# taz.de -- Sechs Monate Alltag mit Corona: Schlendern mit traurigem Radarblick | |
> Statt Expressivität macht sich in Berlin Affektkontrolle breit. Die | |
> taz-Kulturredaktion über das Pandemieleben. Teil 5. | |
Bild: Das wilde Leben, das war einmal. Abstandshalter in Berlin | |
Berlin-Schöneberg ist ein ziemlich vernünftiger Stadtteil. Das | |
hedonistisch-antiautoritäre Erbe der Westberliner Jahre ist in die DNA der | |
Kieze eingedrungen, in die Weinläden, die Bürger-Inis und Yogastudios. | |
Queersein ist normal, Normalsein auch. Paare, die sich in Neukölln | |
ausprobiert haben, ziehen – wenn sie eine Wohnung finden – hierher, um ihre | |
Kinder großzuziehen. Es gibt eine selbstbewusste türkische Community. Und | |
der Reichstag mag keine vier Kilometer entfernt sein, die Anti-Corona-Demos | |
und Diktaturfantasien spielen doch in einem Paralleluniversum. | |
Vielleicht ist Schöneberg gerade deshalb ein guter Ort, um über die ersten | |
sechs Monate mit Corona nachzudenken. Corona, das ist hier kein | |
Ausnahmezustand mehr. Doch dafür kann man eben hier sehen, wie gründlich | |
sich die Realität längst verschoben hat. | |
Zum Beispiel auf dem fußballplatzgroßen Kinderspielplatz am Lassenpark mit | |
Dutzenden von Klettermöglichkeiten und sogar einer Märchenburg. Wer daran | |
vorbeiläuft, hat ganz bestimmt den Eindruck, die Kinder würden inzwischen | |
wieder wild durcheinandertoben. | |
Doch wenn man als beaufsichtigendes Elternteil daran teilnimmt, sieht man | |
es anders. Zwischen den einzelnen Kleinfamilien herrscht ein kleiner, aber | |
sorgfältig eingehaltener Abstand. In die Nestschaukel setzt niemand sein | |
Kind, wenn da schon ein anderes sitzt. Es gibt Vierjährige, die Zweijährige | |
ermahnen, ihnen auf der Rutsche nicht zu nahe zu kommen, „wegen Corona, | |
weißt du“. | |
Anderes Beispiel: die niedrige Mauer, die das Rasenstück rund um die | |
Apostel-Paulus-Kirche [1][von der Akazienstraße] abgrenzt. Man trifft sich | |
jetzt halt nicht mehr zu Hause, sondern dort, bringt eine Flasche Chablis | |
mit oder holt sich vom Späti gegenüber ein Bier. Man sieht Jugendliche, | |
aber auch alte Freunde, Kolleginnen unter sich, Nachbarn. Solange das | |
Wetter mitspielt, ist das alles ganz schön. Und auch da: kleine Gruppen, | |
meist eh Zweierkonstellationen, und dazwischen sorgfältiger Abstand. Die | |
Zeiten, in denen einem hier die Leute umstandslos auf die Pelle rückten, | |
beim Schlangestehen, aber auch auf den Bürgersteigen, sie sind definitiv | |
vorbei. | |
## Wie bei Norbert Elias | |
Wenn ich jetzt hier durch die Straßen gehe, kommt mir vieles wie eine | |
Illustration von [2][Norbert Elias'] „Prozess der Zivilisation“ vor. | |
Berlin, das hatte, von Proll bis Boheme, ja immer etwas Expressives: | |
vorgezeigte Selbstverwirklichung, hemdsärmelige Kommunikation. Da, wo ich | |
wohne, herrscht aber inzwischen Abstand, Affektkontrolle, ein ständiger | |
Radarblick, wo es eng werden könnte und man dann halt lieber nicht langgeht | |
(Ausnahmen bestätigen die Regel). | |
Das ist auszuhalten, ja, alternativlos auch, aber zwischendurch überfällt | |
einen auch immer wieder der Gedanke, dass es traurig ist. Und vor allem | |
auch erst einmal so bleiben wird, wer weiß, wie lange. | |
Der nächste Winter wird hart, denkt man. Und: Wann werden wir uns einmal | |
wieder ausgelassen und entspannt begegnen? Das Leben ist enger geworden. | |
13 Sep 2020 | |
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## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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