| # taz.de -- Virusvarianten in Deutschland: Wie die Mutanten ticken | |
| > Dass sich Viren wie Sars-CoV-2 verändern, liegt in der Sache ihrer | |
| > genetischen Natur. Doch die Impfstoffe sind bisher auch gegen die | |
| > Mutanten wirksam. | |
| Bild: Den Corona-Mutanten auf der Spur – hier in einem Großlabor im rheinlan… | |
| Den Anfang hatte Boris Johnson gemacht. Wenige Tage vor Weihnachten, | |
| nachdem die britische Regierung wichtige Gelegenheiten ausgelassen hatte, | |
| Coronamaßnahmen zu verschärfen, und die 7-Tage-Inzidenz im Königreich auf | |
| mehr als 250 geklettert war, warnte der britische Premier vor der Mutante | |
| B.1.1.7. Die sei um mutmaßlich 70 Prozent ansteckender, verbreite sich | |
| daher rasant, man müsse nun handeln. Gleich mehrfach und von höchster | |
| politischer und institutioneller Instanz ist seither zu vernehmen, dass | |
| mehrere aktuelle Mutanten des Coronavirus – auch bekannt als „britische“, | |
| „südafrikanische“, „brasilianische“ und „indische“ Variante – das | |
| Coronaproblem verschärfen oder gar ein neues schaffen. | |
| Die Varianten seien wahlweise infektiöser, krankmachender oder beides | |
| zusammen, die Lage daher schwierig. Es müsse mit mehr Ansteckungen | |
| gerechnet werden. Fluchtmutationen sollen den neuen Coronaviren außerdem | |
| erlauben, der Immunantwort nach einer Infektion und mutmaßlich auch nach | |
| einer Impfung zu entkommen. Ein Jahr nach der Ankunft der Pandemie in | |
| Deutschland ließ sich Bundeskanzlerin Angela Merkel, als sie vor Ostern | |
| Verschärfungen der Coronamaßnahmen ankündigen wollte, sogar zu der Aussage | |
| hinreißen, man habe nun im Grunde „eine neue Pandemie“. | |
| Anstelle der steten Lockerungsdebatten, wie zuletzt der fehlplatzierten | |
| [1][Schauspieler:innen-Videokampagne #allesdichtemachen], der Passivität | |
| der deutschen Bundesregierung und einer weiterhin schmerzlich vermissten | |
| europäischen Coronastrategie, scheint daher auch in Deutschland in erster | |
| Linie die Coronavariante B.1.1.7 der Grund dafür, dass die | |
| Sieben-Tage-Inzidenz binnen Wochen von knapp 60 auf fast das Dreifache | |
| angestiegen ist. | |
| Und nicht nur in Deutschland und Großbritannien treiben Mutanten ihr | |
| Unwesen. In Brasilien und Uruguay gibt es eine massive dritte Welle, | |
| dominiert von einer Variante namens P.1. [2][Indien erlebt eine | |
| beispiellose Zunahme von Sars-CoV-2- Infektionen], getrieben von B.1.167, | |
| auch bekannt als die „Doppelmutante“. Und aus New York, Frankreich und | |
| Finnland gibt es bereits Berichte über weitere veränderte Coronaviren. Die | |
| Lage wirkt tatsächlich dramatisch. | |
| ## Nicht die größten Verwandlungskünstler unter den Viren | |
| Aber was genau ist da eigentlich dramatisch? Dass Viren sich stetig | |
| verändern und an neue Gegebenheiten anpassen, liegt in der Sache ihrer | |
| genetischen Natur. In jedem infizierten Organismus entstehen im Verlauf der | |
| Infektion Milliarden Kopien des viralen Erbguts, und viele dieser Kopien | |
| sind fehlerhaft. Einzelne Bausteine im genetischen Code des Virus fallen | |
| zum Beispiel weg, werden vertauscht oder kommen hinzu. Manchmal verändern | |
| sich dadurch auch mehr oder weniger wichtige Details in der Eiweißstruktur | |
| des Erregers. Und gelegentlich, obschon selten, bringt diese strukturelle | |
| Veränderung eine größere Überlebensfähigkeit mit sich. | |
| Coronaviren sind nun zwar nicht die größten Verwandlungskünstler unter den | |
| Viren, ihre Mutationsgeschwindigkeit ist um ein vielfaches geringer als zum | |
| Beispiel bei Grippeerregern. Aber je stärker die Verbreitung, desto größer | |
| die Flut der viralen Nachkommen – und desto mehr Kopierfehler gibt es auch. | |
| Mit der Inzidenz wächst deshalb die Chance, dass unter all den Mutationen | |
| eine dabei ist, die Sars-CoV-2 ganz zufällig nützt. Entweder, weil das | |
| Virus die Zellen seines Wirts – des Menschen – leichter infizieren oder | |
| sich in den Zellen besser vermehren kann. Alternativ, weil es der | |
| Körperabwehr des Infizierten zum Teil ausweicht. | |
| Beide Arten von nützlichen Mutationen sind in den Varianten zu finden, die | |
| jetzt ihr globales Unwesen treiben. B.1.1.7 zum Beispiel trägt im Vergleich | |
| zum anfänglich entdeckten Wuhan-Virus aus China eine kleine Veränderung an | |
| der Bindungsstelle zu menschlichen Zellen. Diese Bindungsstelle, das | |
| sogenannte Stacheleiweiß, ist zentral dafür, dass das Virus überhaupt in | |
| Zellen eindringen und sich vermehren kann. Die Veränderung von B.1.1.7 | |
| macht die Variante deshalb nachweislich ansteckender. | |
| Laut Modellrechnungen steigt die Infektiösität um 20 bis 130 Prozent, nach | |
| bisherigen Beobachtungen liegt der reale Wert wohl um die 30 bis 40 | |
| Prozent. Biomedizinisch lässt sich die erhöhte Ansteckungsgefahr durch eine | |
| höhere, womöglich auch länger erhöhte Virenlast der Infizierten erklären. | |
| Ob B.1.1.7 auch virulenter ist, also kranker macht, ist trotz vereinzelter | |
| Studien zu dieser Frage noch nicht klar zu beantworten. | |
| ## Abwehrsystem bildet zwei Linien | |
| Was B.1.1.7 noch fehlt, anderen Varianten jedoch innewohnt, ist die | |
| Fähigkeit, sich durch Mutationen zumindest einer Immunantwort durch den | |
| menschlichen Körper zu entziehen. Das Abwehrsystem des Menschen bildet nach | |
| einer Infektion oder Impfung zwei Linien: Die erste besteht aus | |
| Antikörpern, die im Fall eines nächsten Kontakts versuchen, eine erneute | |
| Ansteckung zu verhindern. Dazu heften sich viele verschiedene | |
| spezialisierte Antikörper an viele verschiedene Stellen des Virus. | |
| Wichtig sind jene Antikörper, die verhindern, dass das Virus an Zellen | |
| andockt. Sie heißen neutralisierend, weil damit eine Infektion verhindert | |
| wird. Einzelne Mutationen in den Varianten können solche Neutralisationen | |
| unterwandern, weil die zugehörigen Antikörper nicht mehr binden können. Die | |
| sich in Indien derzeit explosiv ausbreitende Variante B.1.617 besitzt zwei | |
| solche „escapes“, Fluchtmutationen. Sie schalten allerdings nicht die | |
| komplette Antikörperantwort aus, sondern ein oder mehrere von vielen | |
| verschiedenen Antikörpern. Und alle derzeit in Europa zugelassenen | |
| Impfstoffe lassen sich an diese Fluchtmutationen anpassen. | |
| „Man darf auch nicht vergessen“, erklärt Leif-Erik Sander von der Berliner | |
| Charité, „dass es in zweiter Instanz die T-Zell-Antwort des Immunsystems | |
| gibt.“ T-Zellen erkennen infizierte Zellen und bekämpfen sie. Bislang gebe | |
| es keine Hinweise darauf, dass die Mutanten diese Abwehr schwächen würden, | |
| auch alle zugelassenen Impfstoffe sind hier nach wie vor wirksam und | |
| verhindern schwere Krankheitsverläufe und Todesfälle – was entscheidend | |
| ist, um der Pandemie ihre Bedrohlichkeit zu nehmen. | |
| Mit B.1.1.7 gibt es dennoch ein offenkundiges Problem. Die erhöhte | |
| Infektiösität der Variante treibt den sogenannten R-Wert nach oben. Würden | |
| zehn Menschen mit Wuhan-Variante in der aktuellen Lage beispielsweise acht | |
| weitere Menschen anstecken, steckte die gleiche Zahl von Infizierten mit | |
| B.1.1.7 mehr als zehn andere Personen an. Das neue Sars-CoV-2 benötigt dazu | |
| dieselben, eigentlich vermeidbaren Gelegenheiten wie alle Varianten: | |
| Kontakte, ungeschützte Gesichter, geschlossene Räume. | |
| Bekommt die Mutante diese Gelegenheiten, schlägt es aber heftiger zu. | |
| Anfang Februar war deshalb bereits klar, dass das | |
| Bisschen-Lockdown-Business-as-usual die Lage auch hier nicht mehr unter | |
| Kontrolle halten würde; B.1.1.7 breitete sich zu diesem Zeitpunkt schon | |
| massiv in Deutschland aus. Die Maßnahmen hätten, so sagen Expert:innen, | |
| verschärft werden müssen – in einer Situation, in der stattdessen erneut | |
| über Lockerungen debattiert wurde und über Wochen nichts Bemerkenswertes | |
| passierte. | |
| ## Kein Herausimpfen aus dritter Welle | |
| Für viele Fachleute, die täglich mit den Folgen und der weiteren | |
| Entwicklung der Pandemie zu tun haben, ist das unverständlich. „Ich fand es | |
| sehr irritierend“, sagt Florian Klein vom Universitätsklinikum in Köln. Der | |
| Virologe versucht mit neuen Testprogrammen zur Öffnung von Kitas derzeit | |
| das Beste aus der schwierigen Situation zu machen, aber wie andere Kollegen | |
| hat Klein vor der verschärften Dynamik der Virusverbreitung in Deutschland | |
| durch B.1.1.7 frühzeitig gewarnt. | |
| Vor dem Hintergrund einer 7-Tage-Inzidenz von bundesweit 57 Infektionen je | |
| 100.000 Einwohner sagte er dem deutschen Science Media Center vor zwei | |
| Monaten in einem Expertenbeitrag: „Wenn man den aktuellen Stand als | |
| Ausgangspunkt annimmt und sich der bisherige Trend fortsetzt, werden wir | |
| Ende März deutlich höhere Fallzahlen sehen.“ Dieses sei aber abhängig vom | |
| gemeinsamen Verhalten und der wirksamen Unterbrechung von Infektionsketten. | |
| Ende April steigen die Infektionszahlen nun zwar deutlich langsamer als | |
| Anfang April, aber dennoch steigen sie. Die aktuelle Inzidenz liegt laut | |
| Robert Koch-Institut bundesweit bei knapp 170. „Die Anwesenheit von B.1.1.7 | |
| ist nichts, womit man entschuldigen könnte, dass nicht früher gehandelt | |
| wurde“, sagt Leif-Erik Sander, Immunologe und Impfstoffexperte von der | |
| Berliner Charité. Impfungen, Maßnahmen und Testen betrachtet der Arzt und | |
| Forscher weiter als zentral, um die Situation zu bewältigen. | |
| Aus der dritten Welle werde man sich nun aber nicht mehr herausimpfen | |
| können – anders als etwa die Briten, die mit massiven Maßnahmen und einer | |
| rigorosen Impfkampagne ihre Inzidenz von mehr als 600 im Januar auf jetzt | |
| knapp 25 (Stand Ende April) gesenkt haben. | |
| „Und wir sehen auf den Intensivstationen bei uns jetzt sehr klar die neuen | |
| Verläufe“, sagt der Mediziner. Es gebe mehr jüngere Patienten, die oft | |
| längere Zeit intensiv betreut werden müssten. Die Versorgungssituation | |
| durch Medikamente und Therapien habe sich durch mehr als ein Jahr | |
| Behandlungserfahrung dabei zwar verbessert, allerdings sei für das | |
| Überleben der Patienten stets und überall ein anderer Faktor entscheidend, | |
| nämlich die Kapazität an Intensivpersonal und medizinischer Ausstattung. | |
| „Wir sind hier schon längst nicht mehr in der Situation, in der wir noch zu | |
| Beginn der Pandemie waren“, sagt Sander. Damals habe man noch mit mehreren | |
| Ärzten um einen Covidpatienten gestanden und sich ausgiebig kümmern | |
| können. Das sei angesichts der hohen Inzidenz nun nicht mehr der Fall. Mehr | |
| als jeder andere Faktor trage die Überlastung der Krankenhäuser zur | |
| Sterblichkeit bei. | |
| 26 Apr 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Aktion-allesdichtmachen/!5762747 | |
| [2] /Dramatische-Infektionszahlen-in-Indien/!5762543 | |
| ## AUTOREN | |
| Kathrin Zinkant | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| GNS | |
| Immunität | |
| Impfung | |
| Pandemie | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Veddel | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Keine Corona-Zahlen mehr am Wochenende: Ein fatales Datenloch | |
| Das RKI wird künftig nur noch montags bis freitags die Corona-Fallzahlen | |
| kundtun. Ein gefährlicher Schritt – der Tür und Tor für Spekulationen | |
| öffnet. | |
| Versäumnisse in der Coronaforschung: Es fehlen die Daten | |
| Über ein Jahr schon versetzt uns Covid-19 in den Ausnahmezustand. Viele | |
| Fragen hätte die Wissenschaft schon längst beantworten können. | |
| Aktuelle Nachrichten in der Coronakrise: Merkel macht keine EM-Hoffnung | |
| In einem Bürger*innendialog sichert die Kanzlerin aber der | |
| Kulturbranche weitere Hilfen zu. Die Beschlüsse des Impfgipfels vom Montag | |
| erhalten Kritik. | |
| Neue Impf-Priorisierung gefordert: Impfoffensive für Arme | |
| In Hamburg fordert ein linkes Gesundheitszentrum eine Corona-Impfoffensive | |
| für die sozial benachteiligte Veddel. Aber die Sozialbehörde winkt ab. | |
| Aktuelle Nachrichten in der Coronakrise: Vermehrt Klagen gegen Notbremse | |
| Auch die FDP hat eine Verfassungsklage gegen das neue | |
| Infektionsschutzgesetz eingereicht. Die EU-Kommission verklagt Astrazeneca | |
| wegen Lieferverzögerungen. | |
| Dramatische Infektionszahlen in Indien: Gesundheitssystem überlastet | |
| Die zweite Coronawelle trifft Indien mit voller Wucht. Ärzt:innen | |
| schlagen Alarm. Deutschland und die Europäische Union versprechen Hilfe. |