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# taz.de -- Opfer des NSU-Terrors in Nürnberg: Vom Tatort zum Gedenkort
> Nirgendwo ermordete der NSU mehr Menschen als in Nürnberg. Die Stadt tat
> sich lange schwer, Gedenkorte einzurichten. Das soll sich nun ändern.
Bild: Eine Bronzetafel erinnert an den vom NSU ermordeten İsmail Yaşar
Nürnberg taz | Die Tatorte liegen zu weit außerhalb, als dass man zufällig
über sie stolpern würde. Nicht am Rand der Liegnitzer Straße. Auch nicht in
der Scharrer-, Scheurl- oder Gyulaer Straße. Vier Straßen in Nürnberg, in
denen der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) zwischen 1999 und 2005
drei türkeistämmige Menschen ermordete und einen schwer verletzte. Die
Tatorte liegen eher abseits, in südlichen Stadtteilen. Deshalb hat die
Stadt Nürnberg im März 2013 das offizielle NSU-Mahnmal am Rand der
südlichen Altstadt platziert und sich kaum um Gedenkorte an den Tatorten
selbst gekümmert.
Der NSU hat insgesamt 10 Menschen in verschiedenen Städten ermordet,
nirgendwo so viele wie in Nürnberg. Mit [1][der Frage, wie der Opfer
gedacht werden kann], tut sich die Stadt nicht immer leicht.
Das offizielle Mahnmal in der Altstadt ist eine Stele mit den Namen aller
NSU-Opfer und knüpft an die „Straße der Menschenrechte“ des israelischen
Künstlers Dani Karavan an. Diese symbolisiert in Form von 27 Säulen, zwei
Bodenplatten und einer Säuleneiche die 30 Artikel der
Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen.
Das Mahnmal für die NSU-Opfer erkennt man erst bei genauerem Hinsehen, die
Stele geht etwas unter. Im Umfeld [2][erinnern noch weitere Gedenkorte an
ermordete Sinti und Roma beziehungsweise die homosexuellen Opfer des
NS-Regimes] von 1933 bis 1945. Der antifaschistischen Initiative „Das
Schweigen durchbrechen“ reichte die offizielle Erinnerungsarbeit für die
Opfer der braunen Terrorzelle nicht aus. Sie sorgte mit Aktionen und
Infotafeln dafür, dass auch an den Tatorten über die Anschläge informiert
wird.
Als sich im vergangenen Spätsommer der NSU-Mord an dem Blumengroßhändler
Enver Şimşek in Nürnberg zum zwanzigsten Mal jährte, forderte ein breites
Bündnis aus SPD, Grünen, Linken, Antifa und Kirchen, die Gedenkorte
präsenter zu machen.
## Keine Straße, aber immerhin ein Platz
So sollten auch Straßen nach den Opfern benannt werden, eine Forderung, die
im CSU-regierten Rathaus auf wenig Begeisterung stieß. Aus Kostengründen,
wie die CSU-Fraktion sagte. Sie beantragte im Herbst 2020 alternativ, nur
eine Asphaltfläche am Tatort, dem Platz, wo Şimşeks Familie am Wochenende
weiter Blumen verkauft, in Enver-Şimşek-Platz zu benennen. Verbunden werden
sollte die Neubenennung mit einer Verschönerung des Areals und mit einem
Gesamtkonzept für alle vier NSU-Tatorte in der Stadt.
Für „verbesserungsbedürftig“ hält Birgit Mair, die Leiterin des Instituts
für sozialwissenschaftliche Forschung, Bildung und Beratung, das Gedenken
an den NSU-Tatorten in Nürnberg. Mair hat das Begleitbuch zur
Wanderausstellung „Die Opfer des NSU und die Aufarbeitung der Verbrechen“
veröffentlicht. Die Idee, die drei Straßen, an denen die Morde geschahen,
nach den Ermordeten zu benennen, findet sie gut, „allerdings sollten auch
die Angehörigen damit einverstanden sein“. Das neue Konzept der Stadt
Nürnberg gehe aber „auf die Forderungen aus der Zivilgesellschaft nur
bedingt ein“.
Über die Benennung des Platzes hat Nürnbergs Oberbürgermeister Marcus König
(CSU) bei der Gedenkfeier am 9. September 2020 mit dem Sohn des NSU-Opfers,
Abdulkerim Şimşek gesprochen. Der 33-jährige Şimşek sagt, in die Gestaltung
sei er bisher nicht einbezogen worden, doch habe er „volles Vertrauen in
die Stadt und den OB“. Alle seien „sehr offen und kooperativ“ gewesen. �…
geht es um den Platz und nicht um die ganze Straße“, betont er im Namen der
anderen Angehörigen. Er hofft, dass ihm das Konzept noch vorgestellt wird.
Federführend ist dabei das Menschenrechtsbüro der Stadt Nürnberg. Martina
Mittenhuber, die Leiterin, sagt, dass außer einer Sitzbank, ein paar
Blumenbeeten und eventuell einer runderneuerten Stele keine großen
Umgestaltungen an diesem Tatort vorgesehen seien. Die Kosten sollen
überschaubar bleiben und notfalls über eine Stiftung finanziert werden. Der
Stadtrat soll noch vor der Sommerpause am 21. Juli die Weichen dafür
stellen. Die offizielle Umbenennung ist bereits für den 21. Jahrestag des
Attentats am 9. September 2021 geplant.
Aktuell steht auf dem Platz eine Info-Stele, für die sich Kirchengemeinden
einsetzten und die sie mit Spendengeldern realisierten. Der Text auf der
Stele, ein Bibelvers, in dem das Wort „Fremdling“ auftaucht, sorgte für
Kritik und Kontroversen. Şimşek stört sich aber nicht daran: „Es ist ein
Zitat, in das man nichts reininterpretieren soll“, findet er.
## Gedenkorte sind für Nazis neue Ziele
Für ihn persönlich ist vor Ort das Foto seines Vaters von größerer
Bedeutung, das mit dem Zusatz „Am 9. 9.2000 von Nazis ermordet, kein
Vergeben – kein Vergessen!“ an einem Baum angebracht ist. Angetan ist er
von der Absicht des Menschenrechtsbüros, ein digitales Infosystem mit
QR-Code zu installieren, das Besuchern der NSU-Tatorte via Smartphone Daten
und Hintergründe zum NSU-Terror liefert.
Doch das dauert noch; voraussichtlich bis 2022, wie Mittenhuber erklärt.
Dann sollen auch zwei neue Infotafeln angebracht werden: In der
Scharrerstraße, wo einmal der Imbiss des 2005 ermordeten Ismail Yaşar
stand, und in der Scheurlstraße, wo der NSU 1999 ein Sprengstoffattentat
verübte, das [3][bis heute nicht vollständig aufgeklärt ist.]
Auch am Tatort des Mordes an Abdurrahim Özüdoğru in der Gyulaer Straße soll
es eine Tafel geben. Özüdoğru wurde am 13. Juni 2001 vor einem Wohnhaus
erschossen. Einige der heutigen Bewohner des Hauses hatten während des
Abstimmungsprozesses Bedenken, wegen möglicher Anschläge von
Rechtsextremen. Denn Gedenkorte sind für Nazis neue Ziele.
Beim Polizeipräsidium Mittelfranken sind von 2013 bis 2017 zwölf Vorfälle
mit rechtsextremem Hintergrund an NSU-Gedenkorten aktenkundig – vom
Beschmieren mit Kot über verunglimpfende Aufkleber bis zum Diebstahl.
Obwohl seit gut dreieinhalb Jahren kein neuer Fall dazu kam, müsse „an den
offiziellen Gedenkorten mit einzelnen Sachbeschädigungen gerechnet werden“,
sagt Polizeisprecher Wolfgang Prehl. Er empfiehlt eine Überwachungskamera.
Die sei „bei einer Häufung von Fällen hilfreich“.
## Jena gedenkt „mit Fingerspitzengefühl“
Auch das Gedenkporträt am Tatort des Mordes an Enver Şimşek musste nach
Angriffen schon erneuert und weiter nach oben gehängt werden. Sohn
Abdulkerim Şimşek und seiner Familie ist es wichtig, dass der geplante
Enver-Şimşek-Platz sauber gehalten wird und keine verletzenden
Schmierereien, Sprüche oder Hakenkreuze geduldet werden. Ein Vorteil sei,
dass die Familie dort weiter arbeite, sagt Şimşek. „Bei Bedarf können
unsere eigenen Leute den Schaden beseitigen.“
Er empfindet [4][das Gedenken in Jena] als besonders positiv, wo im
September 2020 „mit Fingerspitzengefühl eine ganze Straße in zentraler
Lage“ nach seinem Vater umbenannt wurde. Außerdem hält er die Gestaltung
des ebenfalls zentralen Mehmet-Kubaşik-Platzes in Dortmund für sehr
gelungen.
Auch Barbara John, seit 2011 die Ombudsfrau der Bundesregierung für die
Hinterbliebenen der Opfer des NSU, hält das zentrale Mahnmal in Dortmund
für „vorbildlich“. John appelliert eindringlich an alle Städte, bei
Gedenkorten „die Angehörigen einzubeziehen und die Inhalte mit den
betroffenen Familien abzustimmen“. Als erfreuliches Beispiel hebt sie
Erfurt hervor, Regierungssitz des Bundeslandes Thüringen, aus dem die Täter
stammen: Dort soll im Herbst 2021 vor dem Parlament ein Gedenkort
entstehen. Dieser werde in einer „vorbildlichen Zusammenarbeit“ seitens der
Stadt mit den betroffenen Familien und ihr entwickelt.
Für Nürnberg, „das wegen der drei Morde eine besondere Verantwortung
gegenüber den Familien der Opfer hat“, wünscht sich John mit Blick auf die
Zukunft, dass die Stadt „den Mut hat, in einer zentralen Lage ein Mahnmal
zu schaffen, wo es viele wahrnehmen“. Nur so könne verhindert werden, dass
die NSU-Strategie nachträglich doch noch aufgehe – und Tatorte in Randlage
und mit schnellen Fluchtwegen dafür sorgten, die Täter zu schützen und die
Ermordeten schnell in Vergessenheit geraten zu lassen.
2 Jun 2021
## LINKS
[1] /Jahrestag-der-NSU-Aufdeckung/!5722528
[2] /Vergessene-Opfer-der-Nazis/!5768783
[3] /Akten-zum-Rechtsterror-des-NSU/!5728812
[4] /Kulturprojekt-gegen-NSU-Schlussstrich/!5746482
## AUTOREN
Jo Seuss
## TAGS
Schwerpunkt Rechter Terror
Gedenkstätte
Nürnberg
Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)
Lesestück Recherche und Reportage
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