# taz.de -- Ein Jahr Urteil im NSU-Prozess: Von wegen Aufklärung | |
> Etwaige Terrorhelfer von damals sind nicht ermittelt, Spuren in ein | |
> rechtes Netzwerk blieben unverfolgt. Jetzt wirft der Fall Lübcke neue | |
> Fragen auf. | |
Bild: Demonstrantin in Hamburg | |
Carsten S. zumindest sitzt in Haft. Seit dem Frühjahr, in einer | |
Justizvollzugsanstalt, die nicht genannt werden darf. Der 39-Jährige | |
lieferte dem NSU-Trio die Česká-Pistole, [1][mit der die Rechtsterroristen | |
neun Migranten erschossen.] Nach seiner Festnahme packte S. aus, seitdem | |
steht er unter Zeugenschutz. | |
„Er möchte für sich endlich abschließen“, sagt Jacob Hösl, der Anwalt v… | |
Carsten S. Schon zu Jahresbeginn habe er seine Revision gegen das | |
NSU-Urteil zurückgezogen, Wochen später seine Haft angetreten. | |
Damit ist Carsten S. der einzige NSU-Helfer, der heute in Haft sitzt. Genau | |
vor einem Jahr sprach das Oberlandesgericht München das Urteil wegen der | |
NSU-Terrorserie mit zehn Todesopfern und drei Anschlägen: lebenslange Haft | |
für Beate Zschäpe, Haftstrafen bis zu zehn Jahren für vier Helfer der | |
Rechtsterroristen. Für Carsten S. waren es drei Jahre Jugendstrafe. Es war | |
ein historisches Urteil, der Schlusspunkt eines Mammutprozesses, nach fünf | |
Jahren Verhandlung. | |
Es war aber auch: ein Stück Ernüchterung. | |
Noch im Verhandlungssaal wurde einer der Helfer, André Eminger, | |
freigelassen, der engste Vertraute des NSU-Trios. Den Untergetauchten | |
beschaffte er eine Wohnung, Papiere und Wohnmobile. Dafür bekam er | |
zweieinhalb Jahre Haft, Neonazis auf der Tribüne brachen in Jubel aus. | |
## Opferangehörige sind enttäuscht | |
Einige Tage später wurde auch Ralf Wohlleben aus der U-Haft entlassen. Er | |
organisierte dem Trio die Mordwaffe. Die anderen beiden verurteilten | |
Helfer, Holger G. und Carsten S., waren seit Jahren auf freiem Fuß. Alle | |
Angeklagten gingen umgehend in Revision gegen das NSU-Urteil, daher auch | |
die vorläufigen Freilassungen. | |
Es wird dauern, bis der Bundesgerichtshof den Schuldspruch überprüfen wird. | |
Aktuell schreiben die Richter an der schriftlichen Urteilsbegründung. | |
Aufgrund des langen Prozesses haben sie Zeit: Spätestens im April 2020 | |
müssen die Richter ihre Begründung vorlegen. | |
So lange sind die Urteile noch nicht rechtskräftig. So lange sitzt Beate | |
Zschäpe weiter in U-Haft, derzeit in der JVA Chemnitz. Und so lange | |
bleiben die NSU-Helfer frei – bis auf Carsten S. Den Einzigen, der voll bei | |
der Aufklärung der Terrorserie mitwirkte. | |
Dass die NSU-Helfer-Szene bisher davonkommt, enttäuscht viele | |
Opferangehörige. Auch Gamze Kubaşık. Ihr Vater wurde am 4. April 2006 in | |
Dortmund vom NSU ermordet, in seinem Kiosk, durch zwei Kopfschüsse. Ein | |
Jahr nach dem NSU-Urteil sagt sie: „Dass Neonazis nach dem Urteil feiern, | |
ist ein ganz bitteres Zeichen.“ | |
Kubaşık macht das Angst. Denn es ist unklar, ob alle NSU-Helfer bekannt | |
sind. „In Dortmund und anderswo laufen immer noch Neonazis frei herum, die | |
wahrscheinlich auch bei dem Mord an meinem Vater mitgeholfen haben“, sagt | |
die 32-Jährige. „Ich möchte endlich, dass man diese Neonazis als Netzwerk | |
verfolgt. Sie sind viel gefährlicher, als die Polizei und der | |
Verfassungsschutz zugeben.“ | |
Generalbundesanwalt Peter Frank hatte nach dem NSU-Urteil versprochen: „Die | |
Akte NSU wird nicht geschlossen.“ Man werde weiter ermitteln nach | |
Unterstützern suchen. Indes: Dass seitdem etwas passiert wäre, hat man | |
nicht gehört. | |
Nun wirft der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke neue | |
Fragen auf. Auch in Kassel mordete der NSU: Am 6. April 2006 erschossen die | |
Rechtsterroristen hier Halit Yozgat, in dessen Internetcafé – zwei Tage | |
nach dem Mord an Mehmet Kubaşık. Gab es Helfer? Wenn ja: Hatte der | |
mutmaßliche Lübcke-Mörder Stephan Ernst, ein langjähriger Rechtsextremist, | |
womöglich mit ihnen zu tun? Diente die NSU-Tat als Vorbild? | |
Die Familie Yozgat will darüber nicht spekulieren. Auch ihre Anwälte halten | |
sich bedeckt. Andere aber stellen laut Fragen. „Natürlich kommt jetzt mit | |
dem Mord an Walter Lübcke alles wieder hoch“, sagt Mehmet Daimagüler, | |
Anwalt der Familien zweier Nürnberger NSU-Opfer. „Wissen wir denn, ob das | |
NSU-Netzwerk nicht noch am Leben ist? Ob es nicht weitermordet? Jetzt rächt | |
sich, dass das NSU-Unterstützerumfeld von der Bundesanwaltschaft nie | |
ausermittelt wurde.“ | |
## Der Fall Andreas Temme | |
Anfang Juni wurde Lübcke ermordet, vor seinem Haus in Wolfhagen-Istha, 25 | |
Kilometer von Kassel entfernt, auch mit einem Kopfschuss. Der mutmaßliche | |
Täter, Stephan Ernst, fiel bereits ab 1989 mit rechtsextremen Straftaten | |
auf. Als der NSU 2006 in Kassel mordete, war er Teil der dortigen | |
Neonazi-Szene. Gibt es einen Zusammenhang? | |
Gamze Kubaşık glaubt: ja. „Ich bin überzeugt, dass die Neonazis, die | |
wahrscheinlich beim Mord an meinem Vater mitgeholfen haben, auch mit dem | |
Mord an Herrn Lübcke zu tun haben. Warum sagen immer noch Leute bei der | |
Polizei und beim Verfassungsschutz, dass das alles Einzeltäter sind?“ | |
Klar ist: Gerade nach dem Kasseler NSU-Mord blieben viele Fragen offen. | |
Denn am Tatort war damals auch ein Verfassungsschützer: Andreas Temme. | |
Warum, ist bis heute unklar. Temme behauptet, er habe dort privat auf einer | |
Flirt-Website gesurft und von dem Mord nichts mitbekommen. Letzteres | |
glaubten ihm Ermittler nicht. Ungeklärt ist auch, worüber Temme kurz vor | |
der Tat mit einem V-Mann aus der rechtsextremen Szene Kassels telefonierte. | |
War diese Szene in den NSU-Mord verstrickt? Gleich drei Zeugen berichteten | |
nach dem Auffliegen des NSU-Trios, sie hätten Böhnhardt, Mundlos oder | |
Zschäpe in der Stadt gesehen – mal auf einer Geburtstagsfeier der | |
Szenegröße Stanley R., mal in einer von Rechten besuchten Gaststätte, mal | |
auf einem Szenekonzert. Die Ermittler konnten nichts davon erhärten. Die | |
Häufung der vermeintlichen Sichtungen in Kassel bleibt aber auffällig: | |
alles Zufall? | |
## Lübcke tauchte schon auf einer alten Liste auf | |
Dazu räumte eine Kasseler Rechtsextremistin, Corryna G., ein, das | |
Internetcafé von Halit Yozgat wenige Monate vor dem Mord mehrmals besucht | |
zu haben. Mit der NSU-Tat will auch sie nichts zu tun gehabt haben: Sie | |
habe dort damals nur Sim-Karten erworben. Seltsam bleibt: Im letzten | |
NSU-Unterschlupf in Zwickau fand sich eine handgemalte Skizze – von Halit | |
Yozgats Internetcafé. | |
Woher kam sie? Fertigte sie jemand für das NSU-Trio an? Auch dies ist | |
ungeklärt. | |
Und nun der Lübcke-Mord. Einen Zusammenhang mit der NSU-Serie sehen die | |
Ermittler bislang nicht. Aber: Auf einer Adressliste mit rund 10.000 | |
Einträgen, die Ermittler beim NSU-Trio fanden, stand auch Lübckes Name – | |
mit seiner Adresse und der früheren Funktion als Landtagsabgeordneter. | |
Lange bevor Lübcke 2015 mit seiner Kritik an Flüchtlingsgegnern bundesweit | |
bekannt wurde. | |
Auch der Tatverdächtige Stephan Ernst war Thema im hessischen | |
NSU-Ausschuss. Dort allerdings nur als auffälliger, gewaltbereiter Neonazi | |
– ohne direkten Bezug zum NSU-Trio. Aber: Laut Sicherheitskreisen soll | |
Ernst noch bis 2011 Mitglied der völkischen „Artgemeinschaft“ gewesen sein. | |
Und die zog auch das NSU-Netzwerk an: Der verurteilte Wohlleben ist mit dem | |
Anführer des Vereins befreundet, Zschäpe und Eminger sollen dort Schulungen | |
besucht haben. Und als der NSU 2002 Spendenbriefe an die Szene verschickte, | |
erreichte einen auch die „Artgemeinschaft“. | |
## Die Helfer wirken nicht geleutert | |
Fragen wirft zudem der mutmaßliche Waffenvermittler von Ernst auf: Markus | |
H., auch er ein langjähriger Kasseler Neonazi. Der 43-Jährige geriet schon | |
2006 beim Mord an Halit Yozgat ins Visier. Auffällig häufig hatte er damals | |
eine BKA-Fahndungsseite zu der Tat aufgerufen. Der Polizei erklärte H. sein | |
Interesse damit, dass sein Vermieter ein Bekannter Yozgats sei und er Halit | |
auch einmal getroffen habe. | |
Nach H.s rechter Gesinnung fragten die Ermittler nicht. Sie hakten die Spur | |
ab. Ins Visier gerät nun erneut Stanley R. Er ist eine Kasseler | |
Neonazi-Größe, Fotos von 2002 zeigen ihn mit Stephan Ernst. Die Behörden | |
halten R. schon lange für gewaltbereit, bescheinigen ihm „ein Höchstmaß an | |
Konspirativität“. Heute gilt R. als Deutschlandchef des Neonazi-Netzwerks | |
Combat18 – das sich einem bewaffneten Kampf und „führerlosen Widerstand“ | |
verschrieben hat. So wie der NSU. | |
„Es sind im NSU-Komplex bis heute viel zu viele Fragen offen“, sagt | |
Opferanwalt Daimagüler. Gerade nach dem Lübcke-Mord sei es umso zwingender, | |
dass die Aufklärung der Rechtsterrorserie wieder aufgenommen werde und der | |
Staat endlich hart gegen Neonazi-Strukturen vorgehe. | |
Tatsächlich wirken – bis auf Carsten S. – selbst die verurteilten | |
NSU-Helfer nicht geläutert. André Eminger besuchte schon kurz nach seiner | |
Verurteilung ein Neonazi-Konzert im Thüringischen Kirchheim. Bei einem | |
anderen Szenefestival zeigte er sich im Shirt der rechtsextremen | |
„Gefangenenhilfe“. | |
## Es bleibt haarstäubend | |
Wohlleben wiederum quartierte sich nach seiner Freilassung beim Anführer | |
der „Artgemeinschaft“ in Sachsen-Anhalt ein. Zuletzt nahm er laut | |
Verfassungsschutz mit Eminger an einem rechtsextremen „Zeitzeugenvortrag“ | |
in Sachsen teil. In der Szene wird das goutiert: Beide würden dort | |
„umsorgt“ und als „Helden“ verehrt. | |
Beate Zschäpe dagegen findet in der Szene weniger Beachtung. Sie sei dort | |
„out“, wie Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang konstatiert. Auch in | |
Haft seien „politische Auffälligkeiten“ von Zschäpe „nicht bekannt“, … | |
die Leiterin der JVA Chemnitz der taz. Ein Sprecher der Bundesanwaltschaft | |
versichert, Hinweisen auf NSU-Helfer werde weiter nachgegangen – bisher | |
aber hätten sich diese nicht gerichtsfest erhärtet. | |
Noch werde gegen neun Verdächtige ermittelt, die dem NSU Waffen oder | |
Papiere verschafft haben sollen. Wie aktiv ermittelt wird, bleibt indes | |
unklar. Durchsuchungen jedenfalls gab es seit dem Urteil keine mehr, auch | |
keine Anklagen. | |
[2][Gamze Kubaşık hat dafür kein Verständnis.] „Wie viele Menschen sollen | |
noch von den Nazis umgebracht werden, bevor endlich diese Gefahr ernst | |
genommen wird?“ | |
10 Jul 2019 | |
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## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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