Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Sechs Monate Alltag mit Corona: Unter der letzten Überlebenden
> Was, wenn man einen völlig neurotischen Blick auf die Krise wählte? Die
> taz-KulturRedaktion über das Pandemieleben. Teil 4.
Bild: Draußen Stille, innen Chaos. Oder innen Stille, draußen Chaos?
Die Nekrose war locker, leicht feucht mit gelben Ablagerungen, die Haut
drumherum violett schimmernd, dabei prall und aufgedunsen, erfroren wirkte
sie. Es war Frühling. Einige Furchen und Läsionen weiter blitzte ein
gräulicher Schorf unter einem Hemdfetzen hervor. Die Wundumgebung war ein
Körper, der sich nur langsam fortbewegte. In jedem seiner Schritte lag die
Drohung zu stürzen. Und nie wieder aufzustehen.
Ich dachte an den süßlichen Geruch von Verwesung in dem Haus in Wien, in
dem ich gelebt hatte. Eine Frau war in ihrer Wohnung gestorben. Als man sie
entdeckte, hatte bereits jede:r im Haus für sich eine Lösung aus
Räucherstäbchen, Duftkerzen oder Raumsprays gefunden. Ich hatte zu dieser
Zeit Diptyque Paris entdeckt.
Die Hose bedeckte Penis und Skrotum nur noch notdürftig. Er ging auf die
Knie. Zwischen Altpapier- und Biotonne rann kurze Zeit später sein Urin
übers Pflaster. Er kippte zur Seite, der Ellbogen knickte weg, er sank zu
Boden. Wie jung er doch noch war! Und wie es wohl gewesen ist, als er drei
Jahre alt war? Oder 15.
Ein anderer brüllte. Ich verstand nur „Messer“. Vielleicht fühlte der gar
nichts, obwohl er brüllte. Ein paar Meter weiter weinte eine Frau. Ihr
graues Haar war verfilzt, und aus ihrer Nase tropfte dünnflüssiges Sekret.
War es möglich, dass auch sie nichts fühlte, obwohl sie weinte?
## Im Kokon
Unsere Wohung war unser Kokon geworden, und unsere Welt schrumpfte von Tag
zu Tag mehr, während die Rituale immer mehr wurden. Jede Zeitung und jede
Nachrichtensendung erwarteten wir in Aufregung, manchmal stündlich. Die
Anrufe wurden immer weniger.
Ein alter Bekannter suchte uns zu Hause auf. Bei unserer letzten zufälligen
Begegnung war er Gelegenheitstrinker. Nun sah er nach Nekrose aus. Er hatte
sich eingepinkelt. Vielleicht zum ersten Mal, denn in der einen Hand trug
er noch die Designertasche aus aufgeräumteren Zeiten, in der anderen eine
Flasche Bier. Ich gab ihm all das Geld, was ich in meinem Portemonnaie und
in der Kommode finden konnte. Hauptsache, er würde ganz schnell wieder
verschwinden.
Manchmal, wenn ich aus dem Fenster schaute, stellte ich mir vor, fast alle
Menschen in dieser Stadt wären schon tot. Das ging recht gut. Denn im Park
vor dem Haus gab es nur noch einen leeren Spielplatz und Autos. Wenig
später wären sie unter all den Linden vom Blattlauskot verklebt.
Zwischen Klettergerüsten und Autos tauchten immer wieder kleine
Menschengruppen auf. Marodeure, Verlorene, Körper mit Nekrosen. Man konnte
sich das so leicht vorstellen, auch dass sie die letzten Überlebenden wären
– auf der Suche nach Essbarem. Bald würden sie sich gegenseitig erschlagen.
Irgendwas zwang mich, das wieder und wieder zu denken, obwohl ich es nicht
wollte. Waren sie schon immer da und so viele gewesen oder konnte man sie
jetzt nur besser sehen? Oder hatte ich sie bloß anders angeschaut? Aus zu
Rettenden waren Verlorene geworden. Wie war das möglich?
12 Sep 2020
## AUTOREN
Tania Martini
## TAGS
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Psychoanalyse
Obdachlosigkeit
Alkoholismus
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Corona und Klimawandel: Die Apokalypse ist politisch
Die tiefgreifende Umgestaltung der Erde hat längst begonnen. „Weiter so“
kann nicht die Antwort sein. Ein Plädoyer für eine radikale Neuerfindung.
Sechs Monate Alltag mit Corona: Gebt uns Heizpilze!
In Istanbul herrscht Maskenpflicht. Und es gibt dort die Lösung für den
Berliner Winter. Die taz-Kulturredaktion über das Pandemieleben. Teil 6.
Sechs Monate Alltag mit Corona: Schlendern mit traurigem Radarblick
Statt Expressivität macht sich in Berlin Affektkontrolle breit. Die
taz-Kulturredaktion über das Pandemieleben. Teil 5.
Sechs Monate Alltag mit Corona: In Zeiten abnehmender Sicherheit
Keine Krise ohne Widersprüche. Und: Ideologie hilft wieder nicht weiter.
Die taz-Kulturredaktion über das Pandemieleben. Teil 3.
Sechs Monate Alltag mit Corona: Plötzlich wurde die Familie wichtig
Der Sohn weg, die Ernte schlecht und unerwartet ein wenig Freiheit. Die
taz-Kulturredaktion über das Pandemieleben. Teil 2.
Sechs Monate Alltag mit Corona: Was neben dem Homeoffice bleibt
Camus lesen oder Brot backen? Ohne Katastrophenmanagment geht nichts. Die
taz-Kulturredaktion über das Pandemieleben. Teil 1.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.