# taz.de -- Jahrestag der NSU-Aufdeckung: Das verschleppte Gedenken | |
> Vor neun Jahren flog der NSU auf. An die rechtsextreme Terrorserie | |
> sollten Gedenkorte erinnern – die aber bis heute nicht realisiert sind. | |
Bild: Die Angehörigen im September 2020 bei der Einweihung des Enver-Şimşek-… | |
BERLIN taz | Es sorgte für Entsetzen. Vor neun Jahren, am 4. November 2011, | |
flog der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) auf – als sich Uwe | |
Mundlos und Uwe Böhnhardt nach einem gescheiterten Banküberfall erschossen | |
und Beate Zschäpe in Zwickau den Unterschlupf in Brand setzte. Erst da | |
wurde offenbar, dass die RechtsterroristInnen seit 1999 zehn Menschen | |
ermordet und drei Anschläge verübt hatten. Die schwerste Rechtsterrorserie | |
der Bundesrepublik. | |
Abgeschlossen ist die Aufarbeitung auch heute – neun Jahre danach – nicht. | |
Die [1][Urteile gegen Zschäpe und vier Helfer] werden derzeit vom | |
Bundesgerichtshof geprüft. In Mecklenburg-Vorpommern läuft weiter ein | |
Untersuchungsausschuss. Und gerade erst traten die Grünen eine Diskussion | |
um ein NSU-Archiv los. | |
Vor allem aber wird bis heute gerungen, wie den Opfern des NSU-Terrors | |
gedacht werden soll. Erst im September wurde in Jena-Winzerla, wo das | |
NSU-Trio zusammenfand und 1998 abtauchte, ein [2][Enver-Şimşek-Platz] | |
eingeweiht, in Erinnerung an das erste Mordopfer. AnwohnerInnen hatten dazu | |
die Idee. Zuvor bereits widmete Kassel 2012 dem NSU-Opfer Halit Yozgat | |
einen Platz. In Hamburg wurde eine Straße nach Süleyman Taşköprü benannt, | |
in Dortmund ein Platz nach Mehmet Kubaşık. | |
## Zentrale Erinnerungsorte bisher nicht realisiert | |
Die Pläne zu zentralen Erinnerungsorten in Thüringen, Sachsen und Köln, wo | |
der NSU lebte oder Anschläge verübte, sind dagegen bis heute nicht | |
umgesetzt. Thüringen immerhin bereitete den Weg. Bereits 2017 beschloss der | |
Landtag, mit Gegenstimmen von AfD und CDU, die Opfer [3][mit 1,5 Millionen | |
Euro zu entschädigen] und eine Erinnerungsstätte einzurichten. Das Geld | |
wurde inzwischen ausgezahlt, der Ort für die Gedenkstätte gefunden: im | |
Erfurter Beethovenpark, nahe dem Landtag. Die Stadt muss dem noch | |
zustimmen. | |
Bis Jahresende soll ein Wettbewerb für die Gestaltung ausgelobt werden, | |
erklärte die Thüringer Staatskanzlei auf taz-Anfrage. 2021 solle die | |
Erinnerungsstätte errichtet werden. Auch die Opferfamilien werden in den | |
Prozess involviert. Beteiligt ist Barbara John, die Ombudsfrau der | |
Betroffenen. Sie lobt: „Thüringen ging bereits mit zwei schonungslosen | |
Untersuchungsausschüssen voran, nun auch bei der Erinnerungsstätte. Das | |
findet bei den Betroffenen große Wertschätzung.“ John erinnert aber auch, | |
dass die Terrorserie hätte verhindert werden können, wenn das Trio in | |
Thüringen gestoppt worden wäre. | |
## Sachsen bremst Pläne aus | |
Anders läuft es in Sachsen. Auch dort forderte der NSU-Ausschuss 2019 | |
[4][eine Entschädigung und ein Dokumentationszentrum]. Die neue | |
Kenia-Landesregierung übernahm zumindest den Gedenkort in ihren | |
Koalitionsvertrag. Was seitdem passiert ist, ließ die Landesregierung | |
jedoch unbeantwortet. | |
Immerhin Zwickau, wo sich das NSU-Trio elf Jahre lang versteckte, ging mit | |
einem ersten Schritt voran. Im vergangenen Jahr pflanzte die Stadt einen | |
Gedenkbaum für Enver Şimşek – der kurz darauf [5][von Unbekannten abgesägt | |
wurde], was bundesweit Schlagzeilen machte. Die Stadtspitze ließ darauf | |
zehn neue Bäume pflanzen, für jedes NSU-Todesopfer einen. Die Bäume seien | |
bis heute unbeschadet, sagte ein Stadtsprecher. | |
Doch auch in Zwickau wollen einige Engagierte mehr: ein | |
NSU-Dokumentationszentrum. „Die Bäume sind ein guter Anfang“, sagt Student | |
Jakob Springfeld, einer der Engagierten. „Wir brauchen aber einen Ort, an | |
dem man über den Rechtsterrorismus diskutieren kann, den auch Schulklassen | |
besuchen können.“ | |
Bereits vor einem Jahr forderten Initiativen das Dokumentationszentrum. In | |
einem früheren Ladengeschäft wurde ein solches provisorisch eingerichtet. | |
Die Stadt unterstützte die Forderung, verwies aber auf das Land oder den | |
Bund, die dafür Geld geben müssten. Konkrete Schritte für das Zentrum gebe | |
es daher bisher nicht, sagte der Stadtsprecher. | |
## Weiter kein Mahnmal in Köln | |
Auch in Köln kommt das Gedenken nicht voran. Bereits 2016 war dort ein | |
Konzept für einen Gedenkort mit multimedialen Elementen entstanden, am Ende | |
der Keupstraße, wo der NSU 2004 eine Bombe zündete. Der Eigentümer des | |
Grundstücks aber verweigerte sich, ein Kauf durch die Stadt scheiterte. | |
Diese schloss nun im September mit dem baldigen Neubesitzer des Geländes | |
eine Vereinbarung über den Bau des Mahnmals. | |
Die zivilgesellschaftliche Initiative für das Denkmal nannte es dennoch | |
einen „Skandal“, dass die Stadt ihr Vorkaufsrecht nicht ausübte. Das | |
Gedenken werde damit weiter verzögert. Oberbürgermeisterin Henriette Reker | |
widersprach: „Der eingeschlagene Weg hat mit Abstand die größten Chancen | |
einer kurzfristigen Realisierung.“ Das Denkmal solle „so schnell wie | |
möglich“ gebaut werden. | |
Barbara John betont, wie genau die Betroffenen die Vorhaben verfolgten. | |
„Ihnen ist es sehr wichtig, dass das Gedenken im kollektiven Gedächtnis | |
verankert wird.“ Auch weil die Familien jahrelang unter falschen | |
Verdächtigungen litten. Und der Rechtsterror immer weitergehe. | |
## Thüringen will auch ein frei zugängliches NSU-Archiv | |
Zur Aufarbeitung beitragen könnte auch das NSU-Archiv. Eine Forderung, die | |
der Thüringer NSU-Ausschuss [6][bereits im Oktober 2019] aufstellte – und | |
die nun von den Grünen wieder aufgegriffen wird. In dem Archiv könnten die | |
Verfassungsschutz- und Polizeiakten der bisher neun | |
NSU-Untersuchungsausschüsse im Bundestag und den Landtagen zentral gelagert | |
werden, auf die Aufklärung fortzusetzen. | |
Auch hier schuf Thüringen bereits erste Schritte. Der Landtag verlängerte | |
zuletzt vorsorglich die Rückgabefrist für die Akten an den | |
Verfassungsschutz bis Ende 2021. Und die Landesregierung soll nun bis März | |
einen Vorschlag für ein Archiv erarbeiten, das auch für | |
WissenschaftlerInnen, JournalistInnen und Zivilgesellschaft offen steht. | |
Ein Vorbild auch für den Bund? Oder eine Möglichkeit, hier einzusteigen? | |
Das Bundesinnenministerium winkt ab. Schon beim Thüringer Beschluss für das | |
Archiv vor einem Jahr erklärte man, die Einstufung der | |
NSU-Verfassungsschutzakten als Verschlusssachen stehe einer Offenlegung | |
entgegen. Dies gelte auch weiterhin, so ein Ministeriumssprecher zur taz. | |
„Es gibt dazu keinen neuen Stand.“ | |
4 Nov 2020 | |
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[2] /Gedenken-an-Enver-imek/!5714905 | |
[3] /Thueringen-entschaedigt-Opfer-des-NSU/!5466825 | |
[4] /Entschaedigung-fuer-NSU-Opfer-gefordert/!5601000 | |
[5] /Aufarbeitung-des-NSU-Terrors/!5635349 | |
[6] /Aufklaerung-des-NSU-Terrors/!5628458 | |
## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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