# taz.de -- Einbruch durch Corona: Kulturbranche droht Konformismus | |
> Eine Studie des Wirtschafsministerums prognostiziert fatale Folgen für | |
> die Kulturbranche. Es drohen Pleiten und Monopolisierung. | |
Bild: Konzert war mal, jetzt sind Gamer auf dem Vormarsch – hier beim Zocken … | |
Die Kulturbranche fiel im Lockdowndiskurs als schnöde Freizeitaktivität oft | |
unter den Tisch. Zu Unrecht, denn ihr ökonomisches Gewicht ist beachtlich. | |
In dem Monitoringbericht „Kultur- und Kreativwirtschaft 2020“, gerade | |
herausgegeben vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, rangiert | |
sie mit einer Bruttowertschöpfung von etwa 106 Milliarden Euro (2019) auf | |
gleicher Höhe mit Maschinenbau (111 Milliarden) und deutlich vor den | |
Finanzdienstleistern (74 Milliarden). | |
Sie produziert doppelt so viel wie die Chemische Industrie (52 Milliarden). | |
Auch die Anzahl der Beschäftigten, 1,8 Millionen Personen, darunter knapp | |
980.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, ist bemerkenswert. Ihren | |
starken Auftritt verdankt sich allerdings der Games- und Softwareindustrie, | |
die auch zur Kreativbranche gezählt wird. | |
Fast die Hälfte aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten (430.000) | |
und mehr als ein Drittel der Bruttowertschöpfung (36 Milliarden) ordnet die | |
Studie diesem Bereich zu. Klassische Gattungen wie darstellende Kunst, | |
bildende Kunst und Literatur trugen zwischen 1,2 und 8,2 Milliarden Euro | |
bei. Auch Architektur, Film, Presse und Werbung werden übrigens zur Kultur- | |
und Kreativbranche gezählt. | |
So heterogen wie diese ist, so unterschiedlich schlagen sich auch die | |
Auswirkungen der Pandemie in dem Bericht nieder. In dem Szenario, das von | |
einem zweiten Lockdown in der zweiten Jahreshälfte ausging, wird 2020 für | |
die darstellende Kunst ein Umsatzeinbruch von 75 Prozent erwartet. Für die | |
bildende Kunst liegt er bei 64 Prozent, in der Filmbranche bei 72 Prozent | |
und in der Musik 59 Prozent. | |
## Im Land der Gamer und Streamer | |
Für die Games- und Software-Industrie prognostiziert man einen Rückgang von | |
nur zehn Prozent. Angesichts der gestiegenen Nutzung von Streaming und dem | |
allgemeinen Digitalisierungsboom überrascht dieser Rückgang. Dennoch lässt | |
sich auch rein ökonomisch eine massive Verschiebung von Kulturaktivitäten | |
vom Konzert-, Theater- und Kinoerlebnis hin zum Digitalen und Distanzierten | |
ablesen. | |
Ein Blick in die Teilbranchen offenbart den Wandel noch deutlicher. Für die | |
Musikbranche erwartet der Bericht „eine Masseninsolvenz der gesamten Club- | |
und Livespielstättenbetreiber“. Audiostreaming hingegen sei „Wachstumsmotor | |
der Musikindustrie“. | |
Das bedeutet nicht nur eine Verlagerung ins Digitale, sondern könnte zu | |
stärkerer Monopolisierung und noch stärkerer Herausbildung von | |
Massengeschmack durch [1][wenige Plattformen] führen. Experimentellere und | |
weniger konventionelle Künstler*innen, die im Konzertbereich Chancen | |
zur Durchsetzung des eigenen Stils hatten, werden weiter an den Rand | |
gedrängt. Im Buchmarkt begann diese Entwicklung bereits. „Verlage | |
reagierten angesichts fehlender Präsentationsmöglichkeiten für neue | |
Werke mit einer Anpassung der Programmplanung. | |
Geplante Neuerscheinungen wurden verschoben, Titel komplett gestrichen, | |
häufig Nischentitel oder Bücher bisher unbekannter AutorInnen“, wird | |
Alexander Skipis, Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins des Deutschen | |
Buchhandels, zitiert. Auch auf dem Kunstmarkt dürften die jüngeren | |
Künstler*innen zu den Verlierern gehören. Ihre Positionen könnten sich | |
wegen der Absage von Messen weniger erfolgreich durchsetzen. Die | |
Filmbranche wird durch Schließung von Kinos, rechtliche Unsicherheiten und | |
Drehverbot gleich von zwei Seiten bedroht. | |
Bei der darstellenden Kunst, die sich digital nur begrenzt vermarkten | |
lässt, seien vor allem Privattheater und freie Künstler*innen gefährdet. | |
Die Pandemie könnte zur Konzentration auf den öffentlich geförderten | |
Bereich führen. Der [2][Monitoringbericht] führt vor Augen, dass die | |
Schließung kultureller Infrastruktur nicht nur Arbeitsplätze gefährdet, | |
sondern leider auch einen Strukturwandel hin zu stärkerem Konformismus | |
einzuleiten droht. | |
16 Dec 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Streit-um-Streaming-Modelle/!5737347 | |
[2] https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Publikationen/Wirtschaft/monitoringbericht… | |
## AUTOREN | |
Tom Mustroph | |
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