| # taz.de -- Wirtschaftsweise und Coronavirus: Die kapitalistische Pandemie | |
| > Der Weltbiodiversitätsrat empfiehlt, die Wirtschaft umzubauen, um | |
| > künftige Pandemien zu vermeiden. Das würde einen Systemwechsel bedeuten. | |
| Bild: Truthähne werden auf einer US-Autobahn zum Schlachthof gefahren | |
| Als herauskam, dass Sars-CoV-2 vermutlich auf dem Huanan-Markt im | |
| chinesischen [1][Wuhan] auf den Menschen übertragen wurde, fehlte es in den | |
| Beschreibungen des Marktes nicht an Orientalismus: Der Business Insider | |
| meinte, es habe dort „alles“ gegeben und spricht von „Fledermaus-Suppen“ | |
| und „Schuppentier-Embryos“, die Handelszeitung untertitelte ihren Beitrag | |
| mit der Formulierung „von der Bambusratte bis zum Sonnendachs“. | |
| Das Narrativ ist klar: Es waren die Hunde-und-Katzen-essenden Chinesen, | |
| welche die Covid-19-Pandemie ausgelöst haben. Damit rettete sich der | |
| globale Kapitalismus wieder einmal durch kulturrassistische Stereotypen. | |
| Denn wie aus einem Ende Oktober veröffentlichtem Report des | |
| Weltbiodiversitätsrates IPBES hervorgeht, geht die Entstehung von Pandemien | |
| nicht etwa primär auf chinesische Esspraktiken, sondern auf industriell | |
| betriebene Umweltzerstörung zurück. | |
| Es ist bemerkenswert, dass der IPBES-Report, der sich auf mehr als 700 | |
| wissenschaftliche Journalbeiträge stützt, von der Medienlandschaft | |
| mehrheitlich ignoriert wurde. Denn die UN-Organisation macht deutlich: Wenn | |
| wir nicht aufhören „business as usual“ zu betreiben, dann stehen wir am | |
| Beginn einer „Pandemic Era“. | |
| Denn Viren werden dort auf den Menschen übertragen, wo dieser | |
| [2][Biodiversität] vernichtet. Vor allem die Ausbreitung und Intensivierung | |
| industrieller Landnutzung spielt hier eine Rolle. Durch | |
| Ressourcenausbeutung (Holz, Bergbau, Öl), Agrarwirtschaft, | |
| Massentierhaltung und Wildjagd werden natürliche Ökosysteme zerstört, | |
| sodass sich die Viren neue Wirte suchen. Zudem kommt es zu intensiviertem | |
| Kontakt zwischen Wild- und Nutztieren sowie Menschen – Infektionspotenziale | |
| entstehen, die in Pandemien enden können. | |
| ## Urbanisierung führt zu Ausbreitung von Viren | |
| Ist eine Krankheit erst einmal ausgebrochen, führen Urbanisierung, | |
| Slumisierung sowie globale Handels- und Reiserouten zu einer schnellen | |
| Ausbreitung des Virus. Es ist deshalb kein Zufall, dass Pandemien meist in | |
| den Peripherien entstehen, danach aber primär die Zentren des | |
| Globalkapitalismus treffen. Und hier stoßen die Viren auf neoliberalisierte | |
| Gesundheitssysteme, die solchen Belastungen nicht mehr gewachsen sind. | |
| Der Report führt praktisch alle Ausbrüche der letzten Jahrzehnte auf die | |
| derzeitige Art zu wirtschaften zurück. So etwa den Sars-Ausbruch 2002, | |
| ebenfalls in China. Da unter anderem in Massen gehaltene Waschbären als | |
| Zwischenwirte identifiziert wurden, waren auch hier Wildtiermärkte schnell | |
| ein zentrales Gesprächsthema. Ignoriert wurde indes, dass die Tiere für die | |
| westliche Fashionindustrie gezüchtet wurden. | |
| Der globale [3][Wildtierhandel] ist übrigens hauptsächlich auf die | |
| westliche Nachfrage nach Haustieren zurückzuführen. Ein kapitalträchtiger | |
| Markt, der seit den 1980er Jahren um 2.000 Prozent wuchs. 2003 führte der | |
| Import exotischer Tiere in den USA bereits zu einem Ausbruch der | |
| Affenpocken – und weitere Infektionen sind zu erwarten, werden hier keine | |
| einheitlichen und effizienten Regulierungen geschaffen. | |
| Schließlich kann auch nicht ignoriert werden, dass es die globale Fleisch- | |
| und Agrarindustrie ist, welche die Umweltzerstörung systematisch betreibt. | |
| Diesen Aspekt umgeht die UN-Organisation allerdings geschickt. Durch | |
| Verweis auf eine angebliche „Corporate Responsibility“ wird erklärt, | |
| Konzerne täten im Grunde nur, was Konsument*innen ihnen befehlen – als | |
| sei das Kapital inhärent demokratisch. | |
| ## Epidemien kosten jährlich ca. eine Billion US-Dollar | |
| Dagegen weist der marxistische Epidemiologe Rob Wallace darauf hin, dass | |
| das Pandemierisiko direkt mit der kapitalistischen Produktionsweise | |
| zusammenhängt. Es gebe Belege dafür, dass in Guinea die Enteignung und | |
| Kapitalisierung der Palmölwirtschaft den Ausbruch der Ebola-Epidemie | |
| ermöglichte. Auch in Ägypten habe die unter dem Mubarak-Regime vollzogene | |
| Konzentration von Agrarwirtschaft und Viehzucht zunächst für eine | |
| Slumisierung gesorgt, da Millionen Menschen an die Stadtränder gedrängt | |
| wurden – und anschließend für Ausbrüche der Vogel- und Schweinegrippe. | |
| Natürlich hat der IPBES mit vielem recht: Es braucht eine internationale | |
| Institution, welche die Forschung koordiniert, Risikogebiete ausmacht und | |
| zum kollektiven Handeln befähigt – ein Pandemiependant zu den Pariser | |
| Klimaverträgen. Teilweise braucht es Aufklärungsarbeit oder schlicht die | |
| Bereitstellung von Kühlkettentechnologie. Auch sind Marktmechanismen nicht | |
| immer falsch: Selbstverständlich sollten Pandemierisiken in die | |
| Finanzierungen von Großprojekten einkalkuliert und ebenso | |
| selbstverständlich sollten im Wiederaufbau nach der Pandemie ökologisch | |
| vorteilhafte Projekte bevorzugt werden. | |
| Doch wenn ein Gesundheitssektor kaum Tropenkrankheiten erforscht, weil die | |
| betroffenen Menschen nicht zahlungskräftig sind, wenn künstliche | |
| Profitbarrieren den freien Austausch von Forschungsmaterial verhindern, | |
| wenn profitorientierte Gesundheitssysteme darin versagen, angemessen auf | |
| Pandemien zu reagieren – dann ist der Markt keine Lösung, sondern das | |
| Problem. Der Gesundheitssektor muss deshalb von den Zwängen des Marktes | |
| befreit werden, weltweit. | |
| Wem traut man zu, eine wirklich nachhaltige Landwirtschaft zu betreiben? | |
| Den Großkonzernen, die in Biodiversität eine auszubeutende Ressource sehen, | |
| oder demokratisch organisierten Landbevölkerungen, welche diese häufig als | |
| schützendes Gemeingut wahrnehmen? Mit Blick auf Organisationen wie Tarun | |
| Bharat Sangh aus Indien, die Wasserläufe durch traditionelle Schlammsperren | |
| wiederherstellt und der hierfür ein Nobelpreis verliehen wurde, scheint die | |
| Antwort klar – und weitere Beispiele finden sich weltweit. | |
| Derweil kosten vermeidbare Krankheitsausbrüche durch industrielle | |
| Umweltzerstörung circa eine Billion US-Dollar jährlich, wie der IPBES | |
| vorrechnet. Können wir uns den Kapitalismus also überhaupt noch leisten? | |
| 18 Dec 2020 | |
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| Timm Kuehn | |
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