# taz.de -- Debütalbum von Albertine Sarges: Der innere Hippie | |
> Albertine Sarges verbindet in ihrer Musik Referenzen an die 70er und 80er | |
> mit feministischen Texten. Nun erscheint ihr Debüt „Albertine Sarges & | |
> The Sticky Fingers“. | |
Bild: Das neue Hobby der Musikerin Albertine Sarges: Vögel beobachten | |
Sie sind sehr selten, die Geschichten, die ihren Anfang beim Jobcenter | |
nehmen und ein Happy End haben, doch die von Albertine Sarges ist so eine. | |
Im März 2020 verlor die Berliner Musikerin von einem auf den anderen Tag | |
all ihre Jobs und musste sich arbeitslos melden. „Es war eine komplette | |
Katastrophe“, sagt sie im Videochat-Gespräch. „Mein Geld habe ich vorher | |
nur mit Konzerten verdient, ich habe von der Hand in den Mund – oder besser | |
gesagt – vom Konzert in den Mund gelebt.“ | |
Sarges war Live-Gitarristin und -Sängerin in den Bands von Kat Frankie und | |
[1][Holly Herndon]. Unter dem Alias Ossi Viola brachte sie mit dem | |
Italopop-Duo Itaca im Glitzerkostüm die wirklich wahre Disco-Romantik der | |
Eighties auf die Bühne. Als das verdammte Virus kam, war’s vorbei mit | |
alldem. | |
Doch es gab eben auch noch ihre eigene Band, The Sticky Fingers. Gegründet | |
hatte sie diese bereits 2017, im selben Jahr spielte die Gruppe ihren | |
ersten Auftritt im Madame Claude. Sarges schreibt die Songs, spielt Gitarre | |
und singt in dem Quintett, live gibt die 33-Jährige auch gern den Comedian | |
und die Entertainerin. Pläne für ein Album gab es schon lange, doch mit dem | |
ersten Lockdown war der richtige Zeitpunkt gekommen, es fertigzustellen. | |
Die Veröffentlichung wurde coronabedingt noch mal vom November 2020 in den | |
Januar dieses Jahres verlegt. Jetzt erscheint es, das selbst betitelte | |
Album „Albertine Sarges & The Sticky Fingers“. | |
„In den vielen Jahren, in denen ich als Live- und Sessionmusikerin mit | |
anderen Künstlern gearbeitet habe, wuchs bei mir das Bedürfnis, zu hundert | |
Prozent mein eigenes Ding zu machen“, sagt sie. „Bei der Arbeit mit Kat | |
Frankie und Holly Herndon habe ich viel gelernt – unter anderem, dass man | |
nicht perfekt sein muss. Man muss nur wissen, worin man gut ist und was | |
einem wichtig ist.“ | |
Theatralik und Humor | |
Worin sie gut ist, das kann man zum Beispiel in den Singles [2][„Free | |
Today“] oder „The Girls“ hören und in den Videoclips dazu sehen. Sarges | |
aktualisiert einen Sound von Bands wie The B-52’s, They Might Be Giants und | |
Talking Heads, ihre Band zeichnet Theatralik und Humor aus, sie selbst legt | |
als Rampensau eine rotzige Attitüde an den Tag. | |
Der Song „Free Today“ etwa ist eine Feier des feministischen Aufbruchs und | |
ein fröhlich gereckter Mittelfinger zugleich: „And you don't shake hands/ | |
If the hands are not just right“, singt Sarges darin zu hüpfenden | |
Orgelklängen, funky Gitarren und Claphands. Trotz musikalischer Referenzen | |
an die Siebziger und Achtziger ist ihr Sound sehr gegenwärtig, zu Beginn | |
der Befreiungssause „Free Today“ liest Sarges eine Passage aus dem Buch | |
„Living a Feminist Life“ von der queeren, feministischen Autorin Sara | |
Ahmed. | |
Bis zu ihrem ersten eigenen Album brauchte Sarges einen längeren Anlauf. | |
Geboren wird sie 1987 in Westberlin, sie wächst in Kreuzberg auf. Ihr Vater | |
und ihre Mutter sind beide Autor_innen, die sich kritisch mit deutscher | |
Geschichte befassen. Zudem sind ihre Eltern Hobbymusiker_innen, Albertine | |
bekommt ihre erste Kindergitarre im Alter von 5 Jahren, als Kind spielt sie | |
auch Klavier. In Teenager-Jahren schreibt sie dann Weird-Folk-Songs, tritt | |
mit 15 Jahren bereits auf. Ihre ersten musikalischen Einflüsse sind Folk | |
und Rock: „Alle Bands, die bei Woodstock aufgetreten sind, habe ich rauf- | |
und runtergehört. Stark geprägt haben mich zum Beispiel Crosby, Stills, | |
Nash & Young. Ich habe viel Seventies gehört.“ | |
So verwundert es auch nicht, wenn Sarges sich im Song „The Girls“ als | |
Hippie outet: „I like them deep/ Cause deep down I’m still a hippie“, sin… | |
sie darin und malt sich aus, wie es wäre, mit den Sticky Fingers | |
(„klebrigen Finger“) durch einen weiten aprikosenfarbenen Himmel zu | |
fliegen. Im Übrigen geht der Bandname nicht auf das gleichnamige | |
Rolling-Stones-Album zurück, sondern ist der Tatsache geschuldet, dass die | |
Musikerinnen in frühen Bandtagen mit Popcorn-verklebten Händen ihre | |
Instrumente bedienten. | |
Amore per la musica | |
Doch bevor die Sache mit den klebrigen Fingern beginnen soll, verlässt | |
Sarges 2009 Berlin, um Musikwissenschaft, Literatur und Musiksoziologie in | |
Leipzig und Rom zu studieren – von dort exportiert sie dann den | |
Schmachtfetzen-Italopop nach Berlin. 2013 kehrt sie zurück in ihre | |
Heimatstadt. Das Duo Itaca wird zu einem kleinen, aber viel beachteten | |
Szenephänomen, Kat Frankie und Holly Herndon werden auf Sarges aufmerksam | |
und holen sie in ihre Bands. Fortan ist sie sehr viel auf Tour in aller | |
Welt, 2019 spielt sie etwa 150 Konzerte. Mit Itaca tourt sie auch durch die | |
USA. | |
Bei den Sticky Fingers hat sie bekannte Gesichter aus der Berliner | |
Musikszene um sich geschart, aktuell sind es die neu dazugekommene | |
Bassistin Shanice Ruby Bennett (Kat Frankie), Schlagzeuger Robert | |
Kretzschmar (Masha Qrella, Kat Frankie) und Flötistin Lisa Baeyens (diverse | |
Ensembles). Unter ihnen ist Sarges die einzige Autodidaktin: „Alle anderen | |
haben ihr Instrument studiert, ich bin technisch nicht so versiert wie | |
sie“, sagt sie. Im Pop aber sei Technik ja nicht alles, „es geht auch | |
darum, dass du deinen eigenen Style, eine Haltung und eine Message | |
mitbringst.“ | |
Im Jahr 2020 hat Sarges dann nicht nur die Aufnahmen fertig bearbeitet, die | |
schon Anfang 2019 begannen, sondern sie hat auch ein Management und eine | |
Plattenfirma gefunden. Das britische Label Moshi Moshi Records, das das | |
Album veröffentlicht, ist eine gute Adresse für Indie-Künstler, dort | |
veröffentlichen unter anderem The Wave Pictures, Anna Meredith oder Alexis | |
Taylor (Hot Chip). Sarges ist schon glücklich mit allem, bevor das Album | |
überhaupt erscheinen ist: „So einen Erfolg habe ich als Solokünstlerin in | |
meinem ganzen Leben noch nicht gehabt. Das Album jetzt auf einem guten | |
Londoner Label veröffentlichen zu können und in England im Radio zu laufen, | |
find' ich voll die Krönung.“ | |
Es gab übrigens noch eine positive Wendung in Sarges' Leben, die das | |
Coronajahr (oder muss man inzwischen „das erste Coronajahr“ sagen?) mit | |
sich gebracht hat. Sie hat neben der Musik (und dem Kochen) einen weiteren | |
neuen Lebensinhalt: Vogelbeobachtung. Als dieses Stichwort fällt, legt sie | |
direkt los, erzählt begeistert von der App des Nabu und der | |
Vogelgesangserkennungs-App Birdnet, berichtet von Rohrdommeln, die sie beim | |
Videodreh in Dahmsdorf gesehen hat, schwärmt von der Artenvielfalt in | |
Berlin und ob es nicht irre sei, dass es hier mehr Nachtigallen gebe als in | |
ganz Bayern. | |
Die Vogelstimmen in ihre Musik zu integrieren, käme nicht wirklich infrage, | |
sagt sie. Aber sie schätze das „Birding“ als Achtsamkeitsübung. „Das is… | |
auch eine Art Meditation, empty your mind. Insofern hat mich das schon doll | |
beeinflusst. Es hilft dir mit Stress oder Leistungsdruck umzugehen.“ Gut | |
möglich, dass da auch ein kleines bisschen der innere Hippie aus Albertine | |
Sarges spricht. | |
29 Jan 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Elektronik--Album-von-Holly-Herndon/!5594773 | |
[2] https://www.youtube.com/watch?v=qAxvEGqKxMk | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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