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# taz.de -- Radikalisierung einer Bewegung: Der Staat als Endgegner
> Teile der sogenannten Corona-Protestbewegung sind längst gewaltbereit.
> Hat ein Mann aus Franken einen Anschlag auf eine ICE-Strecke verübt?
Bild: Gefahr auf der Schiene: Ein Plakat mitten auf einer Trasse, die auch von …
Für Ronny Sauer beginnt der 6. Januar 2021 ganz normal. Es ist ein
Mittwoch, der Dreikönigstag ist hier im bayerischen Unterfranken ein
Feiertag. Sauer plant eine Radtour mit seiner Frau. Er weiß nicht, dass für
über 10.000 Menschen in Deutschland dieser Tag der sogenannte „D-Day 2.0“
ist: ein Aktionstag, dessen Name auf die Landung der Alliierten in der
Normandie am 6. Juni 1944 anspielt, den Tag also, an dem aus militärischer
Sicht der Anfang vom Ende des Zweiten Weltkriegs begann. Die „D-Day
2.0“-Aktivist*innen glauben, sich 2021 ebenfalls befreien zu müssen – von
einer vermeintlichen „Coronadiktatur“, einer angeblich von „der Elite“
gesteuerten „Plandemie“. Ihre Protestmittel: Autokorsos, Plakate, mit
„Wacht auf!“-Botschaften versehene Geldscheine.
Ronny Sauer und seine Frau werden an diesem Tag Zeug*innen der vermutlich
folgenreichsten Aktion des „D-Day 2.0“. Einer Aktion, die Menschenleben
gefährdet. Auf dem letzten Kilometer ihrer Radtour, zwischen den Dörfern
Waigolshausen und Gemünden, stoppen sie in der Dämmerung die Räder. Neben
dem Radweg, mitten auf den Gleisen, einer zu der Zeit auch von ICEs
genutzten Trasse, steht ein wackelig gezimmerter Rahmen aus Holzlatten,
etwa ein Meter fünfzig hoch. Darauf ist ein weißes Tuch gespannt, in
signalroter Farbe steht darauf geschrieben: „Diesesmal FAKE“. Eine
Botschaft? Eine Drohung? Ein Verweis auf ein nächstes Mal?
Ronny Sauer steigt in das Gleisbett und macht ein Foto. Er baut das
Hindernis ab, fährt nach Hause und ruft bei der örtlichen Polizeiwache an.
Zehn Minuten später bekommt er einen Anruf von der Bundespolizei, ob er
noch mal zum Fundort kommen könne, erzählt er im März der taz. Die Polizei
ist im Großeinsatz. Das Plakat, das Sauer gefunden hat, war nicht das
einzige. Ein paar Kilometer weiter fährt ein ICE in ein ähnliches
Hindernis. Der Zugführer leitet eine Notbremsung ein, der Triebwagen wird
beschädigt, Bahnpersonal und Reisende bleiben unverletzt. Wegen der
Botschaften auf den Plakaten, die zusammengenommen womöglich einen Satz
ergeben, halten die Ermittler*innen die Tat für politisch motiviert.
Eine Sonderkommission wird einberufen, der Tatbestand: „Gefährlicher
Eingriff in den Schienenverkehr“.
## Länderübergreifend radikal
Seit Wochen haben sich Angehörige der Corona-Protestbewegung auf Telegram
auf ihren „D-Day 2.0“ vorbereitet, in lokalen Gruppen vernetzt, Aktionen
geplant und Stimmung mit NS-Vergleichen und Verschwörungserzählungen
gemacht. „Waltraud xxx“ schreibt: „Bedenkt immer wieder: Wir müssen
aufpassen, dass wir, ja wie soll ich uns nennen, die ‚Erwachten‘ nicht in
Krieg mit den ‚Noch-Nicht-Erwachten‘ treten, das ist ja genau, was die da
oben wollen.“
Diese Radikalisierung der Proteste gegen die Coronapolitik findet auch
außerhalb Deutschlands statt: In Österreich nannte Gesundheitsminister
Rudolf Anschober von den Grünen bei seinem Rücktritt am Dienstag vor einer
Woche neben gesundheitlichen Problemen auch die Bedrohung durch
Coronaleugner als einen Grund, weshalb er sich aus der Politik zurückziehe.
Seit vergangenem November stand er wegen Morddrohungen unter Polizeischutz.
Für ihn war seit dem Herbst „spürbar, dass die Aggressivität zugenommen hat
von einem kleinen Bereich der Coronaleugner“, sagte Anschober bei seinem
Rücktritt.
Die zunehmende Aggressivität der Coronaleugner zeigt sich in der
österreichischen Bundeshauptstadt Wien auch im öffentlichen Raum. Das
Wien-Museum zeigte auf Bauzäunen am Karlsplatz im Zentrum der Stadt eine
Ausstellung mit Porträts von 18 Personen mit Maske, die in kurzen Texten zu
den Bildern beschreiben, wie sie die Zeit des ersten Lockdowns im Frühjahr
2020 erlebt hatten. „Wir haben schon damit gerechnet, dass es hie und da
Beschmierungen geben wird, aber das ist völlig eskaliert“, sagt
Ausstellungskurator Peter Stuiber. „Die Anti-Corona-Demonstranten, die sich
regelmäßig am Karlsplatz trafen, fühlten sich davon total provoziert.“ Nach
jeder Demo war die Ausstellung völlig zerstört. „Plandemic“ war auf die
Bilder geschmiert, „und dazu Hakenkreuze, George-Soros-Beschimpfung und was
es sonst noch alles an Antisemitismus und Weltverschwörung gibt“.
In der Schweiz kündigten Angehörige der Protestbewegung im Dezember an,
nach einer Demonstration in die Notfallstation des Universitätsspitals
Zürich (USP) einzudringen. Sie wollten dort „nachsehen“, wie viele
Covid-19-Patient*innen dort „tatsächlich“ liegen. Zuvor hatten
Chefärzt*innen des USP vor einer Überlastung der Krankenhäuser durch
Covid-Patient*innen gewarnt. Das Krankenhaus musste seine
Sicherheitsmaßnahmen verstärken, die Aktion fand letztlich nicht statt.
## Die Spur führt in die Protestbewegung
In Unterfranken bestärkt schließlich ein Hinweis aus der Bevölkerung die
Soko „Werntal“ in ihrem Verdacht: Die Spur führt in die
Corona-Protestbewegung und zu einem 36-Jährigen, der sich im Mai 2020 auf
einer Demonstration dem Publikum noch als besorgter Familienvater
vorstellte, als jemand, der „nur aufklären“ wolle, wie ein Youtube-Video
von der Demo zeigt. Der Mann, den die Soko „Werntal“ ins Visier nimmt,
heißt in diesem Text Johann Fischer. Seine Identität soll wegen der
laufenden Ermittlungen hier geheim bleiben.
An einem Mittwoch Ende März unterhält sich Fischer mit einem Kumpel an
einer Straßenecke, wenige Meter von seinem Wohnhaus in Unterfranken
entfernt. In dem Ort, in dem Fischer mit seiner Frau und den drei Kindern
lebt, hängen an den gelb blühenden Forsythien zwei Wochen vor Ostern bunte
Plastikeier in aufgeräumten Vorgärten. Im Dorf hat sich herumgesprochen,
dass eine Reporterin ihn sucht. Als Fischer sie sieht, richtet er sich
abrupt auf, Brust raus, Beine breit, stemmt die Arme in die Hüften und
poltert: „Was wollen Sie von mir?“ Fischer ist ein unauffälliger Mann, der
gern Minigolf und Fußball spielt, wie das Internet verrät. Er bestreitet
gegenüber der taz, etwas mit dem Plakat auf den Gleisen zu tun zu haben.
Sein Alibi aber möchte er nicht offenlegen, auf Anraten seiner Anwältin.
Die sei eine „Anwältin für Aufklärung“. Dabei handelt es sich um einen
Zusammenschluss von Jurist*innen, die vermeintlich vom „System“ verfolgten
Aktivist*innen der Coronaleugner-Bewegung mit Rat oder Rechtsbeistand
zur Seite zu stehen. Fischer sagt: „Es ist immer gut, gut vernetzt zu sein.
Wir haben für jedes Problem jemanden, der sich auskennt, und alle helfen
einander.“ Mit „wir“ meint Fischer die Bewegung. Jedem „wir“ verleiht…
Nachdruck. Auch als er sagt: „Wir lehnen Gewalt grundsätzlich ab.“ Und
tatsächlich wirkt er zunächst wie ein harmloser Familienvater, vielleicht
einer, der glaubt, Teil eines politischen Frühlings zu sein. Fischer hat
einen Mittelschulabschluss gemacht, dann folgte ein Job in der
Beschwerdeabteilung der Telekom, danach ein Job als Kundenbetreuer im
Sanitätshaus. 2012 nimmt er eine Anstellung an, die seinem Leben eine neue
Wendung zu geben scheint.
## Ein stolzer Reichsbürger?
Fischer wird Teil des Vertriebsteams eines international operierenden
Coaching-Unternehmens, das nun in Deutschland den Markt erobern will. In
Motivationsseminaren mit Namen wie „National Achievers Congress“ oder
„Millionaire Mind Intensive“ predigen Geschäftsmänner aus den USA ihre
Lehren vom Erfolgreichsein und Reichwerden. Fischer erzählt, er habe diese
Männer bewundert. Und auch im Team habe man sich viel über „die großen
Fragen des Lebens“ ausgetauscht.
Dort lernt Fischer auch die Weltanschauung jener kennen, die glauben,
Deutschland sei kein souveräner Staat, erinnert er sich. Personen also, die
der Verfassungsschutz der [1][rechtsextremistischen Gruppe sogenannter
Reichsbürger] und Selbstverwalter zuordnet. Stolz zeigt Fischer auf sein
„Sankt-Georgs-Band“, das er an seine Jacke geheftet hat. Eine
schwarz-orange gestreifte Stoffschleife, mit der in Russland an den Sieg im
Zweiten Weltkrieg erinnert wird. In Deutschland wiederum bringen
Reichsbürger mit dem Symbol ihre Verehrung Russlands als einziger Retter
des vermeintlich nicht legitimen deutschen Staats zum Ausdruck.
Der Politologe Jan Rathje schreibt in einem Buch über das
Reichsbürger-Milieu im Jahr 2017, dass „sich über die Jahre auch außerhalb
des organisierten extrem rechten Teils des Milieus die Bereitschaft
entwickelt hat, [2][auf terroristische Gewalt zurückzugreifen]“. Lange sei
die Szene wegen ihrer skurrilen Aktionen wie zum Beispiel der Abschottung
in eigene „Königreiche“ in der öffentlichen Wahrnehmung als eine Art
Realsatire verkannt worden. Dabei wohne dem „Wahn des bedrohten Deutschen“,
dem die Anhänger*innen der Reichsbürger-Verschwörungsideologie
verfielen, ein antisemitischer Mythos der „jüdischen Weltverschwörung“
inne. Auf die Frage, ob sich Fischer als Reichsbürger sehe, sagt er: „Wenn
die Definition eines Reichsbürgers ist, dass er die Souveränität des
deutschen Staats nicht anerkennt, dann ja.“
## Längst keine Einzelfälle mehr
Als die Pandemie kommt, wird Fischer zunächst in die Kurzarbeit gezwungen.
Er war von der Coaching-Branche in die Telekommunikation gewechselt, hatte
ein paar Jahre eine kleine Filiale eines Franchise-Mobilfunkfachgeschäfts
betrieben. Ende 2020 wird Fischer dann – aus betrieblichen Gründen, wie er
sagt – gekündigt. Der Protestbewegung schließt er sich bereits im April
2020 an, organisiert fortan kleine Demos in seinem Wohnort oder in der
nächstgrößeren Kreisstadt, spricht auf Kundgebungen, mal vor fünf, mal vor
50 Leuten. Dort sagt Fischer: „Ich bin ein normaler Bürger, so wie ihr
auch.“
Dass die aus der Pandemie geborene Protestbewegung immer radikaler wird,
macht nicht nur der Vorfall mit dem ICE deutlich. [3][Eine taz-Recherche
vom März] zeigt, dass bei der wachsenden Zahl der Delikte, die die
Sicherheitsbehörden zählen, nicht mehr von Einzelfällen gesprochen werden
kann. Kaum hatte die Bewegung nach dem Winter die Demo-Saison
wiedereröffnet, kam es im März in Dresden und Kassel zu gewaltsamen
Zusammenstößen mit der Polizei, die allein in Dresden 915 Platzverweise
verhängt und 47 Straftaten sowie zwölf verletzte Polizist*innen zählt.
Seit Kurzem werden in Hamburg und Berlin einzelne Gruppen der Bewegung vom
jeweiligen Verfassungsschutz als Verdachtsfall eingestuft.
Seit März führt das bayerische Landesamt die Beobachtung unter der
Kategorie „Sicherheitsgefährdende demokratiefeindliche Bestrebungen“.
Baden-Württemberg stufte „Querdenken -711“ bereits im Dezember als
Beobachtungsobjekt ein. Der Initiative „D-Day 2.0“ sagt die Behörde auf
seiner Webseite mit seinen „neuen Protestformen“ eine „extremistische
Einflussnahme auf das Corona-Protestgeschehen“ nach. Am 15. April sagte
Bundesinnenminister Horst Seehofer in Berlin, er rechne damit, dass die
Bewegung zukünftig bundesweit [4][zum Beobachtungsobjekt erklärt werde]. Es
ergebe keinen Sinn, „wenn wir nach jeder Entgleisung feststellen, es darf
sich nicht wiederholen, und es wiederholt sich dann doch“, sagte Seehofer
über die jüngsten Protestkundgebungen.
## In Chatgruppen wird der Holocaust geleugnet
In Fischers Wohnort erzähle man sich derweil auf dem Fußballplatz und im
Gemeinderat Dinge, die ein anderes Bild zeichneten als das des friedlichen
Familienvaters Johann Fischer, sagt Peter Hoffmann. Auch er heißt
eigentlich anders. Weil Hoffmann Sorge hat, aufgehetzte Anhänger*innen
der Coronabewegung könnten ihn bedrohen, möchte er anonym bleiben.
Hoffmann, 51 Jahre alt, ist Pfleger und beobachtet die Szene in seiner
Stadt seit der Kundgebung, auf der Fischer sprach. Er erinnere sich an den
heute 36-Jährigen aus ihrer gemeinsamen Zeit im Fußballverein. Da sei
Fischer vor ein paar Jahren aufgefallen, weil er auf Facebook immer wieder
Spieler aus einem anderen Verein verunglimpft habe, erzählt Hoffmann der
taz. Sie seien von „der Antifa verseucht“, habe Fischer behauptet. Für
Hoffmann ist Fischer jemand, der „beim kleinsten Funken Feuer fängt“.
Hoffmann und zwei Lokaljournalist*innen, die die Corona-Protestszene in
Unterfranken beobachten, gehen davon aus, dass Fischer 2020 eine
Telegramgruppe mit dem Namen „Corona Rebellen“ eröffnet hat. Dafür sprich…
dass die Posts des Gruppeninhabers teils identisch mit den Posts von
Fischer auf seinem Facebook-Profil sind, das er mit Klarnamen führt. Auch
dass der Gruppeninhaber in Sprachnachrichten von seinem Job in einem
Handyladen spricht, macht Fischer verdächtig. Es ist eine Filiale des
Unternehmens, bei dem auch er angestellt war, bis er seinen Job verlor.
200 Mitglieder zählt die Telegramgruppe Anfang Januar 2021, als eine Userin
darin offen den Holocaust leugnet und von „erstunkenen und erlogenen
Geschichtsbüchern“ schreibt, wie Screenshots belegen. Der Inhaber der
Gruppe reagiert weder mit Widerspruch noch mit einem Rauswurf der Userin.
Bis zum 12. Februar bleibt die Gruppe bestehen, kurz vor der Löschung hat
sie noch 180 Mitglieder.
## „Widerstand“ und „Endgame“
Schon vor der Pandemie wähnte sich Fischer „im Widerstand“ gegen „das
System“, wie sein Post von 2016 auf einer Facebook-Seite der Bundeswehr
zeigt. Dort schreibt er, es werde Zeit, dass auch deutsche Soldaten
Widerstand leisteten – „und zwar öffentlich! Wir brauchen EUCH! Steht auf
der richtigen Seite!!!“.
Kurz vor Weihnachten 2020 postet Fischer auf seinem Profil einen
dramaturgisch durchdachten Abschiedsbrief: Erst bleibt er vage, schreibt
von „nicht widerlegbaren Zeichen“. Dann holt er aus: „Es ist so weit, dav…
bin ich 100% überzeugt“, „Der DS {‚Deep State‘} wird fallen, oder aber…
werden fallen! It is the ENDGAME!“. Was im „Untergrund“ geplant werde,
stehe unmittelbar bevor, es werde „Verluste“ geben, „ABER: Wir werden
Siegen!“, „Ich sage nur: Tick, Tack … Tick, Tack“, „Frohe Weihnachten…
Johann“.
Es ist die Zeit, in der User*innen mit Namen wie „Widerstand
#MörderMerkel“ in der bayerischen „D-Day 2.0“-Gruppe die Corona-Impfung …
Josef Mengeles NS-Euthanasieverbrechen vergleichen. Auch Fischer ist Teil
der „D-Day 2.0“-Initiative, wie er der taz erzählt. Täglich telefoniere er
mit deren Kopf Markus Lowien. Ein Mann, der fast täglich in selbst
gedrehten Handyvideos Verschwörungserzählungen in die unzähligen
Telegramgruppen der Bewegung spült und dabei vom „Fall dieses kranken
Systems“ träumt. Stets mit dem Hinweis: Wer seinen Aktivismus unterstützen
will, [5][möge via Paypal spenden]. Auch Lowien trägt wie stets die
schwarz-orange Reichsbürger-Schleife.
Knapp zwei Wochen nach Fischers Facebook-Statement ist der große Tag
gekommen, der „D-Day 2.0“ am Dreikönigstag. Die größte geplante Aktion in
Fischers Nähe ist ein Autokorso in Würzburg. Der Aufruf wird in der „Corona
Rebellen“-Gruppe geteilt. Aber der Inhaber, mutmaßlich Fischer selbst, sagt
seine Teilnahme an der Aktion ab. Auf Facebook postet Fischer wiederum auf
seinem Profil: „Heute ab 16 Uhr – Wir werden zeigen, was ziviler Ungehorsam
ist“ mit einem Link zum Musikvideo von „The final Countdown“, wie ein
Screenshot zeigt, der der taz vorliegt. Heute ist dieser Facebook-Post vom
6. Januar nicht mehr auffindbar. Nur noch ein Tweet von Trump und zwei
Videos vom Sturm auf das US-Kapitol, die Fischer mit Party-Emojis postet,
sind geblieben.
Erst am Morgen des 10. Februar wird es ernst für Fischer. Die Soko
„Werntal“ hat einen Hinweis aus der Bevölkerung bekommen. Fischers Auto sei
am 6. Januar in der Nähe des Tatorts gesichtet worden, sagt Fischer selbst
der taz und behauptet, er wisse nicht mal, wo die Zugstrecke verlaufe. Den
Ermittler*innen aber reichen die Indizien. In den frühen Morgenstunden
durchsuchen mehrere Einheiten das Haus der Familie und beschlagnahmen
Handys, Laptops, Tablets. Fischer muss eine DNA- und eine Schriftprobe
abgeben. Der Polizei gegenüber macht er keine Aussage. Der taz sagt er:
„Sollen die mal ihren Job machen.“
## Wenn Zusammenhalt wichtiger wird als Fakten
Die Psychologin Michaela Pfundmair forscht zu Radikalisierungsprozessen.
Sie sagt, die Entstehung kleinerer Zellen könnte die Corona-Protestszene
zunehmend radikalisieren. Es bestehe die Gefahr, dass solche Zellen
Prozessen von Gruppendenken unterliegen. Da würden die Aufrechterhaltung
der Solidarität und der Zusammenhalt wichtiger als eine kritische
Betrachtung von Fakten. Dass Menschen das Bedürfnis haben, sich mit anderen
zusammenzutun, hänge mit der sozialen Identität zusammen, die alle Menschen
in Gruppen entwickelten – an sich ganz normales menschliches Verhalten.
Doch dort, wo radikale Ideen ausgetauscht würden, steige so das Risiko
einer Verfestigung dieser Ideen durch gruppendynamische Prozesse.
Gegenreden würden nicht mehr geduldet und ihre Urheber ausgeschlossen, zum
Schutz der Gruppe. „Der Zwang zu Konformismus kann wie ein Treiber der
Radikalisierung wirken“, sagt Pfundmair.
Nicht selten würden in diesen Gruppen immer extremere Äußerungen
hochgeschaukelt, was sich zum einen aus der Präsentation neuer Argumente,
zum anderen aus dem Bedürfnis nach sozialer Anerkennung speise. In dieser
Dynamik würden „Feinde“ oft dehumanisiert, was die Hemmschwelle für
Übergriffe sinken lasse.
Auch in Johann Fischers Reden und Tun findet sich ein starkes Bedürfnis
nach sozialer Anerkennung oder „Signifikanz“, wie es in der Psychologie
heißt. So sagt er der taz, Demonstrationen reichten ihm nicht mehr aus.
Leipzig sei ja noch „geil“ gewesen, denn da habe die eigentliche Demo „er…
nach der Demo angefangen“. Am 7. November 2020 war es in Leipzig zu
heftigen Zusammenstößen mit der Polizei gekommen, etwa 200 Hooligans,
darunter viele Rechtsradikale, führten den eigentlich bereits aufgelösten
Demozug Tausender Corona-Protestierender an, während die sichtlich
überforderten Sicherheitskräfte mehr zusahen als eingriffen. Fischer
findet, auf den meisten Demos werde „nur viel geredet“. Und wenn schon eine
Demo, dann müsse sie groß sein. So plante er im Februar eine
Großdemonstration in einem unterfränkischen 4.000-Einwohner-Ort, zu der er
15.000 Teilnehmende erwartete, wie er auf Facebook schrieb. Die Demo fand
nie statt.
Laut Pfundmair sind es normale psychologische Prozesse, die Menschen in
radikale Gedanken treiben können. Die Annahme einer „terrorist
personality“, wie sie in der Forschung lange vorherrschte, sei überholt.
Heute gehe man davon aus, dass es eher „ein explosiver Cocktail“
gleichzeitig auftretender Umstände sei, der zu Radikalisierung führe. Dazu
können auch gewisse Persönlichkeitsmerkmale gehören, wie die sogenannte
„dunkle Triade“: Narzissmus, also die Neigung, sich anderen überlegen zu
fühlen; Machiavellismus, die Neigung. andere zu manipulieren und
auszunutzen, und Psychopathie im Sinne von Empathielosigkeit.
## Keine roten Linien
In der Telegramgruppe „Corona Rebellen“ postet jemand einen Tag nach der
Hausdurchsuchung bei Fischer und zwei mutmaßlichen Kompliz*innen einen
Artikel aus der Lokalpresse über den vereitelten Anschlag und Ermittlungen
im Umfeld der Coronabewegung. Der Inhaber der Gruppe, mutmaßlich Fischer,
bezichtigt wieder die Antifa.
Wiederum einen Tag später, am 12. Februar, kündigt der Inhaber die Löschung
der Gruppe an. Der Grund sei eine vermeintliche „Durchseuchung“ mit
„Antifa, Polizei (Söldner), Verfassungsschutz und Spitzeln“. Danach wird es
auch in den anderen lokalen Telegramgruppen der Bewegung ruhiger. Ist der
Bewegung in Unterfranken ein Anführer abhandengekommen?
Fischer sagt, dieser Eindruck sei trügerisch, denn in Wahrheit vernetzten
sie sich seit dem „D-Day 2.0“ nun auch „offline“ oder in geschlossenen
Gruppen, um weitere Aktionen für den „Systemwechsel“ vorzubereiten.
Tatsächlich schreibt der Corona-Rebellen-Inhaber in seine Lösch-Ankündigung
den Zusatz: „Wer Näheres wissen möchte, weiß wie/wo/wann man mich erreicht
OFFLINE“. Etwa 14 Tage nach der Löschung der Gruppe verkündet ein User mit
einem ähnlichen Profilnamen in einer anderen Lokalgruppe die Neueröffnung
einer nun geschlossenen „Corona Rebellen“-Gruppe. Wer Infos dazu wolle,
möge sich per Direktnachricht an ihn wenden.
Fragt man Fischer, wo für ihn bei Protest und Radikalität die rote Linie
verlaufe, sagt er wieder, jegliche Form der Gewalt lehnten seine
Mitstreiter und er ab. Er sagt aber auch: „Die ICE-Aktion ist für mich
keine Gewalt.“ Gegen Fischer wird wegen gefährlichen Eingriffs in den
Schienenverkehr ermittelt, die Soko „Werntal“ sucht laut Angaben des
Polizeisprechers neben Beweisen auch nach mutmaßlichen Verbündeten. Fischer
scheint das nicht zu verunsichern. Die Aktivist*innen, die er „D-Days“
nennt, planten schon weitere Aktionen, auch langfristiger, auch für die
Bundestagswahlen. Aber eigentlich, sagt Fischer, setze er darauf, dass
„vorher schon alles beendet“ ist.
Mitarbeit: Robert Andreasch , Sebastian Erb
Die Recherche entstand im [6][Rechercheverbund Europe’s Far Right] und
wurde mit Mitteln des [7][„Investigative Journalism for Europe“]-Programms
gefördert.
25 Apr 2021
## LINKS
[1] /Reichsbuerger-auf-Corona-Demos/!5706347
[2] /Brandanschlag-auf-Rathaus-Delmenhorst/!5757210
[3] /Straftaten-auf-Coronaprotesten/!5754881
[4] /Vom-Verfassungsschutz-im-Visier/!5766444
[5] /Geschaefte-machen-mit-der-Pandemie/!5754871
[6] /efr
[7] https://www.investigativejournalismforeu.net
## AUTOREN
Nora Belghaus
Christian Jakob
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Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt Europe's Far Right
Verschwörungsmythen und Corona
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