| # taz.de -- Performance Delivery „Cannibal 4 Life“: Gastmahl mit Abwesenden | |
| > Lebensmittellieferservice ist auch im Lockdown erlaubt, Live-Performance | |
| > hingegen nicht. Also liefern Jan Brokof und sein Team ein Gaumentheater. | |
| Bild: Ankündigungsfoto zu der Performance Delivery Theatre „Cannibal 4 Life�… | |
| Aus Marokko kenne ich den Brauch, einen Platz mehr einzudecken, als es der | |
| Anzahl der eingeladenen Gäste entspricht. Er gilt dem unbekannten Gast. Als | |
| ich für den Delivery-Theater-Abend „Cannibal 4 Life“ per Mail aufgefordert | |
| werde, den Esstisch so zu decken, als würde ich Gäste erwarten, | |
| vervielfältige ich das marokkanische Prinzip und decke gleich für drei | |
| Unbekannte mit. | |
| Eine „Vegan Cannibal Bento-Box“ ist angekündigt. Sie ist der Überrest ein… | |
| Theatergastmahls, das der Künstler Jan Brokof und Team ursprünglich für das | |
| Ballhaus Ost geplant hatten. | |
| Gastmahlthema ist das „Anthropophagische Manifest“ des brasilianischen | |
| Autors [1][Oswald de Andrade] von 1928, das unter anderem vorschlägt, mit | |
| dem Erbe des Kolonialismus so zu verfahren wie einst die Tupi mit ihren | |
| Feinden: einverleibend. Aus dem Verwertbaren entsteht neue Energie, der | |
| Rest wird ausgeschieden. | |
| Kurz nach 8 kommt die Box, bedruckt mit menschlichen Körperteilen, einer | |
| Art Kompost-Infografik sowie dem Sinnspruch „white desire is a killer“. Zum | |
| Glück geht der Inhalt des Päckchens (Menü von Lars_Exit) behutsam mit | |
| meinem Begehren um: Popcorn, eine Brezel mit den schwarz aufgemalten | |
| Lettern DEAD, ein Spieß mit Marshmallows, ein Gläschen mit vier | |
| fermentierten Shiitake, eines mit Sauerkraut, ein Teigansatz. | |
| ## „Kurz warm machen“ | |
| Außerdem ein Gläschen nicht näher definierbaren Inhalts mit der Aufschrift | |
| „Kurz warm machen“. Der Inhalt ist geruchsneutral, ähnelt aber in der Farbe | |
| dem Apfelmus, das neulich auf meinem Herd explodierte, weshalb ich ihn | |
| vorsichtshalber evakuiere. Dazu ein kolorierter Holzschnitt, auf dem | |
| Menschen mit Gedärmen zu sehen sind, und ein bedrucktes Teiltischtuch. | |
| Auch die ausgeräumte Box ist bedruckt, eine Mischung aus grafischer Kunst | |
| und Programmzettel. Die ewige Kunstfrage drängt sich auf: erst lesen und | |
| dann erleben oder umgekehrt? Aus Hungergründen entschließe ich mich für die | |
| naive Variante. | |
| Nach den vier erstaunlich intensiven Pilzen, verlängert von Brezelstücken, | |
| die hinter den kulinarischen Höhepunkten meiner baden-württembergischen | |
| Internatsinternierungsphase zurückbleiben, plagt mich schlechtes Gewissen, | |
| ohne weitere Lektüre etwas zu verpassen. Außerdem verbleibt vor dem | |
| BBQ-Marshmallow-Nachtisch eigentlich nur noch Popcorn und das Sauerkraut | |
| als Gaumentheater, bevor dann im Verdauungstrakt weitergespielt wird. | |
| Die Pilze seien auf menschlichen Haaren gezüchtet, lese ich. Dadurch wird | |
| klar, warum ein Friseurtermin im aufwendig gemachten Begleitfilm, dessen | |
| Webadresse sich ebenfalls in der Box befindet, vorkommt. „Der menschliche | |
| Körper ist ein Kollektiv aller möglicher nicht-menschlicher Dinge“, wird | |
| [2][Timothy Morton,] der populäre Vertreter der objektorientierten | |
| Ontologie und einer „dark ecology“ in gefetteten Buchstaben zitiert. | |
| ## Kannibalistisches Theater | |
| Dass die Wahl auf ihn fiel, scheint den Ansatz des kannibalistischen | |
| Theaters zu bestätigen, sich in nicht begreifbare Denkmodelle mit außerhalb | |
| des Denkens liegenden Mitteln hineinzubewegen. | |
| „Was gegessen wurde, war nicht der andere, es war sein Status als Feind“, | |
| heißt es im Begleitfilm mit Bezug auf die Tupi. Und was ist mit der | |
| Fleischzulage? Eigentlich befindet sich der Abend in einem doppelten | |
| Dilemma: Aus Sicht europäischer Kulturgeschichte sind anthropophage Rituale | |
| genauso schwierig vertretbar wie aus postkolonialer Kulturgeschichte die | |
| Aneignung davon, einschließlich der Verwertung für einen | |
| Pandemie-Delivery-Theater-Abend. | |
| „Cannibal 4 Life“ begehrt trotzdem eine Auseinandersetzung – mit | |
| Erklärungsmodellen aus der Mikrobiologie und Kapitalismuskritik, | |
| symbolischen und sinnlichen Versuchsanordnungen. | |
| Ich schaue in meine Tafelrunde. Inzwischen haben meine unbekannten Gäste | |
| Form angenommen, auch mittels Telefonchanneling. Ein Gespräch zu | |
| Kannibalismusarten, über die im Film doziert wurde, entwickelt sich: | |
| Hungerkannibalismus, Endokannibalismus (Familienmitglieder essen), | |
| Exokannibalismus (Fremde essen). Zu der Hungervariante fallen uns ein paar | |
| geschichtliche Schiffbruchbeispiele ein, zur Exovariante die Mutmaßung, ein | |
| solches Schicksal könne einen Rockefeller-Sohn auf Neuguinea ereilt haben. | |
| Dann kommen wir auf das paravirulente [3][Thema der Eröffnung des Humboldt | |
| Forums] zu sprechen sowie der damit verbundenen Praxis, sich als Teil der | |
| Marketingstrategie Hofnarren, die dem Souverän die Meinung sagen, | |
| einzuverleiben. Zu welcher Kategorie gehört ein Schlossherr, der seine | |
| Kritiker*innen frisst? Wahrscheinlich genauso wie der westliche | |
| Kapitalismus zu allen dreien. Sicher ist: Ich kann nach diesem Dinner nicht | |
| mehr sicher sagen, dass ich noch nie einen Menschen gegessen habe. | |
| 22 Dec 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Die-brasilianische-Tropicalismo-Bewegung/!5386980 | |
| [2] /Buch-ueber-Oekokritik/!5467150 | |
| [3] /Humboldt-Forum-in-Berlin-eroeffnet/!5733910 | |
| ## AUTOREN | |
| Astrid Kaminski | |
| ## TAGS | |
| Theater | |
| Netzkultur | |
| Kannibalismus | |
| Performance | |
| Dinner | |
| Podcast-Guide | |
| Chemikalien | |
| Restitution | |
| Musiktheater | |
| Protokoll Arbeit und Corona | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Podcast-Reihe zu Mutterschaft: Wer ist jetzt die Supermutter? | |
| Eine unterhaltsame Podcast-Reihe von Felizitas Stilleke diskutiert | |
| Mutterschaft. Auch Nichtmutterschaft und mögliche dritte Wege sind Thema. | |
| Ökoprojekt Komposttoiletten: Die Scheiße soll aufs Feld | |
| Komposttoiletten gelten schon lange als Alternative zu Spülklos. Eine neue | |
| Richtlinie könnte helfen, menschliche Fäkalien als Dünger zu nutzen. | |
| Kulturpolitikerin Petra Olschowski: „Wir wollen die Strukturen bewegen“ | |
| Coronakrise, Soloselbständige, Restitution, Change-Management: Ein Gespräch | |
| mit der baden-württembergischen Staatssekretärin Petra Olschowski. | |
| Musik für computergesteuerte Maschinen: Wenn Alexa mit Eliza singt | |
| Das Opernprojekt „Over The Edge Club“ testet die Kreativität künstlicher | |
| Intelligenzen. Die erste Besichtigung findet online statt. | |
| Einbruch durch Corona: Kulturbranche droht Konformismus | |
| Eine Studie des Wirtschafsministerums prognostiziert fatale Folgen für die | |
| Kulturbranche. Es drohen Pleiten und Monopolisierung. |