| # taz.de -- Masha Qrella vertont Thomas Brasch: Nach der Arbeit an den Maschinen | |
| > Im Werk von Thomas Brasch fand Masha Qrella neue Inspiration und begab | |
| > sich mit ihm auf ihre ostdeutschen Spuren. Nun erscheint ihr Album | |
| > „Woanders“. | |
| Bild: Im Bewusstseinsstrom: Die Berliner Künstlerin Masha Qrella | |
| Vom Frühstückstisch direkt auf die Tanzfläche: Die treibenden Beats von | |
| Masha Qrellas Song „Geister“, die aus dem Radio in der Küche schallen, | |
| teleportieren die Hörerin sofort in ein pulsierendes Techno-Ambiente. | |
| Doch kaum ist man da angekommen, bremst ein schroffer Disclaimer alles aus. | |
| „Wie soll ich dir das beschreiben?“, singt die sich vorsichtig | |
| vorantastende und doch entschiedene Stimme. „Ich kann nicht tanzen / Ich | |
| warte nur / In einem Saal aus Stille / Hier treiben Geister ihren Tanz | |
| gegen die Uhr!“ Ein kühler, zu Klang gewordener Wind umweht die Worte, die | |
| wie ein Gegenpol zur Musik wirken. Nicht nur Menschen, die im Club | |
| tendenziell eher beobachtend herumstehen, statt auf der [1][Tanzfläche nach | |
| Entgrenzung zu suchen], können sich in diesen Zeilen wiederfinden. | |
| Verfasst hat sie der 2001 verstorbene Dramatiker, Autor und Regisseur | |
| [2][Thomas Brasch], vertont wurden sie von der Berliner Musikerin Masha | |
| Qrella. Ihr neues Album „Woanders“ besteht auf Songlyrikebene | |
| ausschließlich aus Texten von Thomas Brasch, eingebettet hat sie diese in | |
| aufs Nötigste reduzierte und doch vielschichtige Songs, die mal soghaft, | |
| mal sphärisch, aber immer eigenwillig klingen. | |
| ## Unterschätztes Frühwerk | |
| Bekannt wurde Qrella Mitte der 1990er Jahre, als sie bei den weithin | |
| unterschätzten Berliner Postrock-Combos Mina und [3][Contriva] spielte. | |
| Seit knapp zwei Jahrzehnten veröffentlicht die 1975 in Ostberlin geborene | |
| Künstlerin ihre Songs zumeist als Solistin. Bis zur EP „Days After Days“ | |
| (2019) sang sie immer auf Englisch. | |
| Zum Werk von Thomas Brasch fand Qrella auf Umwegen, an deren Anfang eine | |
| Auftragsarbeit für einen Heiner-Müller-Abend im Jahr 2016 stand. Die | |
| Beschäftigung mit Müller stieß bei ihr eine Auseinandersetzung mit ihrer | |
| DDR-Sozialisation an. „Das Projekt hat mich auf eine Reise in meine eigene | |
| Vergangenheit geschickt“, erklärte Qrella damals der taz. | |
| Und es brachte die Künstlerin zu der Erkenntnis, dass sie nach dem | |
| Mauerfall in den Jahren ab 1989 „in einer langen Amnesie“ gelebt habe. Dass | |
| sie anfangs vor allem Instrumentalmusik gemacht habe, sieht Qrella als | |
| Ausdruck der damit einhergehenden Sprachlosigkeit. | |
| ## Ab jetzt ist Ruhe | |
| Eine Freundin machte sie auf den autobiografischen Roman „Ab jetzt ist | |
| Ruhe“ (2012) aufmerksam. Darin zeichnete die Radiojournalistin Marion | |
| Brasch die – unter anderem ideologisch motivierten – Verwerfungen innerhalb | |
| ihrer Familie nach: Vor allem zwischen dem Vater Horst Brasch, einem hohen | |
| SED-Parteifunktionär in der frühen DDR, und ihren drei Brüdern, die | |
| allesamt mit den Mitteln der Kunst gegen den Staat rebellierten. | |
| Thomas, der älteste der Gebrüder Brasch, geriet immer wieder in Konflikt | |
| mit den DDR-Behörden; sein Protest gegen die Niederschlagung des Prager | |
| Frühlings 1968 brachte ihn sogar ins Gefängnis. Trotzdem blieb sein | |
| Verhältnis zur DDR komplex, auch nach seiner Übersiedlung in den Westen, | |
| 1977, wollte er sich nicht zum exemplarischen Dichter-Dissidenten | |
| stilisieren lassen. 1981 etwa provozierte er bei der Verleihung des | |
| Bayrischen Filmpreises mit seiner Dankesrede einen Skandal: „Ich danke der | |
| Filmhochschule der DDR für meine Ausbildung … Ich danke den Verhältnissen | |
| für ihre Widersprüche.“ | |
| Als Qrella begann, Thomas Brasch zu lesen, sei zunächst nicht geplant | |
| gewesen, etwas Weiterführendes zu entwickeln, erzählt sie im | |
| Videointerview: „Vor allem von seinen Gedichten haben mich einzelne Zeilen | |
| nicht mehr losgelassen. Ich fing an, sie zu singen, auf dem Fahrrad, in der | |
| U-Bahn; sie als Grußbotschaften ins Handy zu spielen und an Freunde zu | |
| schicken, auf der Suche nach Austausch.“ | |
| ## Deutlich mehr Stoff | |
| Zum Glück, so muss man es sagen, ist aus diesen Skizzen dann deutlich mehr | |
| Stoff geworden. Zunächst ein Konzertabend, der zugleich Performance und | |
| Installation war und – ebenfalls unter dem Titel „Woanders“ – im Dezemb… | |
| 2019 im Berliner Hebbel-Theater Premiere feierte; weitere Gastspiele wurden | |
| zunächst von Corona ausgebremst. | |
| Aber jetzt veröffentlicht Qrella ebendieses Album, in dem nicht nur | |
| Popappeal, sondern – auch auf der Textebene – überraschend viel Gegenwart | |
| steckt. Zum Beispiel in den Zeilen des Songs „Maschinen“: „Nach der Arbeit | |
| an den Maschinen / Träumen die Leute von den Maschinen / Wovon träumen die | |
| Maschinen / Nach der Arbeit an den Leuten?“ Im Zeitalter von künstlicher | |
| Intelligenz und selbstlernenden Systemen wirken sie nicht mehr kokett, wie | |
| sie vielleicht schienen, als Brasch sie unter dem Titel „Frage“ vermutlich | |
| Anfang der 1970er Jahre schrieb. | |
| Vielmehr formulieren sie lakonisch, fast lapidar eine berechtigte Frage. | |
| Nach einem sphärischen Einstieg singt Andreas Spechtl (Ja, Panik) an der | |
| Seite von Qrella zu einem zunehmend brachialen Beat. Ähnlich | |
| gegenwartssatt wirkt das luftig-groovende Stück „Tür“. Es basiert auf dem | |
| Text „Schließ die Tür und begreife“ – einem undatierten Tagebucheintrag, | |
| den Brasch seinem Theaterstück „Rotter“ (1978) voranstellte – und wirkt … | |
| ein zeitgemäßer Kommentar zur allgegenwärtigen Selbstbespiegelung, die | |
| durch die Dauerpräsenz in den sozialen Medien noch mehr angefüttert wird: | |
| „Schließ die Tür und begreife / daß niemandem etwas fehlt, wenn du fehlst, | |
| begreife / daß du der einzige bist der ohne Pause / über dich nachdenkt, | |
| daß du die Tür schließen kannst / ohne viel Aufhebens und ohne Angst, es | |
| könne dich einer beobachten/ Dich beobachtet keiner / Du fehlst keinem.“ | |
| ## Ohne erhobenen Zeigefinger gesungen | |
| Ein Song, der es allerdings beinahe gar nicht aufs Album geschafft hätte. | |
| „Der Text war mir ein bisschen zu didaktisch“, erzählt Qralla. „Beim Les… | |
| fand ich ihn erst einmal toll, habe dann aber gemerkt, dass es nicht so | |
| einfach ist, ihn ohne erhobenen Zeigefinger zu singen.“ Offenbar hat sie | |
| einen stimmigen Weg gefunden. Qrella gelingt es, ihre Stimme ganz | |
| unvoreingenommen und wertfrei klingen zu lassen, so dass diese Zeilen, die | |
| auf Papier doch etwas hart und abkanzelnd wirken, fast tröstlich klingen. | |
| Sie scheint einem einzuflüstern: „Mach dir keinen Stress, zieh einfach mal | |
| die Decke über den Kopf.“ | |
| Der Coronapandemie sei an dieser Stelle ausnahmsweise gedankt: Dafür | |
| nämlich, dass sich Qrella und ihre Mitstreiter:innen, etwa der umtriebige | |
| und vielbeschäftigte Schlagzeuger Chris Imler, extra Zeit nehmen konnten | |
| für alle Albumversionen des Songs, die bei dem Theaterabend uraufgeführt | |
| wurden. | |
| So ist das Album deutlich länger geworden als geplant – und atmosphärisch | |
| wie musikalisch höchst abwechslungsreich. „Mir war es ein explizites | |
| Anliegen, nicht die Texte zu verwenden, die Brasch biografisch eindeutig | |
| verorten, als Nachkriegsdeutschen oder als Dissidenten, der von Ost nach | |
| West ging. Mich hat an den Texten fasziniert, dass es diese Stellen gibt, | |
| die sehr ins Heute passen, und deren Sprache mich eher an David Bowie | |
| denken lässt als an ostdeutsche – oder überhaupt deutsche – Lyrik.“ | |
| ## Schöner Fund im Archiv | |
| An wenigen Stellen hat Qrella in Braschs Texte eingegriffen. Ein Beispiel | |
| ist das Titel gebende „Woanders“. Am Ende seines Sinnierens, wo anders man | |
| denn noch so sein könnte, „vielleicht an der Küste / Oder vielleicht | |
| nebenan“, macht Qrella einen Schlenker, der in Braschs Gedicht nicht | |
| auftaucht: „Wo ist man woanders / und wo ist man anders“. In Braschs | |
| Archiv, so erzählt Qrella, sei sie in einem Maschinen geschriebenen | |
| Manuskript auf diese letzten Zeilen gestoßen – die allerdings | |
| durchgestrichen waren. „Offenbar hatte es der Autor zwar ursprünglich so | |
| geschrieben, sich dann aber gegen die Zeilen entschieden. Vielleicht waren | |
| sie ihm zu kitschig? Keine Ahnung – für den Song fand ich sie aber sehr | |
| schön.“ | |
| Derzeit weilt Qrella als Stipendiatin an der [4][Kulturakademie Tarabya] in | |
| Istanbul und klügelt eine türkische Live-Version des „Woanders“-Abends au… | |
| die sie seinerzeit in Teamwork und mit Gästen wie Dirk von Lowtzow | |
| (Tocotronic) und Marion Brasch erarbeitet hatte. Dafür wurden die Texte ins | |
| Türkische übersetzt, die sie momentan mit Musikern und Interpreten in | |
| Istanbul probt. „Brasch ist, zumindest in der türkischen Community in | |
| Berlin, kein Unbekannter“, erzählt sie. | |
| „Er hat bereits für seinen 1988 entstandenen Film ‚Der Passagier – Welco… | |
| to Germany‘ mit dem unlängst verstorbenen Schauspieler Birol Ünel | |
| zusammengearbeitet, meines Wissens waren sie auch befreundet. Ich glaube, | |
| dass Braschs Gedichte, die das Leben zwischen zwei Welten, zwischen Ost und | |
| West, zwischen Vergangenheit und Gegenwart beschreiben, in Istanbul auf | |
| eine noch krassere Art hochaktuell sind.“ | |
| Am 19. Februar, dem Tag der Albumveröffentlichung, wäre der in | |
| Großbritannien geborene Thomas Brasch übrigens 76 Jahre alt geworden. Gut | |
| vorstellbar, dass er ziemlich toll gefunden hätte, was gerade mit seinen | |
| Texten passiert. | |
| 19 Feb 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Clubkultur-und-Coronakrise/!5724473 | |
| [2] /Lyrik-von-Thomas-Brasch/!5643953 | |
| [3] https://www.youtube.com/watch?v=Tshnvqk0vSk | |
| [4] /Kuenstlerresidenz-in-Istanbul/!5136520 | |
| ## AUTOREN | |
| Stephanie Grimm | |
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