# taz.de -- Geschichte eines russischen Symbols: Der Kult ums Bändchen | |
> Auf der linken Brust soll es getragen werden, nahe beim Herzen: das | |
> Georgsband. Nicht nur russische Patrioten schmücken sich mit der | |
> Schleife. | |
Bild: Zum Jahrestag des Kriegsendes hängen in Moskau vielerorts die schwarz-or… | |
Es begann auch in diesem Jahr wieder Ende April. „Freiwillige des Sieges“, | |
Mitglieder einer russischen Jugendorganisation, fingen im ganzen Land an, | |
orange-schwarz gestreifte Bändchen an Passanten zu verteilen wie Früchte | |
einer neuen Saison. In Wolgograd, dem ehemaligen Stalingrad, bekamen Jungen | |
in Matrosenuniform nach dem Vortrag eines Veteranen das Bändchen | |
überreicht. In Sankt Petersburg standen die mehr als 30.000 „Freiwilligen“ | |
vor den Eingängen zur Metro, im sibirischen Tomsk sah man sie auf Märkten. | |
Zu den Stoffstreifen gibt es eine Nadel und ein Kärtchen mit genauen | |
Anweisungen, wie das Georgsband (russ. Georgijewskaja Lenta), zu einer | |
dekorativen Schleife zu binden sei und wie man es zu tragen habe – auf der | |
linken Brust, nahe beim Herzen. An welchen Körperteilen man es nicht tragen | |
sollte, wird auch erklärt: Nicht in den Haaren, nicht an der Hüfte und | |
schon gar nicht als Schnürsenkel an den Füßen. Das wäre unwürdig, | |
schließlich gelten die Schleifen als „Zeichen des Sieges über den | |
Faschismus“. Dennoch findet man die Farben heute nicht nur auf stolzen | |
Brüsten, sondern gemalt auf Hausfassaden, auf Lkw-Karossen, sie wehen auf | |
TV-Bildschirmen und an Autoantennen, Ikonen sind damit geschmückt, | |
Grabkreuze, Trolleybusse. | |
Der Kult ist noch jung, seinen Anfang nahm er 2005. Offiziell heißt es, | |
damals seien die Mitglieder einer Studierendenvereinigung auf die Idee | |
gekommen, zum sechzigsten Jahrestag des Sieges die schwarzen Bändchen mit | |
den zwei kräftigen orangefarbenen Streifen unters Volk zu bringen, um die | |
Verbundenheit der Jugend mit der Kriegsgeneration zu stärken. Es schien | |
eine Art Basisbewegung zu sein, die eine Tradition wiederbelebt, die weit | |
in die russische Geschichte zurückreicht. | |
1769, Russland stand mit dem Osmanischen Reich im Krieg, stiftete Zarin | |
Katharina II. den Orden mit dem Abbild des Drachentöters Georg, die Farben | |
seines Ordensbandes waren Schwarz und Orange. Bis zum Ende des Imperiums | |
blieb der Georgsorden die höchste militärische Auszeichnung. Nach dem | |
Umsturz 1917 verboten die Bolschewiki die Ehrung samt Band und christlicher | |
Symbolik. Zeichen des Sieges waren fortan roter Stern, Hammer und Sichel. | |
Doch mitten im Krieg gegen Deutschland tauchten zumindest die Farben des | |
Georgsordens wieder auf – am Ruhmesorden, den Stalin 1943 gestiftet hatte. | |
Und als Deutschland bezwungen war, trugen 1945 alle Frontheimkehrer stolz | |
die neue Medaille „Für den Sieg über Deutschland“ – über dem Konterfei | |
Stalins leuchtete das Bändchen in Schwarz und Orange. Die Farben, so heißt | |
es heute lyrisch, symbolisierten Schießpulver und Feuer. | |
Warum aber gerade schwarz-orange? Sowjetische Ordensbänder jener Jahre | |
bieten neben dem allgegenwärtigen Rot viele Kombinationen – etwa | |
Gold-Rot-Grün, Grün-Schwarz, Blau-Weiß oder Rot-Weiß. Insbesondere in der | |
Ukraine kam im Jahr 2005 bald der Verdacht auf, dass die Studierenden | |
keineswegs spontan gehandelt hätten, als sie das Georgsbändchen | |
popularisierten. Schließlich ist im Russland Wladimir Putins kaum eine | |
Willenskundgebung denkbar, die nicht zumindest vom Kreml gebilligt, wenn | |
nicht gelenkt wird. Und dass die jungen Leute bei der Wahl von Schwarz und | |
Orange an Schießpulver und Feuer dachten, klingt eher wie eine Legende, die | |
ablenken soll. | |
Wladimir Putin hatte 2005, zumindest was die Farbe Orange betrifft, ganz | |
andere, unerquickliche Assoziationen. Anfang des Jahres hatte Wiktor | |
Juschtschenko, der im September 2004 einen schweren Giftanschlag mit | |
Dioxin überlebt hatte, das Präsidentenamt in Kiew übernommen. Sein | |
Gegenspieler, Wiktor Janukowitsch, vom Kreml massiv unterstützt, räumte | |
seine Niederlage ein. Die Orange Revolution hatte den Wahlfälscher | |
hinweggefegt und überall in der Ukraine, an Taschen, Revers, an | |
Autoantennen, Bussen und Bäumen, flatterten im Frühjahr 2005 fröhlich | |
orangefarbene Bändchen. | |
Im offiziellen Russland galt der neue ukrainische Präsident als Handlanger | |
der USA, als Nationalist, wenn nicht gar als „Faschist“. Und dann tauchten | |
zwischen Kaliningrad und Wladiwostok erstmals die Schleifen als „Zeichen | |
des Sieges über den Faschismus“ auf. Vor dem schwarzen Hintergrund hebt | |
sich die orange Farbe besonders gut ab. Bis 2014 waren schon 115 Millionen | |
Bändchen verteilt, „weltweit“, wie die Nachrichtenagentur Tass unterstrich. | |
Dabei machte das Bändchen erst in jenem Jahr so richtig Karriere. Seit der | |
zweiten Revolution in der Ukraine 2013/14, dem Euromaidan, der | |
darauffolgenden russischen Annexion der Krim und dem Krieg an der Ostgrenze | |
ist das Georgsbändchen allgegenwärtig. Warlords im Donbass blickten | |
siegesgewiss, ihre Kämpfer präsentierten Kalaschnikows, ganz Russland | |
geriet in Verzückung – und das Georgsband war immer dabei. Kameras trugen | |
die Bilder in alle Welt, Korrespondenten erklärten das „Symbol des Triumphs | |
über Hitlerdeutschland“. | |
Seitdem kämpfen überall russische Patrioten gegen alte und neue | |
„Faschisten“ und beweisen das mit dem Bändchen an der Brust. Rentner in | |
Sibirien, Matrosen in Sewastopol, Busfahrerinnen, die Nachrichtensprecher | |
im Fernsehen, der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow, Minister, | |
Bürgermeister, Kader der Regierungspartei Einiges Russland und sonstige | |
Offizielle sowieso. | |
Wladimir Putin hatte sich anfangs zurückgehalten. Zur Parade am 9. Mai 2005 | |
begrüßte er auf der Tribüne George W. Bush, Jacques Chirac und Gerhard | |
Schröder noch ohne Bändchen an der Brust. Zehn Jahre später, westliche | |
Staats- und Regierungschefs blieben der Parade inzwischen weitgehend fern, | |
trug Putin das Georgsband, so wie auch neben ihm der chinesische Staatschef | |
Xi Jinping. | |
Auf wundersame Weise vereint das Georgsband den Präsidenten mit seinen | |
Untertanen und mit den Russen jenseits der Grenzen – und all jenen, die an | |
den Triumph, die Größe und die Opferbereitschaft des russischen Volkes | |
glauben und den Präsidenten verehren wie einen Wundertäter. Bietet er doch | |
dem Faschismus die Stirn, stiftet in Syrien Frieden, versorgt die EU mit | |
Energie, bekämpft nun auch Corona. Kurzum: Er hat Russland wieder groß | |
gemacht, seit der Annexion der Krim sogar wieder auf der Landkarte. So | |
etwas gab es seit 1945 nicht mehr. | |
Also hilft das Moskauer Außenministerium beim Verteilen der Bändchen. In | |
weit über neunzig Ländern sind sie erhältlich, etwa in Serbien, Bulgarien, | |
Brasilien, Australien, Italien. Sogar auf der Raumstation ISS ist das | |
Bändchen angekommen. | |
Und natürlich in Deutschland. Trugen hierzulande patriotische Russen die | |
Farben schon seit Längerem am Revers, ist es in diesem Jahr, [1][wie eine | |
taz-Recherche unlängst ergab], auch im Milieu der „Querdenker“ angekommen. | |
Ein Gegner der Coronapolitik präsentierte in Unterfranken stolz das | |
Georgsband. | |
Nur in der Ukraine ist es nicht so einfach zu bekommen, man kann es | |
allerdings online bestellen. Das Bändchen ist dort seit 2015 als „Symbol | |
der Aggression und Okkupation“ verboten. Wer es trotzdem trägt, riskiert 15 | |
Tage Arrest oder eine Geldstrafe. Zeichen des Weltkriegsgedenkens ist | |
seitdem, wie seit Jahrzehnten in vielen englischsprachigen Ländern, die | |
stilisierte Mohnblüte. | |
9 May 2021 | |
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## AUTOREN | |
Thomas Gerlach | |
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