |
| überhöhter Mieten vorsieht, wollen die Grünen nur „Mietobergrenzen“ | |
| durchsetzen. Von Mietminderungen ist im Entwurf ihres Wahlprogramms nicht | |
| die Rede. Der Fokus liegt darauf, Mieterhöhungen zu erschweren: | |
| Erstens versprechen die Grünen, die vom Bund erlassene (wenig effektive) | |
| Mietpreisbremse zu entfristen und nachzuschärfen. Zweitens sollen reguläre | |
| Mieterhöhungen bei 2,5 Prozent im Jahr innerhalb des Mietspiegels gedeckelt | |
| werden. Und drittens wollen sie die sogenannte Modernisierungsumlage | |
| senken. | |
| Darüber hinaus verspricht die Partei, die Immobilienspekulation zu stoppen. | |
| „Wenn in Kommunen große Wohnungsnot herrscht, kann sich daraus eine Pflicht | |
| für Eigentümer*innen ergeben, Grundstücke zu bebauen“, heißt es im | |
| Programmentwurf. Enteignungen kommen für die Grünen nicht infrage: | |
| „Wohnungskonzerne zu enteignen ist keine grüne Programmatik auf | |
| Bundesebene. Städte und Gemeinden brauchen ein wirksames Vorkaufsrecht, | |
| etwa von brachliegenden Flächen, die nur der Spekulation dienen“, sagt | |
| Kühn. | |
| Spannend bleibt, wie groß die Grünen das Thema machen werden. Um als neue | |
| Volkspartei gehandelt zu werden, brauchen sie Zuspruch aus allen Milieus. | |
| Mit der Mietenobergrenze jedoch erreichen sie vermutlich nicht die | |
| bürgerliche Mitte aus der Prignitz oder dem Thüringer Wald, sondern vor | |
| allem jene, die sie ohnehin schon wählen: junge Großstädter*innen. | |
| Rieke Wiemann | |
| ## Sind sie noch die Friedenspartei? | |
| In ihrem Wahlprogramm lehnen die Grünen das 2-Prozent-Ziel der Nato ab. | |
| Allerdings nicht, weil dessen Einführung für Deutschland eine exorbitante | |
| Erhöhung des Militäretats bedeuten würde. Vielmehr argumentieren sie damit, | |
| dass die Orientierung am Bruttoinlandsprodukt willkürlich sei. | |
| Die Grünen setzen sich demgegenüber „für eine neue Zielbestimmung ein, die | |
| nicht abstrakt und statisch ist, sondern von den Aufgaben ausgeht“. Dabei | |
| fordern sie „eine faire Lastenverteilung zwischen den Mitgliedstaaten“. | |
| Das lässt viel Spielraum zur Interpretation. Nach enormen Steigerungen in | |
| den vergangenen Jahren liegen die deutschen Militärausgaben nach | |
| Nato-Standards bei inzwischen über 51,6 Milliarden Euro. Damit ist | |
| Deutschland mit einer Quote von 1,56 Prozent der Wirtschaftsleistung zwar | |
| noch immer weit vom 2-Prozent-Ziel entfernt – aber verdammt viel Geld ist | |
| das auch jetzt schon. | |
| Ließe sich das nicht sinnvoller einsetzen? Doch davon ist im Programm nicht | |
| die Rede. Da stellt sich die Frage, ob aus den Grünen, die sich in ihren | |
| Anfangsjahren als Frieden-schaffen-ohne-Waffen-Partei verstanden, | |
| inzwischen eine Wir-wollen-immer-mehr-Waffen-Partei geworden ist. Frau | |
| Baerbock, sollen nach Ihrer Vorstellung die Militärausgaben noch weiter | |
| steigen oder doch endlich wieder sinken? | |
| Pascal Beucker | |
| ## Können sie sich vor einer Koalitionsaussage drücken? | |
| Das werden sie auf jeden Fall tun. Annalena Baerbock wird sich bis zum | |
| Schluss offenhalten, mit wem sie koaliert. Dieser Kurs wird in der Partei | |
| breit unterstützt. Die Grünen haben gelernt, dass Ausschließeritis | |
| angesichts komplizierter Wahlergebnisse nicht hilfreich ist. | |
| Inhaltlich stehen die Grünen der SPD und der Linkspartei näher als der | |
| Union oder der FDP. Fast all ihre sozioökonomischen Vorhaben – Lockerung | |
| der Schuldenbremse, Abschied von Hartz IV, Kindergrundsicherung etc. – | |
| lassen sich besser mit einem Mitte-links-Bündnis umsetzen. Sagen tun sie | |
| das aber nicht allzu laut. | |
| Bei der Koalitionsfrage gibt es unterschiedliche Präferenzen. Der linke | |
| Flügel will eher Grün-Rot-Rot, viele Realos wollen eher Schwarz-Grün oder | |
| am liebsten Grün-Schwarz. Für Grün-Rot-Rot sprechen die Inhalte, für | |
| Schwarz-Grün die Stabilität. Mit den Machtprofis von der Union regiert es | |
| sich einfacher als mit der Linkspartei. | |
| Geradezu höllisch wäre es für Baerbock und die Grünen-Spitze, wenn nach der | |
| Wahl beides arithmetisch möglich ist. Dann müsste sie Farbe bekennen – und | |
| würde zwangsläufig einem Teil ihrer Leute und ihrer Wählerschaft vor den | |
| Kopf stoßen. | |
| Ulrich Schulte | |
| 24 Apr 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.gruene.de/artikel/wahlprogramm-zur-bundestagswahl-2021 | |
| [2] /Urteil-zum-Mietendeckel/!5763145 | |
| [3] /Plan-der-Linkspartei/!5762360 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrike Herrmann | |
| Bernhard Pötter | |
| Patricia Hecht | |
| Rieke Wiemann | |
| Pascal Beucker | |
| Ulrich Schulte | |
| ## TAGS | |
| Annalena Baerbock | |
| Wahlkampf | |
| Robert Habeck | |
| Podcast „Vorgelesen“ | |
| GNS | |
| Bündnis 90/Die Grünen | |
| Ampel-Koalition | |
| Bündnis 90/Die Grünen | |
| Parteiprogramm | |
| Annalena Baerbock | |
| Annalena Baerbock | |
| Kanzlerkandidatur | |
| Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Lob der Löschtaste: Personalpolitik per Schwabenquote | |
| Anton Hofreiter wurde deleted, Cem Özdemir an seine Stelle gepastet. Eine | |
| Betrachtung über Regierungsbildungen in digitalen Zeiten | |
| Wahlprogramm der Grünen: Operation „Samtpfote“ | |
| Um anschlussfähig an die Mitte zu bleiben, lässt die Grünen-Spitze im | |
| Entwurf fürs Wahlprogramm Punkte weg, für die die Partei bisher geworben | |
| hat. | |
| Die Grünen und der Wahlkampf: Schwankend im Umfragerausch | |
| Annalena Baerbock und die Grünen sind gerade im Honeymoon. Aber im | |
| anstehenden Wahlkampf lauern viele Fallen und Risiken. Eine Analyse. | |
| Interviews mit Annalena Baerbock: Nicht zu fragen ist sexistisch | |
| Ist es sexistisch, junge Politikerinnen kritisch nach ihrer Kompetenz zu | |
| befragen? Keineswegs. Umgekehrt wird ein Schuh draus. | |
| „Sonntagstrend“ zur Bundestagswahl: Grüne ziehen an Union vorbei | |
| Die Debatten der vergangenen Wochen hinterlassen Spuren: Die Grünen | |
| erreichen einen neuen Umfragerekord, die Union sinkt ab. | |
| Niederlage des grünen Co-Chefs: Respekt, Herr Habeck | |
| Grünen-Chef Robert Habeck wird verhöhnt, weil er über die Niederlage bei | |
| der Kanzlerkandidatur spricht. Doch er bricht mit alten | |
| Männlichkeitsidealen. | |
| Baerbock gegen Scholz in Potsdam: Deutschlands spannendster Wahlkreis | |
| Im Herbst geht es für Annalena Baerbock und Olaf Scholz in Potsdam um viel. | |
| Nicht nur ums Direktmandat, womöglich auch ums Kanzleramt. | |
| Baerbock wird Kanzlerkandidatin: Sie will | |
| Die Grünen präsentieren mit Annalena Baerbock ihre erste Kanzlerkandidatin | |
| – ganz ohne Hickhack. Wie aus einer Fachpolitikerin ein Politstar wurde. |