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# taz.de -- Lesenswerte Transgender-Biografie: Unter dem Klavier
> Jan Morris stieg mit auf den Mount Everest, interviewte Che Guevara und
> lebt seit 1972 als trans Frau. Davon erzählt sie in ihrem Memoir
> „Rätsel“.
Bild: Bewegtes Leben: Jan Morris ist zur Veröffentlichung der deutschen Neu-Ü…
Das Leben von Jan Morris ist so krass, dass man es eigentlich verfilmen
müsste – damit noch mehr Menschen davon erfahren. Der Haken dabei:
Wahrscheinlich würde einem das Drehbuch von jedem, der es nicht besser
weiß, um die Ohren gehauen werden – und abgelehnt mit der Begründung:
„völlig unglaubhaft“. Denn, ja, wie kann all dies in nur ein Leben passen?
Jan Morris, Jahrgang 1926, war 1953 bei der Erstbesteigung des Mount
Everest, des höchsten Punkts der Erde, in journalistischer Mission, um für
die staatstragende Times in London davon zu berichten. Morris, damals 26
Jahre alt und sportlich trainiert, war die Einzige im Times-Team, der man
das zutraute. Sie stieg bis auf 6.700 Meter Höhe mit auf und brachte die
frohe Kunde vom Erfolg der beiden Bergsteiger Edmund Hillary und Tenzing
Norgay, die den Gipfel (8.848 Meter hoch) bestiegen, runter und in die
Welt. Die Nachricht, ein echter Scoop, sie traf am Krönungstag von Queen
Elizabeth II. in London ein. Jackpot!
Als ob das nicht genug wäre, hat Jan Morris neben drei, vier Dutzend
anderen Werken auch ein Buch über Venedig und eine dreibändige Historie
über das britische Imperium geschrieben; beide Werke gelten als
bahnbrechend. Jan Morris hat auf Kuba, „die Nerven blank“, wie sie
schreibt, Che Guevara getroffen – und sie sah, auf Reportage-Mission,
ähnlich wie Hannah Arendt, 1961 in Jerusalem „Eichmann hochnäsig und
pikiert in seinem kugelsicheren Käfig im Gerichtssaal sitzen, der
Durchschnittsmensch als Inbegriff des Mörders“.
Obendrein hat Jan Morris ein unbedingt lesenswertes Memoir über ihr Leben
als trans Frau geschrieben – eines der ersten Bücher überhaupt, das eine
solche Transition beschreibt. Und wie! „Conundrum“ heißt dieses Buch im
Original und es erschien erstmals 1974. Und 1975 schon auf Deutsch. Die
Resonanz war gigantisch. „Ein halbes Leben fleißiger, sorgfältiger Arbeit
hatte mir nie so viel Aufmerksamkeit eingebracht wie nun allein der Wandel
meines Geschlechts“, schrieb Jan Morris für die Neuauflage des Buchs 2001.
Da gibt sich die britische Lady allerdings doch zu bescheiden: Mitnichten
„allein der Wandel“ ihres Geschlechts macht dieses Buch so stark, das nun
2020 in neuer deutscher Übersetzung unter dem synonymen Titel „Rätsel“
vorliegt – sondern die einzigartig lebendige Sprache, in der Jan Morris uns
davon erzählt.
Das Buch beginnt mit einer Szene unter dem Klavier. Die Mama von James, wie
Jan damals noch hieß, muss wohl etwas von Sibelius gespielt haben. Jan also
unter dem Klavier. „Ich saß oft dort, zeichnete manchmal Bilder auf
Notenblätter, die in Stößen um mich herum lagen, oder hielt meine
unglückliche Katze fest im Arm.“ Und dann dieser Gedanke, mit drei oder
vier Jahren, „dass ich im falschen Körper geboren war und in Wirklichkeit
eigentlich ein Mädchen sein sollte. Ich erinnere mich an diesen Augenblick
genau, es ist meine früheste Erinnerung.“
## Eloquent, schlagfertig, nachdenklich
Jan Morris erzählt bei aller Eindringlichkeit, aber auch mit einer
Leichtigkeit von ihrem Leben, die erheitert und erfrischt – wiewohl man
sich auch fragen kann, ob es wohl schwer für sie war, sich diese
Leichtigkeit zu erarbeiten. Immer wieder wird Jan Morris auch sehr
nachdenklich im Memoir: „Dass mein Rätsel einfach eine Frage von Penis oder
Vagina sein sollte, von Hoden und Gebärmutter, scheint mir bis heute eine
abwegige Vorstellung, denn es ging doch nicht um meinen
Fortpflanzungsapparat, sondern um mein Ich.“
Es wäre sicher aufregend, die einst so eloquente, schlagfertige Jan Morris
im Schlagabtausch mit einer anderen britischen Erfolgsautorin, der „Harry
Potter“-[1][Schriftstellerin J. K. Rowling, zu erleben, die sich vehement
weigert, trans Frauen als Frauen] zu akzeptieren – und ihnen damit
abspricht, selbst zu definieren, wer sie sind. Rowling poltert gegen alles,
wofür Morris steht.
Im Buch spekuliert Morris an einer Stelle sogar, ob sie, Morris, womöglich
„Symptom dieser Zeit“ gewesen sei, „Vorläufer einer neuen Rasse, in der …
Geschlechter sich amöbengleich vereinen würden“. Da klingt schon etwas an,
was heute, 2020, ja vermehrt zu beobachten ist, dass Menschen sich als
nichtbinär definieren, also weder weiblich noch männlich – was die
Mehrheitsgesellschaft allerdings nach wie vor zu überfordern scheint.
Leider ist Jan Morris, die inzwischen 94 Jahre alt ist und in der
walisischen Provinz mit ihrer dementen Lebenspartnerin Elizabeth lebt (die
beiden haben 1949 geheiratet), selbst zurzeit nicht fit genug für
Interviews. Im März 2020 war noch ein Journalist vom Guardian bei ihr zu
Hause. [2][Sie sei „schon sehr am Ende der Dinge“, sagte sie damals im
Frühling.] Und als der Reporter das Gespräch auf Identitätspolitik lenkte
und Jan Morris versuchte, ihre Position verständlich zu machen, unterbrach
die 94-jährige Lady sich selbst mit einem: „Aber das steht alles schon in
diesem Buch von mir, nicht wahr?“
Nun hält dieses Buch nicht alle Antworten für [3][queere Politiken in der
Gegenwart parat.] Keineswegs. Es ist schon auch sehr ein Dokument seiner
Zeit, der mittleren 1970er. Allein so eine spirituelle Formulierung wie „im
falschen Körper geboren“ wird heute von vielen jungen trans Aktivist*innen
abgelehnt. Das Buch ist ein Memoir, kein Manifest.
Andererseits: Wer im [4][oscarprämierten Film „The Danish Girl“] (2015)
über das historische Schicksal der trans Frau und Malerin Lili Elbe
(gespielt von Eddie Redmayne) nur ein niederschmetterndes Ende erleben
durfte, bei dem die geschlechtsangleichende Operation tödliche Konsequenzen
hat – der darf bei Jan Morris sehr viel hoffnungsvoller davon lesen, wie
sie sich in Casablanca 1972 operieren ließ, also geschlechtsangleichend.
Die Familie (die besagte Ehepartnerin Elizabeth und auch die vier Kinder)
unterstützt sie. Und, überraschenderweise, auch die Leute im Dorf, die kein
böses Wort fallen lassen.
Die allgemeine Heiterkeit bei Morris, die allerdings nie ins Alberne kippt,
könnte fast ein Vorbild gewesen sein für die vielfach emmydekorierte,
tragikomische [5][Amazon-Serie „Transparent“], die sich ja ebenfalls an ein
größeres Publikum wendet – auch da geht es um das Coming-out einer gar
nicht mehr so jungen trans Frau, Maura Pepperman. Die ist sogar noch etwas
älter, als Jan Morris es zur Zeit von „Rätsel“ war, nämlich schon im
Ruhestand.
Was beide aber noch gemeinsam haben, ist das privilegierte, intellektuelle
Umfeld: Maura Pepperman war Professorin. Und Jan Morris ist eine
erfolgreiche Autorin, staatstragend dekoriert als Commander of the Most
Excellent Order of the British Empire, quasi eine Stufe knapp unter dem
Ritterstand.
Das Milieu und die Zeit, in der Jan Morris ihre Transition hat – das ist
eben doch was sehr anderes, als wenn man ein queeres Buch aus dem Jahr 2020
liest, wie zum Beispiel [6][„Ich bin Linus“ von dem Berliner Blogger und
Buchhändler Linus Giese,] einem trans Mann. Bei Linus Giese liest man
zwar, wie bei Morris, auch von den euphorischen Freuden, seinen sich
wandelnden Körper als trans Mensch neu zu entdecken; aber Giese war, wie er
in seinem Memoir beschreibt, hässlicher, transfeindlicher Gewalt
ausgesetzt, analog, aber auch digital im Cyberspace, etwa bei Twitter.
Von so was blieb Morris naturgemäß verschont. Vom inneren Coming-out
allerdings nicht. Das beschreibt Jan Morris schonungslos: „Manchmal
überlegte ich, ob ich mich umbringen sollte.“
## Schwärmen für eine Ministerin
Nichtdestotrotz hat Jan Morris auch ein sanftes Buch geschrieben. Manchmal
mit leicht esoterischem Spleen, über den man allerdings auch hinweglesen
kann. Dem Guardian hat sie im Frühling noch verraten, dass sie sich bei
schwierigen Lebensentscheidungen immer zwei maximal nützliche Fragen
stelle: „Verhalte ich mich wohlwollend? Verhalten die anderen sich
wohlwollend?“ Mit den Antworten dazu im Gepäck könne man fast jede
Entscheidung fällen, so Morris, die von der (gerade wiedergewählten)
neuseeländischen Premierministerin [7][Jacinda Ardern] schwärmt und deren
Prinzip der kindness. Diese Frau, ein halbes Jahrhundert jünger als sie,
würde sie allzu gern mal treffen. Man wünscht ihr, dass der Wunsch noch
wahr würde.
Spannend und berührend ist das allemal, Jan Morris im Memoir dabei zu
folgen, wie sie „die letzten (…) männlichen Privilegien“ aufgab –
allerdings in der Hoffnung auf eine bessere Welt: „Die gröberen
Benachteiligungen der Frauen, die sich in Gesetz und Geschäftsleben noch
finden, werden bald verschwunden sein – kein vernünftiger Mensch kann sie
dulden, es sind einfach nur lästige Überbleibsel aus früherer Zeit“,
schreibt sie also 1974. Jan Morris ist eine queere Pionierin und auch
progressiv.
Eine junge queere Generation wird sich bei ihr zwar keine Theoriegebäude
abpausen können – aber sie kann sich inspirieren, begeistern lassen durch
diesen Anspruch auf Selbstbehauptung, diesen Optimismus, diese Heiterkeit,
diese Lässigkeit im Selbstbewusstsein. Denn all dies strahlt Jan Morris aus
in ihrem Schreiben, das ihr Leben ist. Nicht jeder Mensch kann den Mount
Everest hochsteigen. Aber auch kein Mensch sollte sich seiner Queerness
wegen unter einem Mount Everest aus Lügen verstecken müssen vor der
Mehrheitsgesellschaft. Jan Morris macht unterhaltsam Mut, zu sich zu
stehen, allen Widrigkeiten zum Trotz.
10 Nov 2020
## LINKS
[1] /Transgender-mit-Leib-und-Seele/!5714351
[2] https://www.theguardian.com/books/2020/mar/01/jan-morris-thinking-again-int…
[3] /LGBTIQ-Menschen-in-der-Arbeitswelt/!5712070
[4] /Mainstream-Film-The-Danish-Girl/!5266095
[5] /Queere-Filme-und-Serien-im-Streaming/!5673768
[6] /Buchautor-ueber-Ich-bin-Linus/!5702867
[7] /Neuseelands-Premierministerin-Ardern/!5720045
## AUTOREN
Stefan Hochgesand
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