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# taz.de -- „Vertigo Days“ von The Notwist: „Schön, wenn andere reinkön…
> Die Indieband The Notwist veröffentlicht ihr Album „Vertigo Days“. Ein A
> bis Z zu Stichworten, die bei seiner Entstehung wichtig sind.
Bild: Immer in Bewegung bleiben: The Notwist im Unterholz
## Alltagsgeräusche
Markus Acher: Beim ersten Lockdown war es plötzlich so ruhig. Ich merkte:
Nicht nur Musik ist mir wichtig – auch, überhaupt etwas hören zu können. In
„Step Across the Border“, einer tollen Dokumentation über den britischen
Komponisten Fred Frith heißt es: Alles kann klingen, wenn man sich mit
offenen Ohren nähert. Diese Erfahrung ist in unser neues Album „Vertigo
Days“ eingeflossen. [1][Seit 2015 hatten wir immer wieder Aufnahmen
gemacht.] Wirklich konzentriert am Material gearbeitet haben wir erst mit
Beginn der Pandemie. Wir mussten mit unserer Zeit etwas anstellen, um nicht
deprimiert zu werden.
## Bandkonzept
Micha Acher: Markus und ich sind von Anfang an dabei, der Kontext hat sich
seither öfters verändert. Aktuell haben wir eine Konstellation, die sich
auch praktisch bewährt: Cico, Markus und ich wohnen in München und können
uns spontan treffen; live sind auch die Berliner Max Punktezahl, Karl Ivar
Refseth und Andi Haberl mit dabei.
## Collage
Cico Beck: Collage als künstlerisches Konzept ist uns wichtig, musikalisch
und visuell. Nicht zuletzt, weil darin mitschwingt, dass aus den Ideen
anderer etwas entstanden ist, was man selbst tut.
## Dorfwirtschaft
MiA: Früher war die Dorfwirtschaft kein Bezugspunkt – abgesehen davon, dass
wir mit der Dixielandband unseres Vaters in Biergärten aufgetreten sind. In
den letzten Jahren ist uns wichtiger geworden, in kleinen Wirtschaften
Musik zu machen – akustisch und ohne viel Aufwand.
## Elektronische Instrumente
MaA: Martin Gretschmann legte sich circa 1994 als Erster in unserem Umfeld
einen Sampler zu. Mit ihm haben wir angefangen, Klangcollagen zu machen –
und dann auch mit elektronischen Instrumenten komponiert.
CB: Was wir heutzutage an dieser Form der Klangerzeugung schätzen, sind
neben unendlichen Soundwelten die unterschiedlichen Ästhetiken: von früher
Elektronik aus den 1950er Jahren bis in die Gegenwart.
## Freistaat Bayern
MaA: Unsere Anfänge als Hardcore-Band im konservativen Bayern waren
schwierig. Es stellte sich als Vorteil heraus, dass wir als Außenseiter
galten. Wir merkten, dass es widerständige Traditionen und Individualisten
gibt, die Teil dieser Kultur sind: etwa der Filmemacher Herbert
Achternbusch, der Schriftsteller Oskar Maria Graf und die Künstlergruppe
Spur. Es war uns nie ein Bedürfnis, die Herkunft herauszustellen. Wichtiger
ist, dass wir nicht verortbar sind – vor allem nicht als bayerische Band.
Neuerdings gibt es viele volkstümelnd akustische Bands, die so tun, als sei
es was Besonderes, aus Bayern zu stammen. Angefangen hat das ganz anders,
mit tollen Bands von den Münchner Indie-Labels Gutfeeling und Trikont. Die
haben genau das Gegenteil gemacht: Musik aus dem Trachtenmief befreit, mit
Musik von überall gemischt und wieder lebendig gemacht.
## Gastmusiker:Innen
MaA: Durch unser Alien-Disko-Festival an den Münchner Kammerspielen sind
wir mit einigen Musikern befreundet, die dort aufgetreten sind: mit Ben
LaMar Gay aus Chicago etwa und den Tenniscoats aus Tokio. Als Notwist
sind wir Künstler und zugleich Fans. Es war an der Zeit, das auf dem neuen
Album hörbar zu machen – nicht nur über Einflüsse zu reden, sondern die
Gäste in unsere Musik eingreifen zu lassen.
## Hochzeitskapelle
MiA: Wir haben die akustische Band – Bratsche, Tuba, Trompete, Banjo und
Schlagzeug – zu Markus’ Hochzeit gegründet; mittlerweile gibt es drei
Alben. Wir spielen keine Eigenkompositionen, sondern Lieblingsstücke und
treten in Wirtshäusern und an der Isar auf. Und auf Demos, die uns wichtig
sind. Im letzten Coronasommer haben wir auf Garagendächern gespielt, unter
Einhaltung der Abstandsregeln.
## Indiekultur
MaA: Was damit überhaupt gemeint ist, ist zwischenzeitlich verschwommen.
Uns ist die ursprüngliche Idee aber wieder wichtig. Sie hat auch neue
Relevanz. Unsere japanischen Kolleg:Innen haben etwa mit
minnakikeru.com eine Webseite gestartet, über die man an ihre Musik kommt –
unabhängig von Streamingdiensten. Dadurch kam es zu einer Vernetzung
zwischen Bands, die große Wirkung hatte, in Japan und darüber hinaus.
Toll, dass es noch Wege gibt, durch Selbstorganisation Dinge zu verändern –
wo doch alle denken, im Internet sei das unmöglich. Sosehr der
Indie-Begriff missbraucht wurde: Es steckt noch viel drin.
## Jazz
MaA: Angel Bat Dawid und Ben LaMar Gay, die US-Künstler:Innen auf
„Vertigo Days“, stehen für eine neue US-Generation, die Jazz offen
definiert und mit HipHop, Songwriting und elektronischer Musik verbindet –
nachdem die Tradition doch sehr konservativ, technisch und damit auch
abschreckend geworden war. Heute entsteht im Jazz wieder Relevantes, das
oft auch politische Botschaften transportiert.
## Kuratieren
MaA: Mit dem Alien-Disko-Festival vermitteln wir die Idee, dass es keine
Genregrenzen und Regeln gibt, auch nicht beim Umgang mit Instrumenten.
Möglichst bunt soll das Line-up sein – und zugleich zeigen, was an einer
konkreten Band toll ist, selbst wenn man mit einem Genre vielleicht nichts
anfangen kann.
## Livestreams
CB: Dazu haben wir ein differenziertes Verhältnis. Natürlich kann ein
Stream das Konzerterlebnis nie ersetzen. Aber es gibt positive Aspekte,
etwa die größere Reichweite. Rührend war, wie wir mit unseren beiden
Streams letztes Jahr in der ganzen Welt Menschen erreichen konnten, in
einer Zeit, in der alle eingeschlossen waren.
## München
MiA: Eine schöne Stadt mit wunderbaren Flecken. Aber leider auch eine sehr
teure. Das macht das Leben nicht einfacher, gerade wegen der hohen Mieten.
Auf musikalischer Ebene hat München sich toll entwickelt. Es gibt
großartige Labels und Bühnen – und eine gute Zusammenarbeit untereinander.
## Norte-Sur
MaA: Zu dieser thematischen Klammer unseres neues Albums kam es, weil die
argentinische Songwriterin Juana Molina ein Lied „Al Norte“ betitelt hat.
Der Norden ist in Argentinien der wohlhabende Landesteil, in den alle
wollen – was hierzulande ja eher der Süden ist. Zugleich steht der für
etwas eher Hinterwäldlerisches. Man kann zu den Begriffen Norden und Süden
also viel assoziieren.
## One of These Days (Filmmusik)
CB: Die Arbeit am Soundtrack hat großen Spaß gemacht. Wir hatten
künstlerische Freiheit – und das war befreiend.
MaA: Toll, dass der Regisseur Bastian Günther zu diesen staubigen, sehr
US-amerikanischen Bildwelten Krautrock und 1970er-Synthie-Sounds einsetzen
wollte – eine nicht unbedingt naheliegende Assoziation.
## Pandemie
MaA: Positiv an der schlimmen aktuellen Situation ist, dass sie uns zwingt,
Dinge zu überdenken. Als Band versuchen wir immer wieder, nichts für
selbstverständlich zu nehmen. Der enge Rahmen im Lockdown hat es uns
erleichtert, von vorne anzufangen. Gleichzeitig ist es anstrengend, in
dieser Unsicherheit überhaupt weiterzumachen – auch finanziell. Lange hält
man nicht durch, wenn man [2][keine Konzerte] spielen kann.
## Querdenker
MaA: Schlimm, dass dieser für uns positiv besetzte Begriff ausgerechnet von
Coronaleugnern gekapert wird. Der Ausnahmezustand zeigt, wie wichtig es
ist, über die eigene Situation hinauszudenken. Nicht zuletzt offenbart die
Pandemie auch, wie verheerend es ist, wenn Politik nationalistische
Interessen verfolgt.
## Repetitive Rhythmen
CB: Die kommen auf dem neuen Alben öfters vor als auf früheren Werken –
„Messier Objects“ (2015) ausgenommen, was ja eine Sammlung von [3][Arbeiten
für Theater] und Hörspiele war. Das Psychedelische, Tranceartige am
Repetitiven gefällt uns sehr.
## Sampling
MaA: Sampling ist uns wichtig, auch wenn Samples in den fertigen Stücken
bisweilen gar nicht mehr vorkommen – oder nur im Kopf stattfinden. Wir
haben seit unserem Album [4][„Neon Golden“] (2002) immer Regale voller
Werke mit Musik aus allen Jahrzehnten im Studio. Daraus nehmen und
verfremden wir kleine Teile. Genauso sampeln wir selbst aufgenommene Sachen
und bauen daraus neue Klänge.
## Tokio-Connection
MaA: Es gibt dort eine tolle Szene an kreativen, unglaublich netten
Menschen. An einem Konzert in Tokio kann man von Noise über Folk bis zur
experimentellen Performance alles Mögliche erleben. Dazu wird unglaublich
gutes Essen gekocht. Oft gibt es eine Ecke, in der selbstgebrannte CDs,
bemalte T-Shirts, selbstgebaute Instrumente feilgeboten werden. Ein Traum.
## Ueno, Saya und Takashi
MaA: Von der Musik von Saya und Takashi Ueno alias Tenniscoats bin ich
schon lange Fan. Man erkennt sie sofort, obwohl sie Verschiedenes
ausprobieren. Ihre Musik ist eigenwillig und vielfältig zugleich. Bei
unserer gemeinsamen Band Spirit Fest komponiert und singt Saya fast alle
Stücke. Ihre Stimme berührt – egal, was sie singt.
## Vertigo (Days)
MaA: Vertigo beschreibt das Gefühl, dass einem der Boden unter den Füßen
weggezogen wird. Plötzlich ist nichts mehr, wie es war. 2020 war das auf
einmal ein globales Phänomen. Solche Situationen sind immer auch Chance für
Veränderung. Darum geht es in den Songs unseres neuen Albums.
## Weilheim
MaA: Am Anfang wollten wir nur weg aus dem kleinstädtischen und
konservativen Weilheim, wo es keinen Platz gab für die Musik, die wir
gemacht haben. Gleichzeitig wünschten wir uns aber auch ein Netzwerk und
Austausch. Nach und nach haben wir tolle Leute kennengelernt; Mario Thaler
etwa, der das uphon-Studio gegründet hat, in dem wir viele Alben
aufgenommen haben. Es gab Konzerte und Festivals, zudem entstanden Labels
und Fanzines. Rückblickend war es dann doch eine spannende Zeit.
## Xenophobie
MaA: Weil wir in diesem abgeschlossenen Kosmos aufgewachsen sind, den es
eigentlich nur in Bayern gibt, war uns immer wichtig, von dort
rauszukommen. Wir haben das Andere gesucht. Das ist bis heute so und war
auch beim Alien-Disko-Festival zentral: der wachsenden Isolation und dem
Nationalismus eine utopische Alternativwelt entgegenzusetzen. Es ist schön,
in Deutschland zu leben. Aber nur, wenn andere reinkönnen.
## Y-Chromosom
MaA: Die Vorherrschaft von weißen Männern in fast allen Lebensbereichen ist
absurd und ärgerlich. Der Musikbiz ist davon nicht ausgenommen. Schlimme
Auswirkungen des Y-Chromosoms auf den Menschen kann man leider in
Instrumentengeschäften, bei Labelchefs und auf Festivals erleben. Gut, bei
Notwist waren wir auch immer nur Männer. Die wichtigen Einflüsse kamen
aber von Bands, in denen Frauen eine wichtige Rolle spielen: Stereolab und
Le Tigre etwa – oder aktuell Big Joanie und die Vanishing Twins. Oder von
unseren anderen Bands mit Künstlerinnen, von Lali Puna bis Spirit Fest. Bei
den Gästen auf dem neuen Album mussten wir Ausgewogenheit nicht forcieren.
Saya, Juana Molina, Angel Bat Dawid und Ben LaMar Gay machen gerade einfach
die spannendste Musik, die wir kennen.
## Zombi
MaA: So heißt ein Lied der Klavier-Percussion-Band Rayon, in der Cico und
ich spielen. Es bezieht Einflüsse aus Gamelan, afrikanischer Musik, und der
davon abgeleiteten Minimal-Music ein. Diese Art, Melodien und Harmonien
durch Rhythmen zu erzeugen, ist auch bei Notwist extrem wichtig – und immer
wieder inspirierend.
28 Jan 2021
## LINKS
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[4] /Indieband-Notwist/!5144672
## AUTOREN
Stephanie Grimm
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