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# taz.de -- Corona und Klimawandel: Die Apokalypse ist politisch
> Die tiefgreifende Umgestaltung der Erde hat längst begonnen. „Weiter so“
> kann nicht die Antwort sein. Ein Plädoyer für eine radikale Neuerfindung.
Bild: Finsternis bei Tag: Santa Rosa, USA, im September 2020
Alle sprechen von der [1][Apokalypse], als bedeute sie „das Ende der Welt“.
Aber wir sollten zur ursprünglichen griechischen Bedeutung von „Apokalypse“
als „Enthüllung“ von etwas zurückkehren. Was heute geschieht, von den
kalifornischen Waldbränden bis zur andauernden Covid-19-Pandemie, ist
glücklicherweise noch nicht das Ende der Welt, aber es ist eine warnende
„Offenbarung“.
Die „Offenbarung“ könnte wie folgt lauten: Was, wenn bald einige Teile der
Welt zu einem permanenten „Jahr ohne Sommer“ werden, während es in anderen
Teilen keinen Regen mehr geben wird? Und was, wenn all das in ein und
demselben Land geschehen wird, wie in [2][Thomas Vinterbergs]
Sciene-Fiction-Film „It's All About Love“ (2003)?
Und wieder einmal hat die Realität das Science-Fiction-Szenario
übertroffen. Während die Bay Area im Sommer 2020 von Blade-Runner-Himmeln
durch die [3][Waldbrände] bedeckt war, verwandelten sich die Hitzewellen in
Colorado in Schneestürme. Was uns hier begegnet, ist das, was ich in meinem
neuen Buch „After the Apocalypse“ „eschatologische Tipping-Points“ nenn…
Der Begriff „Tipping-Point“, der heute von Klimawissenschaftler*innen
weithin angenommen wird, bezieht sich in der Regel auf eine nichtlineare
schnelle Veränderung von Teilen des Klimasystems, die irreversibel von
einem Zustand in einen anderen „kippen“. Was ich vorschlage, ist, dass wir,
wenn wir die Vielfalt der Bedrohungen, denen die Menschheit und der Planet
heute ausgesetzt sind, wirklich erfassen wollen, den Begriff
„Tipping-Point“ näher an die Eschatologie, an die Lehre von den letzten
Dingen, heranführen müssen.
## Kaskade von Tipping-Points
Kurz gesagt, neben der bloßen Berücksichtigung von Klimaereignissen sollten
wir den Begriff „Tipping-Point“ erweitern und über die Vernetzung und die …
bereits stattfindende – planetarische Kaskade von Tipping-Points
nachdenken, zu denen neben der Klimakrise auch die immerwährende nukleare
Bedrohung, Pandemien, der Virus des Rassismus, der Zerfall von
Gesellschaften und Bürgerkriege auf der ganzen Welt gehören.
Sowohl die aktuelle Covid-19-Pandemie als auch die Waldbrände in
Kalifornien sind Teil einer tiefgreifenden Umgestaltung der Erde, die am
Rande des Massensterbens steht. Und dies ist nicht nur eine Folge des so
genannten [4][Anthropozäns], sondern ein Ergebnis des Kapitalozäns.
Je mehr Abbau, Expansion und Ausbeutung, die drei Reiter*innen der
Apokalypse, die als globaler Kapitalismus bezeichnet werden, desto geringer
die Überlebenschancen. Mit anderen Worten: Die Apokalypse – auch wenn sie
in unserer Instagram-Ära schnell zur Ware wird (vom Erhabenen zum
Simulacrum) – ist ein politisches Ereignis par excellence.
## Von Laki zur Französischen Revolution
Auch wenn Vulkanolog*innen normalerweise von dieser Art politischer
Vulkanologie absehen, könnten wir den Ausbruch des Supervulkans Laki auf
Island im Jahr 1783 als Beispiel für die Apokalypse als politisches
Ereignis lesen. Ihre Auswirkungen trugen nicht nur zur Zunahme von Armut
und Elend in ganz Europa bei – die Nachwirkungen des Ausbruchs könnten sehr
wohl zu den Ereignissen beigetragen haben, die zur Französischen Revolution
1789 führten.
Erinnern Sie sich an den Ausbruch des Vulkans Eyjafjallajökull in Island im
Jahr 2010, dessen Asche zu über 100.000 Flugstreichungen führte und die
Weltwirtschaft rund 3 Milliarden Pfund kostete? Stellen Sie sich nun die
Episode von 2010 um mehrere hundert Mal stärker vor, und Sie werden eine
Vorstellung von diesem vergangenen katastrophalen Ereignis und seinen
Folgen bekommen.
Der Ausbruch des Laki war der größte bekannte Lavastrom-Ausbruch im
vergangenen Jahrtausend, der zum Tod von rund einem Viertel der
isländischen Bevölkerung führte und in ganz Europa eine Umweltkrise
auslöste. Die Auswirkungen des Vulkanausbruchs in Island erreichten bald
die Schweiz, Polen, Italien und Frankreich, wo Benjamin Franklin, einer der
„Gründungsväter“ der Vereinigten Staaten von Amerika, während seines
Aufenthalts in Paris zur Unterzeichnung des Vertrags von Paris beobachtete,
dass der „trockene Nebel“ Europa in einen bitteren Winter stürzte.
Drei Wochen nach der Eruption erreichte der Nebel Russland, Syrien, den
Irak und vier Wochen später sogar China. Die Welt durchlebte Klimaextreme:
Während Europa 1783 einen glühenden Sommer erlebte, wird dieses Jahr in
Alaska als „die Zeit, in der der Sommer nicht kam“ in Erinnerung behalten.
## Gefrorene Flüsse und Überschwemmungen in Europa
Als der Winter nahte, froren die Flüsse in ganz Europa zu, der
Straßenverkehr überquerte die vereiste Oberfläche der Themse in London,
während europäische Großstädte wie Wien, Paris und Bratislava einige der
verheerendsten Überschwemmungen der Geschichte erlebten. In Prag stieg die
Moldau in nur 12 Stunden um vier Meter an, ein Rekord, der nicht einmal
während der katastrophalen Überschwemmungen im Jahr 2002 übertroffen wurde.
Dann kam der vulkanische Winter, einer der schlimmsten in den letzten 500
Jahren in Europa, und mit ihm Ernteausfälle, Verluste an Viehbestand und
Hungersnot. Und selbst wenn dieses Ereignis noch einige Jahre in der
zukünftigen Geschichte lag, führte alles zum Fall der Bastille.
Die Auswirkungen des Ausbruchs des Laki-Vulkans in Island waren nicht
alleine räumlicher [5][Natur], sie waren nicht nur an Orten auf der ganzen
Welt zu spüren, sie reisten auch durch die Zeit, sie hatten Auswirkungen
auf die politische Realität dieser Zeit und auf die zukünftige Geschichte
selbst.
Ob der Ausbruch von Laki der Auslöser für die kommende Französische
Revolution war oder nicht, können wir immer noch nicht mit Sicherheit
sagen. Sicher ist jedoch, dass die Reaktion der Eliten, ihre Arroganz und
ihr Missmanagement einer totalen Krise, einen fruchtbaren – oder eher
verlassenen – Boden für eine soziale Revolution schufen.
## Die ewige Gegenwart
Die Lehre aus dieser historischen Episode ist, dass wir, wenn wir unseren
gegenwärtigen Moment, den man ebenso gut als „ewige Gegenwart“ bezeichnen
könnte, vollständig erfassen wollen, dringend eine Perspektive der longue
durée entwickeln müssen. Diese muss, solange die Menschen nicht
ausgestorben sind, notwendigerweise die Klassenfrage berücksichtigen,
nämlich die strukturelle Ungleichheit, die in der politischen Ökonomie des
späten Kapitalozäns begründet liegt und zum Globozid führt.
„Wie kann ich dich retten? Es ist bereits geschehen“, sagt James Cole
(Bruce Willis) in dem Film „12 Monkeys“, als ihn 1990 ein Psychiater in
einer psychiatrischen Anstalt fragt: „Werden Sie uns retten?“ Man hält ihn
für verrückt, weil er behauptet, er komme aus dem Jahr 2035, einer Zukunft,
in der fast die gesamte Weltbevölkerung durch einen tödlichen Virus
ausgelöscht wurde.
Unsere heutige Zeit als die Zeit nach der Apokalypse zu betrachten,
erfordert vor allem eine ähnliche Verschiebung der Zeitlichkeit. Nicht nur,
dass die Apokalypse als „Offenbarung“ bereits stattgefunden hat, es ist
auch das Ende selbst – die Zerstörung der Biosphäre und das
Massenaussterben –, das eingetreten ist, wenn wir nicht in der Lage sind,
die „Offenbarung“ der sich rasch entfaltenden planetarischen Ereignisse zu
verstehen und die Welt in der verbleibenden Zeit radikal neu zu erfinden.
4 Oct 2020
## LINKS
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[3] /Waldbraende-in-den-USA/!5713821
[4] /Neue-geologische-Epoche/!5423392
[5] /Sachbuch-Kampf-um-Gaia/!5424316
## AUTOREN
Srecko Horvat
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