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# taz.de -- Musik für computergesteuerte Maschinen: Wenn Alexa mit Eliza singt
> Das Opernprojekt „Over The Edge Club“ testet die Kreativität künstlicher
> Intelligenzen. Die erste Besichtigung findet online statt.
Bild: Reflexion über Mensch- und Maschinensein im Spiel farbiger Prismen: „O…
Was wir unter Zukunft verbuchen, ist das Gestern von Morgen. Sich dieses
Gestern über den Startpunkt Morgen vorzustellen, versucht [1][Gamut Inc,
ein vom Komponisten Maciej Sledziecki und der Musikerin Marion Wörle]
gegründetes Ensemble für computergesteuerte Musikmaschinen, schon länger.
Für das aktuelle Projekt „Over The Edge Club“ gesellt es zu seinen schon
bekannteren retrofuturistischen Musikrobotern künstliche Intelligenzen. Die
agieren einerseits auf der performativen Ebene und sind andererseits das
Thema der Inszenierung.
Hauptfigur ist ein Programm, das sich durch manche seiner
Vorgängerversionen durcharbeitet und dabei über Menschsein und Maschinesein
reflektiert. Das ist ein schöner retrofuturistischer Zugriff.
Zu Beginn des Stücks (im Stream, der vorab für die Presse zu sehen war)
fühlt man sich zunächst vom Heute um knapp 100 Jahre zurückversetzt. Die
Bühne besteht aus abstrakten Elementen, die einem futuristischen oder
konstruktivistischen Bühnenbild der 1920er Jahre entnommen scheinen. Ein
paar Würfel türmen sich zu Säulen, über ihnen krümmt sich ein Bogen. Und im
Zentrum vollführt der Tänzer Ruben Reniers ein paar technoid abgehackte
Bewegungen.
Eine Stimme ertönt, die ziemlich humorbefreit vom Menschen erzählt. Diese
Spezies wird dabei als reichlich aggressiv, als rücksichtslos und auch als
ziemlich beschränkt dargestellt. Vor allem sei sie unfähig, sich neue
Sachen auszudenken und erst recht sich denen dann hinzugeben.
## Was wurde wohl eingespeist?
Das stimmt zwar alles irgendwie; zu ähnlichen Schlussfolgerungen könnte
eine extraterrestrische Lebensform beim Earth Spotting tatsächlich kommen.
Die Aussage wirkt allerdings auch ziemlich unterkomplex, denn sie
unterscheidet nicht zwischen dem Verhalten von Individuen und der aus
Individuen geformten Masse – in der die Individuen dann gern ihre
Individualität verlieren. So weit denkt die KI aber noch nicht, leider.
Hört man den eher flachen Texten zu, die zum großen Teil vom
Sprachalgorithmus GPT-3 verfasst sein sollen – so geben es Wörle und
Sledziecki jedenfalls an –, so fragt man sich, welche Texte am Anfang der
Deep-Learning-Prozesse dort wohl eingespeist wurden. Ein bisschen
Machiavelli könnte darunter sein, denn oft geht es um Macht. Ein paar
logische Strukturen könnten vom Wittgenstein-Verwerten herkommen.
Immerhin ist die KI nicht so peinlich rassistisch und sexistisch wie einst
[2][Microsofts Chatbot Tay], der durch offene Kommunikation mit
Twitter-Usern zu einer ziemlich monströsen Verbalbeleidungsmaschine
mutierte und schnell vom Netz genommen werden musste. Aber es wird doch
offensichtlich, dass zumindest Libretto-Schreiber*innen aktuell noch nicht
fürchten müssen, von einer KI verdrängt zu werden.
[3][Profis der Strategiespiele Schach und Go mussten allerdings schon die
Überlegenheit der logischen Maschinen anerkennen.] An Deep Blue, den
Schachcomputer, der 1997 den damaligen Weltmeister Garri Kasparow besiegte,
und an Alpha Go, der vor vier Jahren die menschliche Go-Elite bezwang,
erinnert sich die KI als offensichtliche Vorstufen ihrer selbst dann auch
genüsslich.
## Geringes Maß an Nachvollziehbarkeit
Etwas weniger welterklärerisch wird es, wenn verschiedene Stimmen mit
unterschiedlichen Graden der Künstlichkeit miteinander kommunizieren.
Leider wird aus der Situation nicht ersichtlich, ob es sich tatsächlich um
Alexa & Co handelt, ob es deren aufgezeichnete Dialoge sind oder ob sich
die KIs sogar live gegenseitig befragen. Letzteres wäre zumindest ein
echter Coup, eine Chatbot-Impro gewissermaßen.
Aber das geringe Maß an Nachvollziehbarkeit ist generell bei
softwaregestützten Performances ein Problem. Musiker sieht man in Saiten
und Tasten greifen, bei Sängern den Brustkorb sich heben oder senken. Die
Prozesse in den Maschinen, die ihre Daten an die Lautsprecher ausgeben,
bleiben hingegen dem Blick verborgen. Und selbst wenn man wie später bei
„Over The Edge Club“ wabernde Strichcodes und Interferenzen auf den
mittlerweile zu Screens umfunktionierten Würfelelementen sieht, so bleibt
doch unklar, ob dies bloße Ornamentik ist, also die Illustration von
Rechenvorgängen, oder ob sich daraus tatsächlich der je aktuelle Zustand im
Arbeitsspeicher ablesen lässt.
Interessanter wird es schon, wenn das Chatbot-Ensemble Gesang zu
produzieren versucht. Sehr technische Geräusche mischen sich da mit
melodischen Einsprengseln – ganz so, als sei die KI hauptsächlich auf Neue
Musik trainiert, hätte aber auch ein wenig Pop und ein wenig Klassik
genossen.
## Pionierarbeit
Mehr her macht da schon der Algorithmus, der aufs Erstellen menschlicher
Gesichter trainiert ist. Aus einer bunten Pixelwolke kristallisieren sich
mal Männergesichter und mal die von Frauen heraus. Ein wild mäandernder
Porträtstrom ergießt sich über die Projektionswürfel und verschmilzt mit
Stimmen und Musik. Das macht bereits Eindruck am eigenen Bildschirm. Die
Raumwirkung, wenn man das Stück irgendwann einmal live im Theater im
Delphi, dem früheren Stummmfilmkino in Weißensee, sehen kann, sollte dieses
Erlebnis noch übertreffen.
Zum Datum der geplanten Uraufführung am 20. Dezember wird Gamut Inc
zunächst einmal den Livestream der Inszenierung auf der [4][eigenen
Website] und der des [5][Delphi] ausspielen. „Over The Edge Club“ ist ein
ambitionierter Versuch, die kreativen Potenziale von künstlichen
Intelligenzen zu heben.
Es ist allerdings auch Pionierarbeit – und das Ergebnis an manchen Stellen
so ungelenk, dass man unwillkürlich an die ersten tapsigen Schritte des
synthetischen Menschen des Dr. Frankenstein denkt. In anderen Momenten
entstehen allerdings auch sirenengleiche Klänge, die mit einer nicht von
Menschenhand gemachten Bilderflut verschmelzen und den Weg in noch nie
begangene Traumlandschaften weisen.
19 Dec 2020
## LINKS
[1] /Festival-fuer-Maschinenmusik-in-Berlin/!5340636
[2] /Prosa-von-Social-Media-Robotern/!5306447
[3] /Kuenstliche-Intelligenz-und-Schach/!5465257
[4] http://gamutinc.org/
[5] https://theater-im-delphi.de/
## AUTOREN
Tom Mustroph
## TAGS
Musiktheater
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