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# taz.de -- Kulturprojekt gegen NSU-Schlussstrich: Mit Kultur gegen das Vergess…
> Die ersten rechtsterroristsichen NSU-Morde sind 20 Jahre her. Das
> bundesweite interdisziplinäre Projekt „Kein Schlussstrich“ soll daran
> erinnern.
Bild: Sollen eine Stimme bekommen: die zehn NSU-Opfer
Hamburg taz | Es ist vielleicht kein Zufall, dass der Ruf nach einem
Schlussstrich immer dann laut wird, wenn zu wenig aufgearbeitet wurde. Wenn
nicht hinreichend nach den Wurzeln für Missstände und Verbrechen gesucht
wurde, weil sie tief hineinreichen in die Gesellschaft: in Polizei, Justiz,
Verfassungsschutz und Medien.
Bei den zehn rassistisch motivierten Morden des rechtsterroristischen
„Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) wurde das nicht ausdrücklich so
formuliert; da setzte man auf das leise Vergessen. Es hat nicht
funktioniert: Angehörige und Aktivisten erinnern sich sehr wohl daran, dass
zum Beispiel der türkische Gemüsehändler Süleyman Taşköprü 2001 in Hambu…
eins der ersten NSU-Opfer wurde. Der Täter erschoss ihn am helllichten Tag
in seinem Laden und entkam unbehelligt. Es folgten neun weitere Morde in
anderen Städten – an Migranten und einer Polizistin.
Ermittler und etliche Medien sprachen flugs und ausdauernd von
„Dönermorden“ im „Bandenmilieu“, verdächtigten Angehörige und ignori…
Hinweise auf rechtsradikale Motive. Zudem war bis zur Selbstenttarnung des
NSU-Trios – Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe – im Jahr 2011
stets die Rede von „Einzeltätern“.
Später förderten parlamentarische Untersuchungsausschüsse in den
betroffenene Städten ein [1][Bündel an Interessen,] Plänen, V-Leuten und
Zuständigen zutage, das letztlich niemanden konkret haftbar machte und
Hunderte Unterstützer dieses Terrors nicht belangte. Die Versiegelung der
hessischen Akten für 120 Jahre nährte zudem den Verdacht, dass eher die
Täter und Mitwisser geschützt werden sollten als die Opfer.
## Strukturelle Empathie für die Opfer fehlt
„Die strukturelle Empathie für die Opfer und ihre Angehörigen fehlt bis
heute“, sagt Jonas Zipf vom städtischen Betrieb „Jena Kultur“, ansässig
also in jener thüringischen Stadt, aus der der NSU stammte. Gemeinsam mit
der Kuratorin Ayşe Gulec, den Dramaturgen Tuncay Kulaoğlu und Simon
Meienreis sowie dem Soziologen Matthias Quent hat er eine bundesweite
Kooperation von Theatern und anderen Kulturinstitutionen gegründet, die im
Oktober und November 2021 – zum 20. Jahrestag der ersten NSU-Morde – das
Projekt „Kein Schlussstrich“ präsentieren: In insgesamt 14 Städten –
Tatorten oder solchen, an denen Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe lebten oder
zumindest unterstützt wurden – sollen Theaterstücke, Performances,
Symposien und Ausstellungen stattfinden.
„Das Schlimmste ist, das die Opfer – Menschen, die ohnehin eher sprachlos
sind in unserer Gesellschaft – viel zu wenig gehört wurden“, sagt
Kampnagel-Chefin Amelie Deuflhard, die „fast spontan zusagte“,
Mit-Veranstalterin von „Kein Schlussstrich“ zu werden, das vom Verein
„Licht ins Dunkel“ getragen wird.
Die Zugänge sind betont multiperspektivisch. Der
deutsch-türkisch-armenische Komponist und GitarristIn Marc Sinan etwa wird
das Oratorium „Manifest(o)“ komponieren. Orchester, Chor und Solisten
werden darin an NSU-Tatorten Texte von der Antike bis in die Postmoderne
vortragen, negative Energien aufnehmen und künstlerisch „reinigen“ – und…
den Weg ebnen für einen neuen Humanismus. Die Aufführungen in mehreren
Städten sollen digital verbunden und um eingespielte Publikumsreaktionen
ergänzt werden.
In Hamburg wird Kampnagel – neben einem Symposion – unter anderem ein
interaktives Live-Hörspiel der feministischen, interdisziplinär arbeitenden
Hamburger Autorin, Filmschaffenden und Künstlerin Leyla Yenirce zeigen. Sie
hat das preisgekrönte Kunst- und Musikkollektiv „One Mother“, mit gründet,
das sie seit einigen Jahren als Club-Reihe auf Kampnagel präsentiert. In
ihrer Performance für das „Kein Schlussstrich“-Projekt spürt sie
Künstlerinnen und Aktivistinnen nach, die zu verschiedenen Zeiten
antifaschistischen Widerstand leisteten. Der Arbeitstitel: „A possible form
of resilience“. Näheres möchte die Künstlerin noch nicht darüber sagen.
Die Ausstellung „Offener Prozess“ wiederum soll, sagen die KuratorInnen
Ayşe Gulec und Fritz Lazlo Weber, ostdeutsche Realität zum Ausgangspunkt
nehmen, um eine Geschichte des NSU-Komplexes zu erzählen:
Migrationsgeschichten, die Kontinuität rechter Gewalt, aber auch des
Widerstandes dagegen. „Offener Prozess“ soll touren und in allen am Projekt
beteiligten Städten marginalisierte Perspektiven zeigen.
Denn auch das Brechen von Klischees sei ein Ziel von „Kein Schlussstrich“,
sagt Simon Meienreis, einer der Künstlerischen LeiterInnen und Dramaturg am
Schauspiel Essen: „Es kommt oft die Message: Im Osten neigen die Leute eher
dazu, AfD zu wählen, weil sie nie eine Person of Colour zu Gesicht bekommen
haben.“ Das stimme so nicht. „Unser Projekt wird auch Rassismuserfahrungen
von People of Colour im Osten zeigen, die dort – etwa als Kinder ehemaliger
VertragsarbeiterInnen der DDR – aufgewachsen sind.“ Zudem gebe es ja viele
antirassistisch Engagierte im Osten.
Auch im Westen fänden sich Ambivalenzen: In Dortmund etwa existiere neben
dem engagierten, diversen Dietrich-Keuning-Haus, Partner des „Kein
Schlussstrich“-Projekts, auch eine starke Nazi-Szene.
Davon abgesehen beleuchte das Projekt die teils widersprüchliche
Aufarbeitung des NSU-Komplexes. „Hamburg etwa hat 2014 eine Straße nach
Süleyman Taşköprü benannt“, sagt Meienreis. „Zugleich war es das einzige
Bundesland, das [2][keinen NSU-Untersuchungsausschuss] wollte.“ Überhaupt
hätten beim [3][Gedenken in den betroffenen Städten] verschiedene Kriterien
eine Rolle gespielt: „Da ging es viel um Stadtmarketing. Andererseits
darum, welche Relevanz die Bedürfnisse und Verletzungen der migrantischen
Bevölkerung für Stadtpolitik und Mehrheitsgesellschaft haben.“
## Struktureller Rassismus auch in der Kultur
Das Bewusstsein für strukturellen Rassismus innerhalb der beteiligten
Projekte selbst sei indes nicht bei allen gleich groß, sagt Meienreis.
„Aber zum Glück wird das Thema inzwischen so oft auf die Tagesordnung
gesetzt, dass wir nicht drum herumkommen.
„Das Problem des strukturellen Rassismus auf die Bühnen zu bringen, reicht
heute nicht mehr“, sagt auch Kampnagel-Chefin Deuflhard. „Es geht konkret
auch um die Frage: Was tun wir in unsern Institutionen, damit unsere
MitarbeiterInnenschaft vielfältiger wird?“ Auch Kampnagel sei nicht so
weit, wie es sein könnte, wäre vor 30 Jahren damit angefangen worden. „Aber
wir werben in jeder Ausschreibung offensiv dafür, dass sich auch Menschen
nichtdeutscher Herkunft bewerben.“ Und in den häufiger fluktuierenden Jobs
– etwa bei Einlass- und Kassenpersonal – würden schon relativ viele
Menschen unterschiedlicher Herkunft beschäftigt.
„Aber in unseren Büros sind immer noch die meisten MitarbeiterInnen
deutschstämmig und weiß“, räumt Deuflhard ein. „Es ist uns wichtig, dass
die Mitarbeiterschaft diverser wird, aber ich kann und will jetzt auch
nicht der Hälfte meiner Leute kündigen. Das sind eben sehr langsame
Prozesse, die wir beschleunigen, so gut es geht.“
9 Feb 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Petra Schellen
## TAGS
Schwerpunkt Rechter Terror
Hamburg
Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)
Theater
Schwerpunkt Rechter Terror
Kolumne Poetical Correctness
Bayern
Thüringen
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