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# taz.de -- Versäumnisse in der Coronaforschung: Es fehlen die Daten
> Über ein Jahr schon versetzt uns Covid-19 in den Ausnahmezustand. Viele
> Fragen hätte die Wissenschaft schon längst beantworten können.
Bild: Landwehrkanal in Berlin: Sind Aerosole draußen weniger gefährlich?
Berlin taz | Wissenschaft gilt als schärfstes Schwert im Kampf gegen das
Coronavirus. Enorme Summen werden in die Impfstoffforschung gepumpt, um
der Pandemie Einhalt zu gebieten. Weniger wird dagegen über die
Schattenseite der Heldengeschichte gesprochen: wo Wissenschaft in der
Covid-19-Krise scheitert oder erst gar nicht in die Gänge kommt. Das Ausmaß
an Wissenschaftsversagen tritt immer deutlicher zutage.
An diesem Mittwoch war es wieder so weit: Forschungsministerin Anja
Karliczek trat mit ihrem Kabinettskollegen aus dem Gesundheitsressort Jens
Spahn vor die Bundespressekonferenz, um ein neues, 300 Millionen Euro
schweres Förderprogramm für die Entwicklung von Coronamedikamenten zu
verkünden. Dabei geht es um Patienten, die bereits erkrankt sind und in
einer Klinik behandelt werden müssen. Die neuen Arzneimittel sind seit
Anfang des Jahres bereits in den klinischen Testphasen I und II geprüft
worden. „Ich freue mich, dass wir nun die Forschung und Entwicklung auch
auf die finale Testphase und die Herstellungskapazitäten ausdehnen können“,
sagte Karliczek. Ziel sei es, dass „damit wirksame und sichere Arzneimittel
gegen Covid-19 möglichst rasch bei den Patientinnen und Patienten
ankommen“.
Leider müsse damit gerechnet werden, dass selbst bei einer hohen Impfrate
Menschen weiter an Covid-19 erkrankten, für die dringend neue
Therapieoptionen bereitgestellt werden müssten. Mit dem neuen Programm
sollen auch bereits für andere Krankheiten zugelassene Arzneimittel darauf
geprüft werden, ob sie gegen Covid-19 wirken.
Das neue BMBF-Programm ist auch eine Reaktion auf die [1][Kritik des
Wissenschaftsrats (pdf-Datei)], der im Januar bemängelt hatte, dass in
Deutschland bei klinischen Studien das „Potenzial für die Verbesserung der
Versorgung hierzulande nicht ausgeschöpft wird“. Insbesondere bei Studien
zu Wirkstoffen und Therapieverfahren für Covid-19 spiele die universitäre
und außeruniversitäre Gesundheitsforschung in Deutschland „jedenfalls zu
Beginn der Pandemie keine führende Rolle“, stellte der Wissenschaftsrat
fest. In anderen europäischen Staaten wie den Niederlanden, Großbritannien
und der Schweiz liege die Anzahl öffentlich finanzierter Studien zu
Covid-19 deutlich höher.
## Wo ist das Infektionsrisiko hoch?
Eine weitere Leerstelle deutscher Forschung zeigte sich beim Auftreten
[2][erster Mutanten von SARS-CoV-2]. „Gefährliche Mutationen erkennt man
nur dann rechtzeitig, wenn man die Virusgenome aus Infizierten durch
engmaschige Überwachung (Surveillance) via Komplett-Sequenzierung
überprüft“, [3][stellte das Fachmagazin Laborjournal Anfang des Jahres
fest]. Dies sei „ein Aspekt, der in Deutschland bisher auf fahrlässige
Weise vernachlässigt wurde“. Überschrift des Fachartikels: „Deutschland
blamabel bei Corona-Sequenzierung“.
Keine Verbesserung gibt es auch auf der epidemiologischen Seite, wo es um
die infektiöse Verbreitung des Virus geht. So schreibt das Robert
Koch-Institut (RKI) in einem aktuellen Lagebericht über Covid-19-bedingte
Ausbrüche: „Beim Großteil der Fälle ist der Infektionsort nicht bekannt.“
Betroffen seien insbesondere private Haushalte, aber auch Kitas, Schulen
und das berufliche Umfeld, wird vage mitgeteilt. Warum hat die
Infektionsschutzbehörde nach über einem Jahr nicht eine präzisere
Sicht auf die Verbreitung?
Auch die Schwachstelle der Datenvernetzung und des Datenmanagements im
Gesundheitsbereich, wo es „zahlreiche Mängel“ gebe, hatte der
[4][Wissenschaftsrat] angeschnitten. So fehle „ein standortübergreifender
Zugang zu standardisierten Daten aus medizinischer Forschung und
Versorgung“. Als noch gravierender stellt sich mittlerweile die generell
unzureichende Erhebung von Daten über die Covid-19-Verbreitung heraus.
„Seit Beginn der Pandemie erleben wir ein Versagen der Fachgesellschaften
von der Statistik über die Epidemiologie bis zur Soziologie“, sagt der
Datenerhebungsexperte Rainer Schnell von der Universität Duisburg-Essen.
Keine wissenschaftliche Organisation habe die, wie er es nennt,
„Datenerhebungskatastrophe“ kritisiert.
## „Deutschland läuft englischsprachigen Ländern hinterher“
„Deutschland läuft der Datenerhebungsqualität der englischsprachigen Länder
meilenweit hinterher“, ergänzt der Medizinstatistiker Gerd Antes,
Mitbegründer des [5][Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin.] Am
schlimmsten sei, dass es „weder in der Politik noch in der Wissenschaft
vielversprechende Anstrengungen gebe, das Empirie-Defizit zu beheben“,
[6][wird Antes im Wissenschaftsblog des Berliner Fachjournalisten
Jan-Martin Wiarda zitiert]: „Da herrscht eine Mischung aus Inkompetenz,
Arroganz und Interessenkonflikten.“
Wiarda ist in einer ausführlichen Recherche der Frage nachgegangen, warum
es in der deutschen Forschung kein „Corona-Panel“ gibt, das die Verbreitung
des Virus repräsentativ misst. „50.000 bis 100.000 Stichprobentests alle
ein bis zwei Wochen würden genügen“, so seine Einschätzung. Stattdessen
herrsche ein [7][Datenflickwerk,] das keine valide Grundlage für politische
Entscheidungen von großer Tragweite darstellen könne.
Ein Anlauf des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) zusammen mit dem
Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie (BIPS) in
Bremen hatte keinen Erfolg, fand Wiarda heraus. Die Idee war, das
Corona-Panel an das wissenschaftliche Datengroßprojekt [8][„NAKO –
Nationale Gesundheitskohorte“] anzudocken, bei dem 200.000 Deutsche
zwischen 20 und 69 Jahren kontinuierlich Auskunft über Lebensumstände und
Krankheitsgeschichte geben. Das Konzept habe auch die Zustimmung des RKI
gefunden. Doch das BMBF habe die Bedeutung des Vorhabens nicht erkannt und
eine Finanzierung verweigert, kritisieren die Forscher. Als wenig
kooperativ habe sich zudem die NAKO-Leitung gezeigt: „Die saßen auf ihrer
Studie und wollten nicht teilen.“
Jenseits von Eifersüchteleien verhindert ein gesundheitswissenschaftliches
Strukturproblem eine Besserung. „Die Pleiten, Pech und Pannen der
deutschen Coronapolitik haben eine gemeinsame Ursache“, so Wiardas Analyse.
„Das Zusammenspiel von Politik, Administration und Wissenschaft wird nicht
funktionieren, solange ‚Public Health‘ nicht zu einer Leitdisziplin in
Deutschland wird.“ Die gesellschaftliche Gesundheitsversorgung ist ein
Stiefkind des patientenzentrierten Medizinsystems.
## Welchen Weg nimmt das Virus? Unbekannt
Weil weiterhin unbekannt ist, welche Wege das Virus genau nimmt, kommen die
politischen Präventionsmaßnahmen vielfach einem Stochern im Nebel gleich.
Ganze Bevölkerungsgruppen wie Migranten oder sozial Benachteiligte fallen
mit ihrer besonderen Belastungssituation aus dem Blick. Andere Gruppen wie
Schüler und Studierende werden mit ihrem Infektionspotenzial wahrscheinlich
falsch eingeschätzt. Das Ergebnis sind „Notbremsen“, die nicht geringen
Kollateralschaden produzieren, etwa über die strikten Inzidenzwerte.
Ein Leser des viel kommentierten Wiarda-Blogs schrieb, dass der Frust unter
Schulrektoren, Lehrern und Eltern steige. „Bei uns im Landkreis wurden alle
Schulen geschlossen, nachdem Infektionen in sechs Betrieben und einer
einzigen Kita den Inzidenzwert nach oben katapultiert haben.“ In den ihm
bekannten Schulen wurden drei Reihentests die Woche durchgeführt – ohne
Funde. Ein Rektor meinte verzweifelt: „Wir testen wie blöde, aber keiner
interessiert sich für unsere Zahlen.“
Bildungspolitische Langzeitschäden durch Corona sind ebenfalls ein
Forschungsthema. Aber dieses Großexperiment mit zehn Millionen Teilnehmern
läuft noch eine Weile.
13 May 2021
## LINKS
[1] https://www.wissenschaftsrat.de/download/2021/8834-21.pdf?__blob=publicatio…
[2] /Gefaehrlichere-Coronamutanten/!5739060
[3] https://www.laborjournal.de/blog/?p=11564
[4] /Lehren-aus-der-Coronapandemie/!5743582
[5] https://www.ebm-netzwerk.de/de
[6] https://www.jmwiarda.de/2021/04/28/die-datenerhebungskatastrophe/
[7] /Gefaehrlichere-Coronamutanten/!5739060
[8] https://nako.de/
## AUTOREN
Manfred Ronzheimer
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