| # taz.de -- 20 Jahre nach erstem NSU-Mord: Beschädigte Gedenktafeln | |
| > Vor 20 Jahren begann in Nürnberg die NSU-Mordserie. Enver Şimşek war das | |
| > erste Opfer. Zwei weitere Morde folgten in der Stadt. | |
| Bild: An dieser Straße wurde der Blumenhändler Enver Şimşek am 9. September… | |
| Auf der Liegnitzer Straße in Langwasser, am südöstlichen Rand von Nürnberg | |
| brausen die Autos vorbei. Unter einem rot-gelben Sonnenschirm stehen bunte | |
| Gerbera zum Kauf bereit. Ali Toy, 66 Jahre alt, wartet in seinem Kombi auf | |
| Kundschaft und liest den Koran auf Arabisch. | |
| Am 9. September 2000 begann hier im Kleintransporter der Firma Şimşek | |
| [1][die Mord- und Terrorserie des sogenannten Nationalsozialistischen | |
| Untergrunds (NSU)]. Damals wurde mehrfach auf den Blumengroßhändler | |
| türkischer Herkunft Enver Şimşek geschossen. Es folgten [2][neun weitere | |
| Morde an Menschen mit Migrationsgeschichte und an einer Polizistin] aus | |
| Thüringen sowie zwei Bombenanschläge in Köln. In der Nürnberger Südstadt | |
| war bereits 1999 eine Bombe in einer Kneipe explodiert, die vermutlich | |
| ebenfalls der NSU gelegt hatte. | |
| Ali Toy, der ehemalige Mitarbeiter von [3][Enver Şimşek], wohnt im | |
| Stadtteil Gleißhammer, gleich in der Nähe der Imbissbude von İsmail Yaşar, | |
| dem zweifachen Familienvater und sechsten Opfer des NSU. Yaşar wurde am 9. | |
| Juni 2005 von den NSU-Mördern mit fünf Schüssen in Kopf und Oberkörper | |
| getötet. „İsmail Yaşar war ein Nachbar, ich wohne ein Stückle weiter weg�… | |
| sagt Ali Toy und man merkt, dass er von den 47 Jahren, die er in | |
| Deutschland lebt, etliche Jahre in Franken verbracht hat. | |
| „Wenn ich zur Straßenbahn gegangen bin, habe ich ihn gegrüßt, er war immer | |
| sehr freundlich und wir haben ein wenig geredet. Er war auch unschuldig.“ | |
| „Unschuldig“, dieses Wort wiederholt Toy mehrfach in unserem Gespräch. Auf | |
| die Frage, ob er sich in Deutschland wohlfühle, sagt er „Ja, freili. | |
| Deutschland ist meine zweite Heimat.“ | |
| ## Enver Şimşek war als Vertretung da | |
| Am Blumenstand arbeitet Toy nur samstags und sonntags bei schönem Wetter. | |
| Auf die verkauften Blumen erhält er Provision. Von November bis Februar | |
| macht er Winterpause. Eigentlich wäre er am 9. September dort gestanden, wo | |
| Enver Şimşek von acht Kugeln getroffen wurde. „Ich habe Enver Şimşek | |
| gefragt, ob er mich vertreten kann“, so Ali Toy, „weil ich in Urlaub fahren | |
| wollte. Ich war in der Türkei, wie jedes Jahr im Herbst. Und so hat er die | |
| Blumen selber verkauft, die ich normalerweise bei ihm hole.“ | |
| Zwei Tage später erlag der zweifache Familienvater Enver Şimşek im Klinikum | |
| Süd in Langwasser seinen schweren Verletzungen. „Erfahren habe ich es von | |
| meinen Nachbarn, die mir einen Zeitungsausschnitt gaben und sagten: ‚Dein | |
| Chef wurde umgebracht.‘ Da war ich …“, Toys Stimme stockt, „schockiert. | |
| Enver Şimşek war ein guter Mann.“ | |
| Toy teilte der Polizei seine Vermutung mit, dass Enver Şimşek von einer | |
| deutschen Terrorgruppe umgebracht worden sei. Die Ermittler schlossen aber | |
| einen rechtsextremen Hintergrund aus. Lediglich der damalige Innenminister | |
| Günther Beckstein (CSU), der ebenfalls in Langwasser wohnt, wies in einer | |
| Notiz auf diese Möglichkeit hin. | |
| Diese Spur weiterzuverfolgen, darauf drängte er allerdings nicht. Der | |
| Kontakt zur deutschen Polizei sei immer sehr gut gewesen, betont Toy. Für | |
| Familie Şimşek dagegen folgten schwierige Tage: Die Beamten zeigten ihnen | |
| das Foto einer vermeintlichen Geliebten, unterstellten ihrem ermordeten | |
| Vater Drogenhandel, ermittelten in Richtung Schutzgelderpressung, die | |
| Sonderkommissionen trugen rassistisch konnotierte Namen wie „Halbmond“ und | |
| „Bosporus“. | |
| ## Beamte verdächtigten Angehörige | |
| „Ohne Beweise unterstellte man den Mordopfern, in schwerkriminelle Milieus | |
| verstrickt gewesen zu sein“, sagt die Rechtsextremismusexpertin Birgit Mair | |
| und schildert ein Beispiel aus Nürnberg: „Einer Zeugin wurde eine | |
| Filmaufnahme vorgespielt, die kurz vor dem Anschlag auf der Kölner | |
| Keupstraße gemacht worden war. Hierauf erkannte die Nürnbergerin einen der | |
| Männer, die sie kurz vor dem Mord an İsmail Yaşar in der Nähe des | |
| Nürnberger Tatorts in der Scharrerstraße gesehen hatte. Obwohl die Zeugin | |
| sagte, die Männer hätten eine helle Hautfarbe gehabt, legten ihr die | |
| ermittelnden Beamten in der Folge wohl ausschließlich Fotos von | |
| dunkelhäutig aussehenden Tatverdächtigen vor.“ | |
| Mair teilt die Ansicht der Nebenklageanwält*innen Seda Başay-Yıldız | |
| und Carsten Ilius, die beim NSU-Prozess Opfer-Angehörige vertraten, dass | |
| „institutioneller Rassismus“ eine zentrale Ursache dafür war, dass die | |
| Mordserie nicht gestoppt wurde. So kam für die Hinterbliebenen zum Schmerz | |
| die Scham. „Elf Jahre durften wir nicht einmal reinen Gewissens Opfer | |
| sein“, sagte die heute 34-jährige Tochter Semiya Şimşek-Demirtas 2012 bei | |
| einer Gedenkveranstaltung in Berlin. | |
| Nachdem Ali Toys Chef ermordet worden war, sei die Polizei regelmäßig | |
| Streife am Blumenstand vorbei gefahren, um ihm Schutz zu bieten, erzählt | |
| er. Bis das Kerntrio des NSU aufflog: zehn Jahre lang. Seine Angst ist bis | |
| heute nicht verschwunden, weil es noch nicht zu Ende sei und es immer noch | |
| viele Leute im Hintergrund gäbe. Als Beate Zschäpe, die er nur „diese eine | |
| Frau“ nennt, festgenommen wurde, habe er sich gefreut. Und doch bleiben | |
| viele Fragen. So fände er es komisch, dass [4][NSU-Akten 30 Jahre lange | |
| unter Verschluss] bleiben. Weil der Verfassungsschutz seine Quellen | |
| schützen möchte. | |
| „Immerhin förderten einige NSU-Untersuchungsausschüsse deutlich zutage, | |
| dass die neonazistische Szene sowohl durch die Ermittlungsbehörden als auch | |
| durch den Verfassungsschutz systematisch verharmlost wurde“, sagt Birgit | |
| Mair. „Dutzende neonazistische V-Leute des Verfassungsschutzes tummelten | |
| sich im Umfeld des NSU, Polizeiarbeit wurde durch den Inlandsgeheimdienst | |
| behindert, der im Falle der NSU-Verbrechen eher ein Teil des Problems als | |
| der Lösung war.“ | |
| ## An allen Tatorten Gedenktafeln beschädigt | |
| Und sie geht noch weiter: „Statt bei der Aufklärung der Verbrechen | |
| mitzuhelfen, wurde und wird seitens verschiedener Behörden geschreddert und | |
| gemauert. Besonders bitter: Die Verfassungsschutzbehörden arbeiten in Form | |
| des V-Leute-Systems weiterhin mit Neonazis und anderen extremen Rechten | |
| zusammen.“ | |
| Im Frühjahr 2014 gründete sich die antifaschistische Initiative „Das | |
| Schweigen durchbrechen“ mit dem Ziel, der Menschen zu gedenken, die von den | |
| Rechtsterroristen des NSU in Nürnberg ermordet wurden: Enver Şimşek, | |
| Abdurrahim Özüdoğru und İsmail Yaşar. Seit einigen Jahren thematisiert sie | |
| auch den ersten Bombenanschlag des NSU auf die Kneipe „Sonnenschein“, bei | |
| dem am 23. Juni 1999 der junge Kneipenwirt Mehmet O. in der Nürnberger | |
| Südstadt schwer verletzt wurde. | |
| „Die ersten Gedenktafeln haben wir im Juni 2014 im Rahmen einer Gedenkwoche | |
| angebracht“, so Marek Berger von der Initiative. „An allen Nürnberger | |
| Tatorten wurden die Gedenktafeln beschädigt. Die Gedenktafel für Enver | |
| Şimşek an der Liegnitzer Straße mussten wir gleich zweimal erneuern.“ | |
| Mair weist auf Verunsicherung beim Gedenken hin: „Löblich ist, dass zum | |
| Gedenken an Enver Şimşek in der Liegnitzer Straße durch örtliche | |
| Kirchengemeinden eine kleine Stele errichtet wurde. Diese sorgte aber bei | |
| Besucher*innen schon für reichlich Irritationen. In dem religiös | |
| inspirierten Text heißt es unter anderem: ‚Wenn ein Fremdling bei euch | |
| wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken.‘“ Die Bezeichnung | |
| „Fremdling“ für einen Menschen, der seit 15 Jahren in Deutschland lebte, | |
| habe besonders irritiert. | |
| ## „Die Nazis applaudierten“ | |
| Die [5][bereits gefällten Urteile im NSU-Prozess] entsetzen nicht nur Ali | |
| Toy. Anlässlich der schriftlichen Urteilsbegründung im April erklärten 19 | |
| Anwält*innen der Nebenklage das Urteil zu einem „Mahnmal des Versagens | |
| des Rechtsstaats, der die Angehörigen der NSU-Mordopfer über Jahre erst | |
| kriminalisierte und nun endgültig im Stich gelassen hat“. Elif Kubaşık, die | |
| Witwe des in Dortmund ermordeten Mehmet Kubaşık, hatte schon zu Prozessende | |
| von einem weiteren Schlag ins Gesicht gesprochen. | |
| Das sieht Nils Hüttinger, Streetworker im Stadtteil, in dem Şimşek ermordet | |
| wurde, genauso. „Es gibt auch in der Opferberatung nichts Schlimmeres als: | |
| ‚Ich bin nicht nur ohnmächtig, ich bin missverstanden.‘ Immer wieder dieses | |
| Hoffnung-in-etwas-Setzen: Da gibt es Stellen, die hören mir zu, da gibt es | |
| eine Öffentlichkeit, die hört mir zu, da wird vielleicht Recht gesprochen. | |
| Und dann wird wieder kein Recht gesprochen.“ | |
| „Was viele nicht wissen, ist, dass der Blumenverkäufer und ehemalige | |
| Angestellte von Herrn Şimşek in der Nähe des ehemaligen Tatorts [6][jedes | |
| Jahr einen Baum zum Gedenken an den Ermordeten gepflanzt hat“], so Mair. | |
| Ali Toy kam nur gute 100 Kilometer von Şimşeks Geburtsort Salur in der | |
| Türkei zur Welt. Dort, wo viele Blumen wachsen. Şimşeks Kinder kennt er von | |
| den Gedenkfeiern. Enver Şimşeks Frau lebt wieder in der Türkei, in dessen | |
| Geburtsort, so Ali Toy. Sie möchte nicht mehr in Deutschland sein, wo sie | |
| ihren Mann verloren hat. | |
| Am vergangenen Samstag hatte das „Bündnis Nazistopp“ zur Demonstration am | |
| Tatort in Langwasser unter dem Motto „Und immer noch fordern wir | |
| Aufklärung“ aufgerufen. An der Gedenkaktion beteiligten sich mehr als 300 | |
| Menschen. Abdulkerim Şimşek, der Sohn Enver Şimşeks, sagte bei der | |
| Kundgebung: „Bis heute wissen wir nicht, warum unser Vater umgebracht | |
| wurde. Zufall war es nicht. Und auch der Prozess war eine große | |
| Enttäuschung. Bis auf Beate Zschäpe laufen alle Angeklagten frei herum. Die | |
| Nazis applaudierten, als das Urteil gesprochen wurde.“ | |
| 8 Sep 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Leonhard F. Seidl | |
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