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# taz.de -- Gedenkbaum in Zwickau abgesägt: Die Geschichte von Enver Şimşek
> Irgendwer hat einen Gedenkbaum für ein NSU-Opfer entfernt. Lasst uns
> diese Leute ignorieren. Lasst uns lieber über die Opfer sprechen.
Bild: Wo der Tatort war: Gedenken an Enver Simsek bei Nürnberg
Ich möchte die Geschichte von Enver Şimşek erzählen.
Denn einige Arschlöcher [1][haben einen Baum abgesägt, eine junge Eiche,
die Menschen in Zwickau zum Gedenken an Şimşek gepflanzt haben]. Enver
Şimşek war das erste Opfer der rechtsextremen Terrorgruppe
Nationalsozialistischer Untergrund (NSU). In Zwickau hat deren Kerntrio
lange gewohnt. Das Absägen ist ein Signal zum Tag der deutschen Einheit: Es
zeigt an, wer nach der Ansicht von Rassisten in dieses wiedervereinigte
Land gehören soll und wer nicht.
Enver Şimşek war Unternehmer, ein self-made man. 1985 kam er nach
Deutschland. Er arbeitete erst in einer Fabrik, dann handelte er mit
Blumen, er machte einen Großhandel auf. Er hatte eine Frau, Adile, und zwei
Kinder: Semiya und Abdulkerim. Er lebte in Schlüchtern, einer Stadt mit
einem alten Kloster und einer Burg im Südosten Hessens.
Am 9. September 2000 schießen die Neonazis Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos in
Nürnberg auf Enver Şimşek. Er verkauft gerade Blumen, er steht dabei auf
der Ladefläche seines Transporters. Die Terroristen feuern acht Mal. Sie
treffen: seinen Kopf, drei Kugeln. Seine rechte Schulter, zwei Kugeln. Das
linke Auge und die Unterlippe, eine Kugel. Den linken Unterarm, eine Kugel.
Den Ellenbogen, eine Kugel. Zwei Tage später stirbt Enver Şimşek im
Krankenhaus. Da ist er 38 Jahre alt. Şimşek ist an dem Tag nur zufällig in
Nürnberg, er vertritt einen Kollegen.
## Eine Einheit im Versagen
Neun weitere Morde werden folgen. Zehn Jahre lang wird keine Behörde, kein
Polizist dieser Schlächtertruppe auf die Spur kommen. Im November 2011
enttarnt sie sich nach einem missglückten Banküberfall selbst.
[2][Die Ermittlungen und der Prozess sind auch eine Geschichte der
deutschen Einheit, eine Einheit im Versagen, im Wegschauen und im Anklagen
der eigentlichen Opfer]. Die Täter des NSU kommen aus Ostdeutschland, sie
sind dort aufgewachsen, haben sich dort radikalisiert, konnten dort
jahrelang im Untergrund leben.
Wenn andere Ostdeutsche mir als Ostdeutschem erzählen, Rechtsextremismus
sei ein gesamtdeutsches Problem und man solle mal nicht immer auf den Osten
zeigen, dann denke ich an den NSU, woher er kommt, wo er gewohnt hat – und
ich weiß, dass die Verantwortung der ostdeutschen Gesellschaft an diesen
Mordtaten fast nie thematisiert wird. Ich ärgere mich darüber, denn
eigentlich sollten wir das von uns aus ansprechen. Versuchen, uns zu
entschuldigen. Aber ich rede selten darüber, denn oft wird mir gesagt, ich
redete ohnehin schon zu viel über Nazis.
In Westdeutschland hingegen saßen viele der Ermittler und
Verfassungsschützer, die sich die Tode von Enver Şimşek nie als das
vorstellen konnten, was sie waren: eine rassistische Mordserie. Oder
vielleicht konnten sie das, fanden das aber nicht so schlimm – oder
vielleicht auch ganz gut. Dort passierten so viele, nennen wir es
freundlich: „Merkwürdigkeiten“, dass ich nur deswegen nicht an eine
Verschwörung glauben möchte, um nicht an allem zweifeln zu müssen. Aber um
ehrlich zu sein, zweifle ich seither wieder an allem.
## Wer Scheiße baut, fällt nicht tief
Zweifelt irgendjemand von denen, die ermittelt haben? Ein Mann fällt mir
des Öfteren auf, er übernahm 2012 den Vorsitz einer Behörde, die Menschen
wie Enver Şimşek vor dem NSU hätte schützen sollen, dies das aber es nicht
vermochte. Hans-Georg Maaßen wollte das Vertrauen in diese Behörde wieder
herstellen. Ich würde sagen, er hat versagt. Es hat ihm nicht sehr
geschadet. Er wurde entlassen, das ja, aber Du kannst als westdeutscher
Mann mit bestimmten Ansichten und bestimmter Vita noch so viel Scheiße
bauen, Du fällst nicht tief, Du fällst nur ständig vor irgendwelche
Mikrofone.
Christian Bangel hat bei Zeit Online [3][einen erhellenden Text] über das
Zusammenwirken von westdeutschen Eliten und ostdeutscher Straße
geschrieben, und ich kann mir gut vorstellen, wie dieses Zusammenspiel auch
im Fall des NSU gewirkt haben mag.
In den zehn langen Blutjahren des Nationalsozialistischen Untergrundes hat
die Familie Şimşek den vereinigten deutschen Staat, seine Staatsanwälte und
Polizisten nicht als Freund und Helfer erfahren. Sondern als Ankläger. Sie
klagen ab dem Tag des Mordes die Familie an: Spielsucht? Alkoholprobleme?
Familienstreit? Geldsorgen? Mafia? PKK?
An den Vorwürfen ist nichts dran, wird nie etwas dran sein. Während Adile
Şimşek das erste Mal Fragen beantwortet, liegt ihr Mann im Krankenhaus. Es
sind seine letzten Stunden. Die Ermittler schreiben in ihr Protokoll, dass
Adile Şimşek weint.
## Zwickau tat mehr als schwafeln
Es wäre vollkommen verständlich, hätten die Kinder von Enver Şimşek danach
alles und jeden in diesem Land gehasst. Aber Enver Şimşek hat seine Kinder
so erzogen, dass sein Sohn Abdulkerim über einen der Helfer der Mörder
folgendes bei Spiegel Online sagen konnte: „Carsten S. hat sich als
Einziger zu seiner Tat bekannt, er hat glaubhaft Reue gezeigt und sich
aufrichtig entschuldigt. Gerade den, der das Schweigen gebrochen und
wirklich zur Aufklärung beigetragen hat, hat es nun am härtesten getroffen.
Ich würde es wirklich begrüßen, wenn Carsten S. so schnell wie möglich
wieder aus dem Gefängnis kommt.“
Şimşeks Tochter Semiya hat ein Buch geschrieben: Schmerzliche Heimat.
Deutschland und der Mord an meinem Vater. Sie hat die Geschichte der Opfer
erzählt. Was kann eine Gesellschaft tun, um Menschen das Signal zu senden,
dass sie nach allem Versagen doch nicht ganz allein sind, vergessen, mit
ihrem Schmerz, ihrer Enttäuschung und ihrer Wut?
In Zwickau, dort wo das Kerntrio des NSU lange gewohnt hat, haben sie
erkannt, dass es nicht reicht, vom [4][„gesamtdeutschen Problem“] zu
faseln, eine Sprechformel übrigens, die ich mir ein paar Jahre in die Hölle
absoluter Ignoranz wünsche, weil sie nur noch dazu zu dienen scheint, die
eigene Verantwortung weit von sich zu schieben. Die Oberbürgermeisterin von
Zwickau, Pia Findeiß, ist so eine zum Glück nicht, sie wird selbst von
Neonazis bedroht.
2016 stellten Künstler elf weiße Bänke in Zwickau auf. Eine für jedes
Mordopfer und eine für jene Opfer, von denen wir bis heute vielleicht
nichts wissen. Unbekannte haben zwei Bänke gestohlen. Die anderen
beschmiert.
## Wärme statt Kälte
Am 8. September 2019 pflanzten Zwickauer zum Gedenken an Şimşek eine junge
Eiche. Vor ein paar Tagen haben Unbekannte den dünnen Stamm durchgesägt.
Ich habe lange überlegt, ob ich diesen Text schreibe. Denn ich glaube, ich
kenne Euch, die Täter, oder solche wie Euch, und ich kann mir gut
vorstellen wie Ihr Euch aufgeilt an diesem Typen aus Berlin an seinem
Entsetzen, seiner Empörung und seiner ohnmächtigen Wut. Wenn schon, dann
wollte ich etwas Kaltes und Souveränes schreiben, über das Ihr nicht lachen
könnt.
Die Wahrheit ist nur, dass diese Kälte, diese vorgespielte Souveränität,
dann auch die anweht, denen nur Wärme gebührt: den Opfern, ihren Kindern.
Wir werden uns also an Enver Şimşek erinnern. Wer zu diesem Wir gehören
will und wer nicht – da mag jeder seine Seite selbst wählen.
Von Euch, den Tätern, aber wird nichts bleiben, als dass ihr einer langen
Reihe von Taten voller Niedertracht eine weitere hinzugefügt habt. Nichts
Neues, nichts Bewegendes, einfach nur die immer gleiche Gemeinheit in
anderer Form. Die Geschichte wird mit kaltem Hauch über Eure innere Ödnis
hinweggehen und nichts wird von Euch bleiben außer Stille.
4 Oct 2019
## LINKS
[1] /NSU-Mord-in-Zwickau/!5631240
[2] /Schwerpunkt-Rechter-Terror/!t5007732
[3] https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-10/meinungsfreiheit-ddr…
[4] /Professorin-ueber-Identitaeten/!5501987
## AUTOREN
Daniel Schulz
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Schwerpunkt Mordfall Walter Lübcke
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