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# taz.de -- Kolumne Immer bereit: Jammern ist ein Privileg
> Mütterhass ist die konsensfähigste Form der Frauenverachtung.
> taz-Kolumnistin Lea Streisand rät Müttern gerade deshalb zum öffentlichen
> Jammern.
Bild: Immer voll im Stress: Mutter
Dieses Jahr hab ich den Muttertag damit verbracht, über den Begriff
Care-Arbeit zu diskutieren. Allein unterm Sonnenschirm im Schrebergarten,
während mein Kind im Häuschen mittagsschlief. Auf Twitter. Anlass war ein
sehr kurzer Text aus der Kategorie „Hab dich nicht so!“ Ein Text darüber,
dass Mütter nicht jammern sollen, wenn ihnen Kinder und Haushalt zu viel
werden.
In der an diesen Text anschließenden Debatte hieß es dann, im Krieg, in der
DDR, im Senegal hätten die Frauen es viel schwerer (gehabt). Hätten sich
die Frauen mal bessere Männer/Jobs/Kondome besorgt. Hätte, hätte,
Fahrradkette. Interessant war, dass diese Position vor allem von Ostfrauen
gestützt wurde, die über „westdeutsche Mittelschichtsmütter aus Prenzlauer
Berg“ schimpften.
Meine Tante Erna ist zwar nicht auf Twitter, aber bei den entsprechenden
Schlagworten mittenmang dabei. „Latte-macchiato-Mütter“,
„1.000-Euro-Kinderwagen“. Zu sichtbar seien die Mütter, in allem, was sie
tun, ob sie stillen, einkaufen oder im Park auf Bänken sitzen. „Die gehen
ja nicht mal arbeiten!“ So der Vorwurf.
„Na, vielleicht sind die in Elternzeit“, sagte ich, „vielleicht sind sie
mit ihren Kindern zu Hause wegen Corona. Vielleicht sind sie einfach müde.
Und vielleicht geht der berühmte Satz „Lassen Sie mich durch, ich bin
Mutter!“ weiter mit: „Mein Kind liegt zu Hause mit Fieber im Bett / fällt
da hinten gleich ins Wasser / hat sich wehgetan und ruft nach mir.“
## Superheldin Ostfrau
Tante Erna macht es sich einfach. Mütter, die sie mag, sind aus dem Osten;
Mütter, die sie nerven, sind Zugezogene aus den alten Bundesländern. Die
Annahme lässt sich meist nicht verifizieren und trotzdem hat sie (wie jedes
simple Erklärmodell) zahlreiche Anhänger. So als wären Ostfrauen per se
Powerfrauen, unzerstörbare Superheldinnen, die nie gejammert, sondern immer
weitergemacht haben.
Eine befreundete dreifache Alleinerziehende der Tantengeneration (voll
berufstätig) hat mir erzählt, dass sie irgendwann Mitte der Neunziger
morgens in ihrer Küche saß und ihren Kaffee verplemperte, weil ihre Hände
so zitterten. „Ick hatte mir bei dem janzen Stress abends immer mal ’n
Kurzen jenehmigt. Zum Entspannen. Und dann wurden es mehr. Und die Frauen,
die mit mir Schicht arbeiteten, hatten auch immer watt dabei. Ditt haben
wir uns denn in die Thermoskanne gekippt. Um durchzuhalten.“
Heute darf man laut sagen, dass man erschöpft ist. Und muss sich nicht mehr
heimlich mit Schnaps betäuben. Sogar als Mutter. Mareice Kaiser hat ein
ganzes Buch über „Das Unwohlsein der modernen Mutter“ geschrieben, über d…
alltägliche Zuwenig (Zeit, Geld, Schlaf, Hilfe) und das Zuviel
(Verantwortung, Erwartung, Schuld, Häme), das man als Mutter eben so
abbekommt beziehungsweise nicht abbekommt, und die gesellschaftlichen
Strukturen dahinter.
Mütterhass ist die konsensfähigste Form der Frauenverachtung. Mütter machen
sowieso alles falsch. Das Ideal war immer die unsichtbare Mutter, die
Projektionsfläche, das gütige gebende Gefäß für die Schwangerschaft, die
heilige Maria, Mutter Gottes. Nicht mal Sex hat sie gehabt und später hat
sie sich aufgelöst, wurde erhöht, sitzt nun zur Rechten Gottes. Zu ihr
beten die Katholiken: „Bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres
Todes!“ Nicht zu Gott, Jesus oder irgendeiner anderen Männerfigur, zur
Mutti. Die Mutti macht das. Die Mutti hilft und klagt nicht.
Die westdeutsche Mutter in Prenzlauer Berg ist zur Personifizierung der
Gentrifizierung geworden. Durch fortwährende unaufhörliche Gebärtätigkeit
ist sie körperlich verantwortlich für die Wohnraumverknappung in der
Hauptstadt. Als die in Stuttgart geborene Schriftstellerin Anke Stelling
sich in einem Interview selbstironisch als „Chronistin des Prenzlauer Berg“
bezeichnete, entfachte sie einen Sturm der Empörung. „Kolonialliteratur“,
wurde gerufen.
Ich hab keinen Bock mehr, mir vorwerfen zu lassen, dass ich mit meinem Kind
heute anders umgehe als Mütter in der DDR 1976. Ich hätte nur gerne halb so
viele Betreuungsmöglichkeiten, wie es damals gab. Und mehr Geld für Eltern,
die in einer Woche wie dieser mit Feiertag in der Mitte und Kita zu
dieselbe Arbeit in der Hälfte der Zeit erledigen müssen.
Ich bin heilfroh, in einer Zeit zu leben, in der ein öffentlicher Diskurs
über Erschöpfung möglich ist und nicht sofort als Jammern ins Private
zurückdelegiert wird. Ich hätte es unseren Müttern gegönnt. Also jammert,
Mütter, jammert öffentlich! Jammern ist ein Privileg. Nutzt es!
16 May 2021
## AUTOREN
Lea Streisand
## TAGS
Kolumne Immer bereit
Mütter
DDR
Prenzlauer Berg
Kolumne Kinderspiel
Lesestück Recherche und Reportage
Kolumne Immer bereit
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