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# taz.de -- Antisemitismus in Sachsen: Der Baum des Gedenkens
> 1991 wurde in Zittau ein Baum gepflanzt – als Zeichen der Hoffnung und
> der Versöhnung. Doch selbst heute ist er nicht vor Antisemiten sicher.
Bild: Wo genau der Gedenkbaum steht, ist geheim
Die Geschichte klingt wie ein Märchen: Ein Mädchen wird geboren, die Eltern
nennen es Sarah. Es ist das erste jüdische Kind, das in Zittau nach dem
Holocaust geboren wird. Eine Gruppe von Menschen beschließt, für das
Mädchen einen Baum zu pflanzen, als Zeichen der Hoffnung und Versöhnung.
Sie tun es heimlich und sie halten auch später den Standort geheim. Denn
sie wissen: Wird er bekannt, wird der Baum vermutlich nicht lange
überleben.
Die Eiche bekommt keine Gedenktafel, sie wächst einfach, unbeachtet und
unbekannt. [1][Als vergangenen Freitag in Zwickau der Gedenkbaum für Enver
Şimşek abgesägt wurde], hatte 200 Kilometer östlich Sarahs Baum schon 28
Jahre überlebt. Aber kaum einer wusste, dass es diesen Baum gibt. Ist das
jetzt ein Sieg über den rechten Terror oder die Kapitulation?
[2][Sarah Borowik-Frank] ist heute ebenfalls 28 Jahre alt, für sie wurde
der Baum damals gepflanzt. Ihre Eltern haben Zittau bald nach ihrer Geburt
verlassen; sie waren jüdische Kontingentflüchtlinge aus der Sowjetunion.
Sie hatten in Zittau in einem Flüchtlingsheim gewohnt, bevor sie nach
Baden-Württemberg umzogen.
Sarah Borowik-Frank lebt dort noch immer, sie studiert in Konstanz, ist
Künstlerin, bloggt über das jüdische Leben und hat gerade die Biografie
ihrer Großmutter herausgegeben – Lia Frank, Schriftstellerin und
Professorin.
## Nur eine Art jüdischer Witz?
Borowik-Frank wusste lange Zeit nicht, dass es diesen Baum gibt. In ihrer
Familie wurde zwar immer wieder darüber gesprochen, aber sie hielt die
Geschichte für eine Art jüdischen Witz. Dann stieß sie auf einen Hinweis im
Nachlass ihrer Großmutter und fragte sich: Was, wenn es kein Witz ist?
Sie kontaktierte das Stadtarchiv in Zittau und erhielt schließlich eine
Bestätigung in Form eines kleinen Zeitungsartikels, in dem der Baum erwähnt
wird. Sie schrieb verschiedenen Zeitungen und bat sie, ihr dabei zu helfen,
die Menschen zu finden, die den Baum gestiftet hatten. Eine
Lokaljournalistin der Sächsischen Zeitung wurde schließlich fündig: Eine
Gruppe um den evangelischen Pfarrer Lothar Alisch hatte den Baum gepflanzt.
Lothar Alisch ist im Jahr 2000 verstorben. Aber man kann seine Witwe
anrufen, Heidrun Alisch, die 68 Jahre alt ist. Sie erzählt, dass ihr Mann
in jener Zeit viel mit jüdischen Kontingentflüchtlingen zu tun hatte, dass
sich ein Freundeskreis gebildet hatte aus Künstlern, Ärzten,
Intellektuellen. Sie gedachten der Jüdischen Gemeinde in Zittau, die im
Holocaust ausgelöscht worden war. „Zu DDR-Zeiten wurde ja nicht über den
Holocaust gesprochen“, sagt sie.
Und dann wurde dieses Kind geboren. Die Gruppe beschloss, den Baum zu
pflanzen als Hoffnungszeichen. Der Standort wurde geheim gehalten. „Er wäre
ansonsten unter Garantie ausgerissen worden.“ Auch heute wäre er nicht
sicher, sagt sie.
Damals habe eine Aufbruchsstimmung geherrscht. Eine freundlichere,
friedlichere, hoffnungsvollere Stimmung als heute. Als ihr Mann starb, ist
der Freundeskreis von damals zerfallen, viele seien weggezogen. Heute haben
sich alle in ihr Schneckenhaus zurückgezogen.
Als Sarah Borowik-Frank bei Heidrun Alisch anrief, habe sie sich total
gefreut. Sie haben ein nettes, ruhiges Gespräch geführt.
## Besuch mit Personenschutz
Sarah Borowik-Frank plant eine Reise nach Zittau. Sie hat, als sie vom Baum
erfahren hat, auch die taz angeschrieben – seitdem stehen wir in Kontakt.
Gemeinsam wollen wir nach Zittau fahren und ihren Baum besuchen. Doch sie
verschiebt ihre Reise immer wieder. Sie meldet sich in verschiedenen
Zittauer Lokalgruppen bei Facebook an und ist abgestoßen von den rechten
Parolen, die sie dort teilweise zu hören bekommt. Es macht ihr Angst, dass
ihre Eiche ein Geheimnis ist und auch heute nicht sicher wäre, wie ihr
mehrere Menschen in diesen Lokalgruppen versichern.
Borowik-Frank plant schließlich die Feier ihres 28. Geburtstages an ihrer
Eiche – mit Personenschutz. Sie schreibt per Facebook-Messenger: „In
solchen Momenten fühle ich mich so ambivalent … Unsichtbar und geheim oder
offen und verfolgt?“
Als ich sie später frage, was es in ihr ausgelöst hat, von ihrem Baum
erfahren zu haben, schickt sie mir eine Mail. Telefonieren möchte sie
nicht. Sie schreibt: „Einerseits natürlich eine riesige Freude!
Gleichzeitig aber eine tiefe Erschrockenheit. Stellen Sie sich vor, für Sie
wird 1991 ein Baum als Zeichen des Friedens und der Versöhnung gepflanzt –
aber Ihr Baum ist 2019 immer noch nicht sicher.“
Und weiter: „Wir kennen es leider, dass Gedenkstätten von bereits toten
Jüdinnen geschändet werden. Ich aber – lebe! Das vermittelt mir natürlich,
dass wir in Deutschland lebende Jüdinnen nicht sicher sind, wenn es weder
unsere Steine – noch unsere Bäume sind.“
## Sprengstoff bei der Mutmacherin
Sie verfolgt die Lokalpolitik in Zittau und ist entsetzt, als die AfD bei
der Europawahl stärkste Kraft wird. Aber es gibt auch Politikerinnen, die
ihr Mut machen. Ramona Gehring zum Beispiel, Stadträtin der Linkspartei.
„Sie ist die einzige Politikerin, die täglich gegen rechte oder
antisemitische Kommentare öffentlich in den Dialog tritt“, schreibt Sarah
Borowik-Frank.
Im Juli wird ein Sprengstoffanschlag auf das Haus von Ramona Gehring
verübt. Daraufhin zieht sich Sarah Borowik-Frank zurück, sie sagt ihre
Geburtstagsfeier am Baum ab.
Ob sie seither mal in Zittau war und ihren Baum gesehen hat? Darauf möchte
sie keine Antwort geben. „Privat“, schreibt sie.
Erst als der Gedenkbaum von Enver Şimşek abgesägt wird, sucht sie wieder
die Öffentlichkeit und macht ihrer Empörung bei Facebook Luft. „Es darf
2019 nicht der Fall sein, dass Gedenkbäume nicht sicher sind“, schreibt sie
später per Mail. „Das zeigt uns eindeutig, dass in Deutschland etwas
grundlegend schief läuft.
Es fühlt sich an, als würde das halbe Land verschlafen, wie wir unsere
Geschichte wiederholen. Frei nach dem Narrativ ,Wir haben doch nichts
gewusst'. Aber diese kollektive Ausrede funktioniert 2019 nicht mehr. Nicht
mit den sozialen Medien, die uns fast in Echtzeit informieren. Wir wissen,
dass der Baum von Enver Şimşek abgesägt wurde. Auch wenn er ersetzt wird,
löst das unser Problem nicht.“
Dass es die Eiche, die für die kleine Sarah gepflanzt wurde, heute noch
gibt, liegt wahrscheinlich daran, dass nicht einmal Heidrun Alisch sagen
kann, welcher Baum es genau ist. Aber sie kennt die Ecke, an der der Baum
steht, und jedes Mal, wenn sie daran vorbeikommt, erinnert sie sich.
13 Oct 2019
## LINKS
[1] /Gedenkbaum-in-Zwickau-abgesaegt/!5631305
[2] https://www.instagram.com/sarah.borowik/?hl=de
## AUTOREN
Steffi Unsleber
## TAGS
Antisemitismus
Gedenken
Sachsen
Enver Simsek
Opfer rechter Gewalt
Schwerpunkt Rechter Terror
Enver Simsek
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