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# taz.de -- Veränderungen durch die Pandemie: Was bleibt nach Corona?
> Covid-19 hat unser Leben verändert. Ein Blick auf acht Bereiche, in denen
> das Neue die Pandemie überdauern könnte.
Bild: Neues Publikum: Dänische Studierende spielen im April 2021 Cello für K�…
Corona tritt – zumindest in unseren Breiten – in eine neue Phase ein. Mehr
und mehr Menschen werden geimpft, erste Versuche sind zu beobachten, das
alte Leben aus der Zeit vor der Pandemie wieder zurückzugewinnen: Cafés
öffnen ihre Terrassen, die Frage, was Geimpfte und Genesene künftig
gegenüber Nichtgeimpften tun dürfen, ist konkret geworden. Zeit also, eine
Bilanz zu ziehen: Wir arbeiten anders, wir gehen anders miteinander um,
wir bewegen uns anders, wir erleben, wie sich Altgewohntes neu denken
lässt. Was davon könnte bleiben?
## Die Wissenschaft
Was wäre man ohne sie gewesen – ohne Christian Drosten, Viola Priesemann,
Isabella Eckerle, Michael Meyer-Hermann und Karl Lau… aber nein, der ist ja
Politiker. Es waren aber die Wissenschaftler:innen, die der Öffentlichkeit
in der Pandemie geholfen haben zu verstehen, was gerade passiert. Die Rede
und Antwort standen, erklärten, oft auch Konsequenzen benannten. Nie zuvor
hat die Wissenschaft eine so zentrale Rolle für die Bevölkerung gespielt,
ist die Bedeutung der Forschung so sichtbar geworden. Nicht selten ist nun
zu hören, dass die Akzeptanz gegenüber der Wissenschaft an Corona genesen
ist.
Aber man darf sich nichts vormachen. Das Virus hat nicht nur geeint, es hat
auch massive Verständigungsprobleme und falsche Rollenvorstellungen im
Verhältnis Öffentlichkeit und Forschung offengelegt, an denen in Zukunft zu
knabbern sein wird. Die Wissenschaft hat zu lange versäumt, ein halbwegs
realistisches und selbstkritisches Bild von sich zu vermitteln und damit
die Gesellschaft zu wappnen für das Labyrinth der pandemischen
Erkenntnissuche.
Das rächt sich jetzt. Vor allem zwei Dinge blieben von Teilen der
Öffentlichkeit unverstanden. Da ist zuerst die Vorläufigkeit
wissenschaftlicher Erkenntnisse, die oft zu Widersprüchen führt und
keinesfalls dazu taugt, endgültige Schlüsse zu ziehen. Ein Beispiel ist die
Debatte um Kinder als „Pandemietreiber“. Aus einem Wirrwar ungeprüfter,
vorpublizierter Studien, Preprints genannt, pickten sich
Schulöffnungsbefürworter:innen genauso Belege für ihre Position heraus wie
die Gegner:innen von Schulöffnungen.
Die Folge waren verhärtete Fronten, aber kein Erkenntnisgewinn. All jene
offenen Fragen, die normalerweise im wissenschaftlichen Prozess diskutiert
werden und damit eine Sortierfunktion im Wust der Studien ausüben, fielen
in dieser öffentlich geführten Diskussion einfach weg. Kein Wunder, es
fehlte ja jede Erfahrung mit solchen Vorläufigkeiten.
Ein zweiter Umstand wiegt womöglich noch schwerer: der, dass
Wissenschaftler:innen Menschen sind. Nicht jeder Mensch ist selbstlos
und klug. Auch manch Professor:in ist eitel, obgleich mäßig kompetent –
und drängt ins Fernsehen, wenn sich die Chance bietet. So entstehen
Expert:innen, die keine sind, und die qua Titel dennoch in Position
gebracht werden, wenn Forscher:innen mit Kenntnis und Erfahrung
unangenehme Tatsachen aussprechen. So werden Expertenkriege stilisiert, die
keine sind.
Die wissenschaftlichen Organisationen werden sich nach der Pandemie nicht
darauf ausruhen können, einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung des Virus
geleistet zu haben. Selbst wenn Letzteres fraglos Tatsache ist.
Kathrin Zinkant
## Das Miteinander
Wenn es in Beziehungen Konflikte gibt, dann dreht es sich meist um Fragen
der Macht oder um solche von Nähe und Distanz. Häufig sind zu viel Nähe
und zu wenig Distanz das Problem. Und dieses Problem ist uns in der
Coronazeit abhanden gekommen, so wir nicht „einem Haushalt“ entstammen und
einander ständig auf der Pelle hocken: Anstatt einander die Hände zu
reichen, touchieren wir uns mit harten Knochen. Den Knöcheln oder den
Ellbogen.
Distanzierter, steifer geht’s nicht, außer man ist Hamburger Pfeffersack
oder ostfriesischer Leuchtturmwärter. Und das ist wirklich ein Drama,
hatten wir uns doch hierzulande gerade erst erfolgreich mediterranisiert.
Legendär die Usus gewordenen ellenlangen Begrüßungs- und vor allem die
Abschiedsrituale in Freundes- und sogar Kolleg:innenkreisen. Ein einziges,
endloses Gedrücke, sich in den Arm nehmen und sanft an der Schulter
berühren in engen Hausfluren und auf den Bürgersteigen vor gastronomischen
Einrichtungen, im Winter auch unter dem Heizpilz.
Nun reicht es also nicht einmal mehr für einen
ostdeutsch-protestantisch-proletarischen Händedruck. Ganz zu schweigen von
Münchner Gesellschaftsküssen, die angesichts der auftretenden Aerosolwirbel
fast schon als justiziabel gelten.
Was kommt als Nächstes? Die Rückkehr zu militärischen Begrüßungsformen aus
der Kaiserzeit? Salutieren? Sich an den Hut tippen? Den rechten Arm
hochreißen?
Als wir noch nicht von Öffnungsorgien träumten, hatten wir einfach welche.
Schubberten aneinander bei überfüllten Konzerten, drängten uns durch Mengen
feuchtwarmer Körper auf Tanzflächen und inhalierten fröhlich die Alkohol
gesättigten Ausdünstungen der Nachbar-Nachtschwärmer:innen in schlecht
gelüfteten Etablissements. Menschen, die wir gelegentlich und in
gegenseitigem Einvernehmen auch drückten/knutschten/ableckten.
Nach einem Jahr Social Distancing können wir uns über zu viel Nähe nicht
mehr beklagen. Vielleicht haben wir gelernt, auch bei einem „harmlosen“
Schnupfen in Zukunft zu Hause zu bleiben, anstatt ins Büro zu rennen. Aber
ansonsten: Ringelpiez mit Anfassen! Bitte möglichst bald. Und viel.
Martin Reichert
## Die Arbeitswelt
Die Coronakrise zeigt Millionen von Angestellten und vielen
Arbeitgeber:innen: Arbeiten kann man auch zu Hause. Die Pandemie hat zu
einer enormen Stärkung des Homeoffice geführt – und laut Studien steigen
Arbeitszufriedenheit und Produktivität von Beschäftigten dort. Davon
profitieren auch Unternehmen. „Beschäftigte schätzen die Selbstbestimmung
als größten Vorteil“, sagt die Soziologin Ivonne Lott von der
gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung.
Das gilt allerdings nur, wenn die Arbeit zu Hause freiwillig und nicht
verordnet ist. Die größere Flexibilität ist ein wichtiger Punkt: Wer im
Homeoffice ist, kann schnell reagieren, wenn das Kind krank von der Kita
abgeholt werden muss und keine lange Anfahrt nötig ist. Frauen nutzen
Homeoffice anders als Männer, weiß die Soziologin. „Weil Frauen immer noch
den Löwenanteil der Sorgearbeit tragen, ist ihr Arbeitsalltag
zersplitterter“, berichtet sie.
Doch die neue Arbeitswelt hat auch eine Kehrseite. „Fehlt die räumliche
Trennung, schwappt die Arbeit schnell ins Privatleben“, sagt Lott.
Beschäftigte können schlechter abschalten, der Kontakt zu den
Kolleg:innen fehlt.
Um das Positive nach der Pandemie zu erhalten, muss eine gute Mischung
zwischen Präsenzarbeit und Homeoffice gefunden werden, sagt Lott. Sie
plädiert dafür, das Recht auf Homeoffice zu verankern, damit die Arbeit von
zu Hause aus als etwas Normales empfunden wird. Denn nur dann können
Beschäftigte entspannt arbeiten und fühlen sich nicht unter
Rechtfertigungsdruck. Betriebliche Regelungen sind erforderlich, etwa um
eine gute Balance zwischen Privatleben und Arbeit zu gewährleisten.
Besprechungen via Internet sind seit 20 Jahren möglich, haben aber erst
jetzt weite Verbreitung gefunden. Nach Corona werden Videokonferenzen
Geschäftsreisen ersetzen. Künftig wird in Deutschland im Vergleich zu 2019
ein Drittel aller Dienstreisen entfallen, erwarten
Wissenschaftler:innen des Berliner Borderstep-Instituts für Innovation
und Nachhaltigkeit. Sie haben im Auftrag des Verkehrsclubs Deutschland
(VCD) Geschäftsleute befragt, wie oft sie bisher aus dienstlichen Gründen
gereist sind und was sie für die Zukunft erwarten. Da die meisten
Dienstreisen mit dem Auto oder dem Flugzeug erfolgen, würde bei einem
Rückgang um ein Drittel ein CO2-Ausstoß von 3 Millionen Tonnen vermieden,
sagen die Forscher:innen.
Anja Krüger
## Die Live-Politik
Wer früher Phoenix guckte, hatte auch ein Abo von c’t („Magazin für
Computertechnik“), trug Bundfaltenhosen und sammelte Spielzeugpanzer. Alle
anderen interessierten sich nicht für die Live-Übertragungen aus den
Plenarsälen von Schwerin oder Berlin. Ich konnte stundenlang die russische
Invasion in Grosny während des Ersten Tschetschenienkrieges in
mitternächtlichen TV-Livestreams gucken. Aber ich entwickelte Antikörper
und Abwehrsymptome, wenn ich Berufspolitiker:innen mit ihren
rudernden Armen, kieksenden Stimmen und drohenden Zeigefingern sprechen
hörte, die ihre Sätze immer mit einem donnernden „meine Damen und Herren“
beendeten.
Heute aber bin ich polytoxikomaner PK-Junkie. Durch die unfreiwillige
Teilnahme an drei Ausnahmezuständen (Brexit, Trump, Corona) sind Leute wie
ich zu Bingewatchern von Plenardebatten, parlamentarischen Anhörungen und
Ausschusssitzungen geworden. Die Livestreams des britischen Parlaments, des
Weißen Hauses, des Bundestags, der Bundespressekonferenz oder die
Pressekonferenzen der Ministerpräsidentenkonferenzen – ich sauge alles ein.
Das pandemische Politik-Bingen bietet alles, was gute Politserien auch
bieten: neben ambivalenten Charakteren (Armin, Markus, Manuela) brutale
Machtkämpfe („Ich kann das“), tolle Cliffhänger (stundenlanges Starren auf
ein leeres Podium, wo die Kanzlerin die neuen Maßnahmen bekannt geben
soll), true crime (Maskenaffäre, Toilettenpapierhandel) und Kitsch
(„Tschüß. Mach’s gut und see you“).
Allerdings hat das pandemische Politik-Bingen sehr viel mit der Faszination
von Verkehrsunfällen zu tun. Nicht, weil die Berufspolitiker:innen
so tolle Sachen sagten, machten und um Entschuldigung und Nachsicht baten,
wurde man zum schwerstabhängigen PK-Konsumenten. Es war viel eher das
fassungslose Entsetzen darüber, dass nicht nur Wissenschaftler:innen
weniger wissen, als man so dachte, sondern dass
Berufspolitiker:innen noch viel weniger wissen, als man so dachte.
Dass Politiker:innen trotz jahrelanger Beteuerungen, für eine Pandemie
gerüstet zu sein, nicht wussten, was zu tun ist, ist aber nur ein Unfall
mit leichten Verletzungen. Der folgenreichere Crash liegt in der
Erkenntnis, dass Politiker:innen nicht wissen, wie sie diese
Unsicherheit so kommunizieren, dass sich der Respekt selbst der
wohlwollendsten ihrer Verfolger nicht in Spott, Verachtung und Bekämpfung
verwandelt. Das Ergebnis ist, dass ein fränkischer Hallodri es geschafft
hat, eine Umfragemehrheit davon zu überzeugen, dass er der Einzige ist, der
von Anfang an wusste, wie man den Laden zusammenhält.
Während ich dieses Textchen schreibe, habe ich einen Livestream
angeschaltet, der die PK der CSU-Fraktionsklausur überträgt. Ich hoffe,
dass ich diese Sucht auch wieder abschalten kann. Denn vielleicht ist der
fränkische Hallodri nur deswegen so erfolgreich, weil Leute wie ich ihn im
Livestream verfolgen. Vielleicht werden Leute wie er erst wieder an
Umfragewerten einbüßen, wenn Leute wie ich wieder weniger Pressekonferenzen
und Ausschusssitzungen bingen.
Doris Akrap
## Der Straßenverkehr
Das Wesen der Pop-up-Bikelane ist es, dass sie plötzlich auftauchte, wie
über Nacht, und wahrscheinlich kam sie wirklich über Nacht, denn
Straßenarbeiten werden ja für gewöhnlich nachts erledigt, um den
Autoverkehr nicht zu behindern. Hier war es nur so, dass nach dieser Nacht,
in der die Pop-up-Bikelane kam, der Autoverkehr sich dauerhaft würde
einschränken müssen.
So schnell kamen diese Lanes, dass die Zeit sogar zu knapp war, einen
passenden deutschsprachigen Namen zu finden, deshalb benutzen nun alle den
englischen Begriff. Aufgeploppte Fahrradspur würde passen, aber dafür ist
es jetzt zu spät, zumal diese Straßenräume, die mittels gelber Linien oder
rot-weiß gestreifter Baken dem Autoverkehr abgeknapst wurden, zumindest in
Berlin verstetigt werden. Die bleiben, und damit ist klar, dass die
Mobilität mittels Fahrrad eindeutig gewonnen hat durch die Coronapandemie.
Wobei natürlich auch der Autoverkehr gewonnen hat, so muss man es sehen.
Der hat zwar nun weniger Platz, aber die Räume sind klarer verteilt, Räder
und Autos kommen sich nicht mehr so leicht ins Gehege, das schafft weniger
Streit, weniger Stress, weniger brenzlige Situationen – mehr Sicherheit für
alle.
Es war Felix Weisbrich, der inzwischen weltberühmte Leiter des Straßen- und
Grünflächenamtes im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg von Berlin, der die
Idee hatte, angesichts der coronabedingt geltenden Abstandsregeln den Raum
für die steigende Anzahl von Radfahrern zu vergrößern. Ein Verwaltungsmann
also, der aufgrund tiefer Kenntnis diverser Gesetzestexte einen schließlich
auch gerichtsfesten Weg fand, das zu tun, wofür „die Politik“ in
langwierigen Prozessen unendlich viel mehr Zeit benötigt hätte.
Selten hat jemand aus einer Krisensituation heraus so klug und der Zukunft
zugewandt gehandelt wie Weisbrich. Vielleicht ist so etwas beispielgebend
auch für andere Amtsleute.
Felix Zimmermann
## Die Maske
Wer den kulturellen Chauvinismus der westlichen Welt verstehen will, soll
sich den Eiertanz ums Maskentragen anschauen. Da waren sich noch im
Frühjahr 2020 Leute [1][wie Michael Ryan], der Nothilfedirektor der
Weltgesundheitsbehörde WHO, [2][aber auch Lothar Wieler], Präsident des
[3][Robert-Koch-Institut]s, und der Gesundheitsminister [4][Jens Spahn]
sicher, dass es nichts bringt, in einer Pandemie Mund und Nase zu bedecken.
Was sie damit zum Ausdruck brachten: Länder wie China, Japan, Korea, wo es
selbstverständlich ist, Mund und Nase zu bedenken, wenn man erkältet
unterwegs ist, zählen nicht. Wie man so etwas nennt? Kulturelle Arroganz
wohl.
Das wirklich Gute: Millionen Frauen weltweit haben sich dennoch hingesetzt
und Mund-Nasen-Bedeckungen genäht, trotz solch unbewiesener Behauptungen
bezüglich deren Nutzlosigkeit. Die Frauen haben es getan, weil sie etwas
tun wollten, um ihre Familien zu schützen, weil sie gesehen haben, wie sehr
die Krankenschwestern in den Hospitälern unter dem Maskenmangel litten.
Erst als die ersten Studien nachgewiesen hatten, dass Masken schützen,
änderte sich die Rhetorik von Politiker:innen, dem RKI, der WHO. Und was
kriegten die Studien raus? Mund-Nasen-Bedeckungen schützen erheblich. Sie
schützen nicht nur die anderen, sondern auch die Leute, die sie tragen. Die
Selbstgenähten der Frauen [5][schnitten dabei so gut ab] wie medizinische
Masken, wenn sie aus Baumwolle oder Seide und mehrlagig waren.
Das wiederum hat die Politiker hierzulande nicht davon abgehalten, im Laufe
der Pandemie anzuordnen, dass nur noch industriell gefertigte OP-Masken,
die den selbstgenähten in der Wirkung bestenfalls gleich sind, oder
FFP2-Masken getragen werden dürfen.
Der Vorteil für einige Politiker der CDU dabei: Sie konnten mit diesen
Masken dank Provisionen viel Geld verdienen. Im Umkehrschluss haben sie
damit die Leistungen der nähenden Frauen klein gemacht. Aber das gehört zum
westlichen Kulturchauvinismus dazu, dass Leistungen von Frauen weniger
zählen.
Wie wirksam das Maskentragen und die Hygienemaßnahmen sind, zeigt sich nun
zudem daran, dass die normale Influenza dieses Jahr so gut wie ausgeblieben
ist. Laut RKI gab es in der laufenden Grippesaison 2020/2021 bis Ende April
[6][541 Influenza-Fälle]. Vor einem Jahr waren es über 185.000.
Daraus könnte abgeleitet werden: Wer in Zukunft eine Erkältung oder Grippe
hat, soll, so er oder sie unterwegs ist, Nase und Mund bedecken. Gut
möglich, dass es in den westlichen Ländern jedoch nicht so weit kommt. Weil
das erneut einen Kniefall vor der Kultur Asiens bedeutete. Es sei denn,
dass auch dieses Mal die Frauen ihre selbstgenähten Masken hervorholen und
sich und andere damit schützen. Unter dem Hashtag
#FrauenhörennichtaufMänner sollte das die Runde machen.
Waltraud Schwab
## Die kulturelle Teilhabe
Kunstwerke haben auch im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit
eine Rest-Aura. Das jedenfalls bewirkten etwa 100 Jahre nach dem
Benjamin’schen Diktum über den Aura-Verlust der Kunst die pandemiebedingten
Einschränkungen. Allein die Erinnerung an Ausstellungen, Theaterstücke oder
Konzerte trieb Tränen der Rührung in die Augenwinkel – ein indirekter
Aura-Beweis.
Kunstbegegnungen, wie wir sie kannten, fanden weitgehend nicht statt. Den
Ausstellungshäusern traute die kulturferne Politik nicht zu, die auch in
Normalzeiten oft überschaubaren Publika in meist mit sehr viel Luft
gefüllten Sälen unter Wahrung aller Abstandsregeln zu empfangen.
Theater und Konzertveranstalter waren noch stärker erschüttert. Denn ihre
Kunstformen setzen meist auf Versammlungen von eher vielen Menschen
Schulter an Schulter, Mund an Nacken. Diese Not führte zur Entwicklung
diverser digitaler Bühnen: Livekommunikation mithilfe von
Messengerdiensten und Videokonferenzen, Aufführungen in virtueller und
erweiterter Realität. Geteilte Zeit statt gemeinsam besuchter Ort war hier
oft das Motto. In Hybridmodellen, mit Handy oder Laptop zu Hause, unterwegs
oder in einem Theaterbau wären solche Praktiken auch über die Pandemie
hinaus reizvoll.
Das größte Potenzial verspricht für das Theater die erweiterte Realität.
Bühnen- oder Stadträume können digital überschrieben werden. Das klassische
Format des Audiowalks erfährt so seine dreidimensionale Erweiterung.
Abzusehen ist, dass die alte Bühnen- und Konzertrealität mit ihrem
ausdifferenzierten System an geförderten Institutionen,
privatwirtschaftlich agierenden Unternehmer*innen und frei
flottierenden Künstler*innen nach der ultimativen Öffnung so nicht
wiederkehrt. Zwei Unsicherheitsfaktoren belasten die Branche: Wie viele
Leute trauen sich überhaupt wieder in geschlossene Räume mit vielen
anderen? Und als wie wichtig wird nach dem postpandemischen Kassensturz
Kulturförderung eingeschätzt? Angesichts des marginalen Stellenwerts von
Kultur schon während der Pandemie droht eine neue Kahlschlagswelle. Und der
Mensch selbst läuft Gefahr, als Kulturwesen zu verkümmern.
Tom Mustroph
## Die Arznei-Entwicklung
Als der Krebsforscher und Biontech-Gründer Uğur Şahin Ende August 2020 nach
der Zukunft der Arzneimittelentwicklung gefragt wurde, war das neue
Coronavirus gerade mal acht Monate bekannt – und das Covid-Vakzin des
Mainzer Unternehmens schon fast auf dem Weg zur Zulassung.
Impfstoffe sind eine, wenn nicht die Erfolgsgeschichte der Pandemie. Corona
hat die Translation von Forschung in die Klinik, die sonst bis zu 15 Jahre
Zeit erfordert, auf die Dauer von einem Jahr zusammenschnurren lassen. Ein
Exempel, geboren natürlich aus der Not.
Dennoch ist klar, dass dieses Beispiel für die Pharmaindustrie Folgen haben
wird. Zumindest steht nicht nur für Şahin fest, dass die Entwicklung von
Arzneimitteln schneller werden muss. Kontrolle ja, natürlich. Aber weniger
bürokratische Hürden, mehr Ressourcen, weniger Wartezeiten im
Zulassungsverfahren – damit könnte es in Zukunft schneller gehen, und das
nicht nur bei der Entwicklung von Impfstoffen.
Für hochentwickelte Industriestaaten mag diese Perspektive so
funktionieren, zumal neue Technologien hier schon existieren und auch
umgesetzt werden können. Dennoch zeigt die Krise aktuell sehr deutlich,
woran es mangelt und weiter mangeln wird, wenn allein der
Translations-Turbo eingelegt wird.
Indien etwa befindet sich seit März im pandemischen Ausnahmezustand mit
offiziell Hunderttausenden Neuinfektionen täglich, Dunkelziffer unbekannt.
Befördert wird die zweite Welle nicht zuletzt dadurch, dass das Land mit
der weltweit viertgrößten Produktion von Covid-Impfstoffen fast keine
Coronavakzine für seine Bevölkerung hat.
Nicht einmal zehn Prozent der Inder:innen sind einfach geimpft, mehr als
neunzig Prozent der knapp 1,4 Milliarden Menschen dort sind dem Virus
schutzlos ausgeliefert. Zu allem Überfluss verbreitet sich in Indien eine
mutmaßlich sehr ansteckende Variante von Sars-CoV-2 besonders rasant.
Viele andere Entwicklungs- und Schwellenländer erleben ähnliche
Gemengelagen aus starker Virusverbreitung, Mutantenbildung und zugleich
sehr niedriger Impfquote.
Für Gerechtigkeit, was den Zugang zu Arzneien angeht, nicht nur während
einer Pandemie, sind deshalb auch politische und wirtschaftliche
Veränderungen nötig, die sich auch nicht in der zeitweisen Aufhebung des
Patentschutzes erschöpfen können.
Denn was soll ein Staat wie Indien mit einem Kochrezept für einen modernen,
aber empfindlichen Impfstoff wie jenem von Biontech – wenn weder die
nötigen Rohstoffe, noch Speziallabors noch Kühlketten für Herstellung und
Transport im Land selbst verfügbar sind?
Kathrin Zinkant
15 May 2021
## LINKS
[1] https://www.allgaeuer-zeitung.de/leben/rki-nur-541-influenza-f%C3%A4lle-sei…
[2] https://www.facebook.com/watch/?v=728814587525394
[3] https://www.nzz.ch/international/hat-das-rki-im-kampf-gegen-corona-versagt-…
[4] https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2020/03/31/spahn-und…
[5] https://www.apotheke-adhoc.de/nachrichten/detail/coronavirus/studie-zu-mund…
[6] https://www.allgaeuer-zeitung.de/leben/rki-nur-541-influenza-f%C3%A4lle-sei…
## AUTOREN
Martin Reichert
Waltraud Schwab
Felix Zimmermann
Doris Akrap
Kathrin Zinkant
Anja Krüger
Tom Mustroph
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