# taz.de -- Sechs Monate Alltag mit Corona: Gebt uns Heizpilze! | |
> In Istanbul herrscht Maskenpflicht. Und es gibt dort die Lösung für den | |
> Berliner Winter. Die taz-Kulturredaktion über das Pandemieleben. Teil 6. | |
Bild: Maske – auf Türkisch, auf Deutsch, auf die Nase und auf den Mund, schl… | |
Maske heißt auf Türkisch Maske. Wer in der Türkei das Haus verlässt, ist | |
verpflichtet, den Mund-Nasen-Schutz übers Gesicht ziehen. Deswegen sieht | |
man auf den Straßen selten Menschen ohne Maske. | |
In den vergangenen elf Monaten war ich zweimal [1][in Istanbul]. Im Winter | |
und im Sommer, nach den Ausgangssperren, die jedes Mal bedeuteten, dass die | |
Istanbuler vier Tage lang ihre Wohnung nicht verlassen durften. In den | |
Phasen dazwischen herrschte ein striktes Regime. Spazierengehen am | |
Bosporus? Verboten. | |
Als ich das hörte, kam mir die [2][Berliner Lockdownzeit] wie das Paradies | |
vor. Es waren sonntags fast keine Autos gefahren, ich hatte Radtouren durch | |
die Stadt gemacht. Es schien wie eine Reprise auf die Zeit kurz nach dem | |
Mauerfall. Ich fuhr nachts durch leere Straßen, und das fühlte sich nicht | |
apokalyptisch an, sondern utopisch. Das erhabene Gefühl, die Welt gehöre | |
einem allein, stellte sich ein, so ähnlich, wie nachts zu schreiben und zu | |
sehen, dass nirgends mehr Licht brennt. | |
Im Winter fuhr ich in Istanbul von der Kulturakademie Tarabya, wo ich | |
wohnte, oft mit der U-Bahn Richtung Taksimplatz. Abends oder nachts wieder | |
zurück. [3][Bürgermeister Ekrem İmamoğlu] hatte gegen Skeptiker (das lohnt | |
sich nicht) und Sittsamkeitsideologen (die jungen Leute sollen nachts | |
gefälligst nach Hause gehen) durchgesetzt, dass die Metro am Wochenende | |
durchfährt. Es war wohl eine der Maßnahmen, um das Wahlkampfmotto | |
einzulösen, das ein 14-jähriger Fan von Ekrem Abi geprägt hatte: Her şey | |
çok güzel olacak. Alles wird so schön werden. | |
Tagsüber war die U-Bahn voll. Es ging diszipliniert zu, aber saisongemäß | |
wurde viel gehustet und geniest. Im Dezember hörte ich von der Epidemie in | |
China. Die Idee, dass man die Ausbreitung eines Virus, das per | |
Tröpfcheninfektion verbreitet wird, lokal eindämmen könnte, kam mir absurd | |
vor. An Weihnachten hatte ich einen hartnäckigen Infekt, ich musste zwei | |
Wochen lang husten. Ich huste sonst nie. | |
Die Filter und Routinen, die uns im Alltag vor sensorischer Überwältigung | |
schützen, funktionieren an fremden Orten nicht mehr. Man registriert, | |
beobachtet, sinniert. Im Sommer fragte ich mich, wann man Fünfe gerade sein | |
lassen kann und die Maske leger über den Arm streifen. Auf der Promenade | |
nahm ich sie oft ab. Auf dem offenen Deck der Fähren behalten sie die | |
meisten auf. Manche nehmen sie ab und setzen sie nur kurz wieder auf, wenn | |
neue Passagiere an Bord kommen. Für Frauen mit Kopftüchern gibt es | |
Plastikteile, mit denen man die Schlaufen der Maske hinter dem Kopf | |
zusammenhalten kann. | |
Oft habe ich im Winter vor der Ziba Bar gesessen. Manchmal setzte sich | |
einer der Straßenkatzen auf meinen Schoß. Vor den Istanbuler Bars und | |
Restaurants sind meist Heizungen angebracht, die von oben wärmen. Man muss | |
beim Biertrinken nur für warme Füße sorgen. Ich hoffe auf die Renaissance | |
des Heizpilzes in Berlin. Er wird uns über den Winter retten. | |
14 Sep 2020 | |
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## AUTOREN | |
Ulrich Gutmair | |
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