# taz.de -- Album „Girl Missing“ von Albertine Sarge: Sie ist eine Boje | |
> Albertine Sarges hat in ihrer Kreuzberger Jugend viel hippieske Musik | |
> gehört und legt nun das Album „Girl Missing“ über Freundschaften vor. | |
Bild: „I never needed anyone/ but hanging out was so much fun“. Albertine S… | |
What Is Love? Antworten auf diese grundsätzliche Frage gibt die Popmusik | |
zuhauf. Wie es ist, nach ihr zu suchen. Liebe dort zu finden, wo man sie | |
nicht vermutet. Und natürlich auch, wie es sich anfühlt, wenn sie sich in | |
Luft auflöst. | |
Wenn es in platonischen Freundschaften knirscht, sieht es mit Beistand aus | |
den gesellschaftlichen Resonanzräumen dagegen mager aus. Dabei sind | |
durchaus ähnliche Gefühle zu verdauen. Eifersucht, Konkurrenzgebaren, | |
Sehnsucht. Vielleicht auch Kummer, wenn Schluss ist. Rituale, diese Gefühle | |
aufzufangen, gibt es kaum. Und schon gar keine tröstenden Songs. | |
Zumindest bis jetzt. Genau so ein Ende einer Freundschaft ist zentrales | |
Thema von Albertine Sarges neuem Album „Girl Missing“. Eine enge Freundin, | |
erzählt die Berliner Künstlerin, brach den Kontakt zu ihr ab – ohne Streit, | |
ohne Erklärung. So handelt der Titelsong nicht zuletzt davon, wie viel | |
schwerer es ist, auszuhandeln, wofür platonische Nähe überhaupt steht – | |
verglichen mit romantischen Beziehungen: „I never needed anyone/ She didn’t | |
either but/ hanging out was so much fun“ – ein Spaß, der sich in treibendem | |
Sound und schwebendem Gesang spiegelt. | |
## Einsamkeitspandemie greift um sich | |
Beim Gespräch mit der taz holt die 37-jährige Musikerin weit aus: „In | |
unserer Gesellschaft haben Leute kaum Zeit, ihr Privatleben zu pflegen. | |
Eine Art Einsamkeitspandemie greift um sich, weil die Menschen keine | |
stabilen sozialen Netzwerke außerhalb der Familien mehr haben. Und | |
Freundschaften sind in vielerlei Hinsicht unterbewertet. Auch, weil man | |
nirgendwo vermittelt bekommt, wie wichtig sie sind. Die westliche | |
Gesellschaft tendiert dazu, in Freundschaften ein juveniles Verhalten zu | |
sehen – nach dem Motto: ‚Das waren noch Zeiten, in denen wir gemeinsam um | |
die Häuser gezogen sind.‘“ Was dann oft unter die Räder kommt, sobald | |
Menschen berufstätig sind und Familien gegründet haben. | |
Sogenanntes Ghosting, also der Kontaktabbruch durch Abtauchen ohne weitere | |
Erklärung, den gibt es zwar in den unterschiedlichsten Zusammenhängen. Doch | |
zumindest in Liebesbeziehungen gilt ein solches Verhalten als No-Go, noch | |
schlimmer selbst als eine Trennung per SMS. | |
Wenn Freundschaften hässlich enden, folgt nach außen hin oft nur | |
Schulterzucken. Auch wenn die Emotionen andere sind: „I stop by the old | |
coffee shop/ Always makes me think/ of how she talks and everything sings/ | |
in my fantasy“, croont Sarges in „Girl Missing“. | |
## Break-up-Verarbeitungsalbum | |
Auch der minimalistisch instrumentierte Folksong „Reflections“ – ein | |
Frühwerk, den Sarges bereits in ihrer Jugend komponierte – kreist um | |
Ähnliches. Im Grunde sagt der Text „Ich bewundere sie, sie ist toll. Doch | |
sie ist gegangen“, erklärt Sarges. Entstanden war der Songtext als Reaktion | |
auf den Streit mit einer Freundin. Sarges hatte das Gefühl, „dieses | |
Break-up-Verarbeitungsalbum sei das Traurigste, was ich je gemacht habe und | |
jemals machen werde“. | |
Das Feedback von Freunden war ein anderes. Die fanden dessen Anmutung gar | |
nicht traurig. Dem kann sich die Autorin durchaus anschließen. Der Groove | |
ist treibend, kommt zwischendurch dreampoppig daher – und oft blitzt in | |
den Songtexten auch schräger Humor durch. | |
„Meine Persönlichkeit ist eine Art Boje. Auch wenn ich Tiefgang entwickele, | |
zieht es mich nach oben. Auch mit den Liedern. Aus einer Melancholie heraus | |
lande ich dann doch wieder bei einem aktiven Andante, will Groove und | |
Bewegung.“ Was Sarges, die in ihrer Kreuzberger Jugend viel hippieske Musik | |
hörte – die Eltern waren Hobbymusiker –, „besonders abholt, sind | |
mehrstimmige Gesänge mit Gitarren“. Das passt bei aller Eklektik zu ihrem | |
Sound, der sich mal Richtung Folk, dann aber zu Psychedelik oder Soul | |
streckt. | |
„Girl Missing“ ist Sarges’ zweites Album nach [1][„The Sticky Finger“ | |
(2021]) – das ihr mit dem feministisch-programmatischen und doch luftigen | |
„Free Today“ einen Hit in Großbritannien beschert hatte. Dort sitzt auch | |
ihr Label. Sie selbst bezeichnet sich als „late bloomer“, weil sie erst im | |
Alter von 33 ihr Debütsoloalbum aufnahm. „Vorher habe ich Backing Vocals in | |
jeder verdammten Band der Stadt gesungen.“ | |
## Den Italo-Pop der achtziger nach Berlin geholt | |
In dieser Aussage steckt eine gehörige Koketterie, hat die umtriebige | |
Multiinstrumentalistin sich doch keineswegs hinter der Konkurrenz | |
versteckt. Sondern etwa, nach ihrem Auslandsjahr im Rom (sie studierte | |
Musikwissenschaft) kurzerhand als eine Hälfte des Duos Itaca den Italo-Pop | |
der achtziger Jahre nach Berlin gebracht – und zwar so überzeugend, dass | |
sogar Bekannte glaubten, Albertine Sarges habe italienische Wurzeln. | |
Angesichts der Songtexte, in denen es darum geht, wie „marode, sozial | |
ungerecht und abgefuckt“ vieles dort ist, scheint durchaus bemerkenswert, | |
dass Itaca sogar zur italienischen Version der Castingshow „X Factor“ | |
eingeladen war. Zwischenzeitlich ist aus dem Projekt das verästelter | |
klingende Nachfolgeprojekt Ostia geworden. | |
Zudem war Sarges [2][Teil des Vokalensembles von US-Experimentalmusikerin | |
Holly Herndon]; auch mit Kat Frankies A-Cappella-Ensemble Bodies stand sie | |
auf der Bühne. Sarges arbeite an Theaterproduktionen mit, etwa bei | |
Christiane Rösingers unterhaltsamen Polit-Revuen. Für die Komische Oper | |
entwickelte sie ein vergnügliches Musiktheater über Düfte – auf die Idee | |
kam sie, als sie feststellte, wie viel Poesie in oft inbrünstigen | |
Onlinerezensionen über Parfüms steckt [3][(die Show ist auch bei „Arte | |
Concerts“] zu sehen). | |
Sarges Spaß am Spiel mit der Sprache scheint beim Gespräch immer wieder | |
durch. Zu vielem hat sie etwas zu erzählen: von ihrem Faible für | |
Vogelbeobachtung – einem Hobby, das sie in der Pandemie entdeckte – bis zur | |
begeisternden Lobpreisung von David Foster Wallaces Opus magnum | |
„Unendlicher Spaß“. Ein Exemplar dieses Romanepos steht zufällig in | |
Sichtweite, als wir uns in einem Café mit Buchladen treffen. | |
## Die Scherben und Biermann | |
Warum begegnete man ihrem assoziationsdichten Blick auf die Welt nicht auch | |
in ihren zwar bisweilen surrealen, aber vergleichsweise luftigen englischen | |
Lyrics? Sarges erzählt, sie habe kaum Vorbilder, was deutsches Texten | |
angeht. Und: „Ich habe überhaupt wenig deutschsprachige Musik mitbekommen – | |
außer durch meine Eltern, die Ton Steine Scherben und Wolf Biermann hörten. | |
Mit der Musik der Hamburger Schule etwa kann man mich jagen, das ist mir zu | |
diskurshaft.“ | |
Oft stamme die Musik von Männern, die beweisen wollen, dass sie etwas | |
verstanden haben. „Diesen politischen Anspruch habe ich nicht – auch, weil | |
er mich wegbringt von der Magie des Musikmachens.“ Und doch, so sagt | |
Albertine Sarges, glaube sie fest daran, dass sie auch mal Musik auf | |
Deutsch machen werde. So oder so: Langweilig wird es im flirrenden Kosmos | |
der Albertine Sarges kaum werden. | |
1 Mar 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Debuetalbum-von-Albertine-Sarges/!5743520 | |
[2] /Methodenstreit-ueber-Elektronik/!5640883 | |
[3] https://www.youtube.com/live/szkbJoV4WMM | |
## AUTOREN | |
Stephanie Grimm | |
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