# taz.de -- 10 Jahre nach dem Auffliegen des NSU: Der lange Schatten des Terrors | |
> Vor 10 Jahren flog der NSU auf. Seine Taten begannen in Nürnberg. | |
> Angehörige der Opfer glauben, dass es dort Helfer gab, die nicht verfolgt | |
> wurden. | |
Bild: Eine Gedenkveranstaltung für Enver Simsek am Tatort im September 2014 | |
An einem Dienstagabend im Oktober sitzt Semiya Şimşek in ihrem Haus in der | |
türkischen Provinz Isparta und blickt in die Kamera ihres Computers. Sie | |
trägt ein weißes Oberteil und spricht in einem Videogespräch übers Internet | |
zu gut 50 Zuschauenden, organisiert ist der Abend von einem Nürnberger | |
Verein. | |
Die 35-Jährige erzählt von ihrem Vater Enver Şimşek, „ein sehr fleißiger | |
und sozialer Mann“, der ihrer Mutter viele Liebesbriefe schrieb. „Ich bin | |
stolz, seine Tochter zu sein.“ | |
Semiya Şimşek hat in den vergangenen Jahren oft über ihren Vater | |
gesprochen, auf Gedenkfeiern, auf Podien, im Fernsehen. Sie wirkt an diesem | |
Oktoberabend zunächst gefasst, als sie erzählt, wie ihr Vater 1985 nach | |
Deutschland kam und von Schlüchtern in Hessen aus einen Blumengroßhandel | |
aufzog, mit Verkaufsständen in mehreren Städten. Bis er am 9. September | |
2000 erschossen wurde. | |
Er stand an diesem Tag als Urlaubsvertretung an einem seiner Stände, an | |
einer Ausfallstraße im Süden Nürnbergs – zwei Unbekannte traten an ihn | |
heran und feuerten neun Schüsse auf ihn ab, mitten am Tag. Şimşek starb | |
zwei Tage später im Krankenhaus. | |
Semiya Şimşek war damals 14 Jahre alt, ihr Bruder Abdulkerim 13. Die Zeit | |
nach dem Mord an ihrem Vater wurde zum Albtraum für die Familie: Elf Jahre | |
lang wusste sie nicht, wer hinter der Tat steckte. Ermittler verdächtigten | |
die Familie, unterstellten dem Vater Drogenhandel oder eine Geliebte. | |
Bis zum 4. November 2011. An diesem Tag erschießen sich in Eisenach die | |
Thüringer Rechtsextremisten Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt nach einem | |
gescheiterten Bankraub in ihrem Wohnmobil. Ihre Kumpanin Beate Zschäpe | |
setzt in Zwickau den letzten Unterschlupf der Gruppe in Brand und | |
verschickt Bekennerschreiben. Darin verherrlicht der | |
„Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) seine zehn Morde an migrantischen | |
Gewerbetreibenden und einer Polizistin. Der erste Mord war der an Enver | |
Şimşek. | |
Das Auffliegen der Terrorgruppe ist jetzt genau zehn Jahre her. Und je | |
länger Semiya Şimşek an diesem Oktoberabend darüber spricht, desto | |
energischer wird sie. „Nichts ist aufgeklärt“, sagt die Sozialpädagogin | |
bitter. „Wir haben immer noch dieselben Fragen wie damals. Warum mussten | |
unsere Väter sterben? Warum gerade sie?“ | |
Semiya Şimşek ist überzeugt: Weil es Helfer an den Tatorten gab, die die | |
Opfer ausspähten und aussuchten, gerade in Nürnberg. „Es ist kein Trio, es | |
gibt viele Helfershelfer. Und ich verstehe den Staat nicht, warum er da | |
nicht ermittelt, warum er sie nicht bestraft. Warum möchte er immer noch | |
blind bleiben?“ | |
Semiya Şimşek muss kurz innehalten. Sie blickt auf ihrem Bildschirm in | |
betroffene Gesichter der Zuhörenden. Der Moment zeigt, wie offen die Wunden | |
noch immer sind. Und wie sehr der Staat in dieser Mordserie bis heute | |
versagt. | |
Der Terror des NSU ist die schwerste rechtsterroristische Anschlagsserie in | |
Deutschland. Es ist der Terror von Thüringer Neonazis, der in Nürnberg | |
begann – und dort die meisten Todesopfer forderte. | |
Warum ausgerechnet Nürnberg? Weil es lokale Helfer gab? Das Jenaer Trio war | |
mit Rechtsextremisten aus der Region gut bekannt. Und zwei von ihnen hatten | |
vor den Taten direkten Kontakt mit den Nürnberger Mordopfern. | |
Am 23. Juni 1999 explodiert in der Nürnberger Bar „Sonnenschein“, nahe dem | |
Hauptbahnhof, eine Bombe, versteckt in einer Taschenlampe. Als der | |
Betreiber Mehmet O., der seinen wahren Namen sicherheitshalber aus der | |
Öffentlichkeit hält, die Taschenlampe beim Saubermachen findet und | |
anknipst, zündet die Rohrbombe. O. fliegt durch das Lokal, erleidet | |
Schnittwunden, muss mehrere Wochen gepflegt werden. | |
Am 9. September 2000 folgt der Mord an Enver Şimşek und am 13. Juni 2001 | |
der zweite Mord der NSU-Serie, wieder in Nürnberg, an Abdurrahim Özüdoğru, | |
der eine Änderungsschneiderei betreibt, in der er erschossen wird. Der | |
49-Jährige war ursprünglich für ein Maschinenbaustudium nach Deutschland | |
gekommen und Vater einer 17-jährigen Tochter. Am 9. Juni 2005 folgt | |
schließlich der Mord an İsmail Yaşar, einem 50-jährigen Imbissbetreiber in | |
Nürnberg. Er hinterlässt einen 15-jährigen Sohn und eine 22-jährige | |
Tochter. | |
In sechs anderen Städten ermordete der NSU bis 2007 sieben weitere | |
Menschen: Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, Theodoros | |
Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat, Michèle Kiesewetter. Dazu kamen | |
zwei Anschläge in Köln und 15 Raubüberfälle. | |
Für die Terrorserie wurde Beate Zschäpe im Juli 2018 vor dem | |
Oberlandesgericht München zu lebenslanger Haft verurteilt. Vier | |
Mitangeklagte erhielten Haftstrafen bis zu zehn Jahren: der frühere | |
NPD-Mann und Waffenbeschaffer Ralf Wohlleben, der engste Gefährte André | |
Eminger, der Passbesorger Holger G. und der geläuterte Waffenüberbringer | |
Carsten S. | |
Semiya Şimşek aber glaubt, dass das nicht alle sind. Nach dem Auffliegen | |
des NSU schrieb sie ein Buch, sie verfolgte den Prozess in München als | |
Nebenklägerin, traf sich mit anderen Angehörigen, nahm an | |
Gedenkveranstaltungen teil. Und wanderte 2012 nach Isparta aus. Dorthin, wo | |
ihr Vater geboren wurde – und wo er heute beerdigt ist. | |
Semiya Şimşek suchte Abstand, heiratete, zieht in Isparta heute zwei Kinder | |
groß und arbeitet mit syrischen Geflüchteten. Ruhe gefunden hat sie dennoch | |
nicht. Weil der Mord an ihrem Vater und die offenen Fragen sie nicht | |
loslassen. Und weil sie damit nicht allein ist. | |
An dem Videogespräch nimmt auch Gamze Kubaşık teil, die Tochter des | |
Dortmunder NSU-Opfers Mehmet Kubaşık. „Ich bin mir sicher, dass es Helfer | |
gab“, sagt auch sie. „Aber dazu werden wir wohl nie Antworten bekommen. Die | |
Aufklärung wurde verhindert.“ Auch Mehmet O., der verletzte Betreiber der | |
„Sonnenschein“-Bar, sagt: „Das waren definitiv nicht nur drei Leute.“ V… | |
Engagierte in Nürnberg sind davon ebenfalls überzeugt. | |
Das Problem ist nur: Die Bundesanwaltschaft konnte bis heute keine | |
NSU-Helfer an den Tatorten ermitteln – nicht in Nürnberg und nicht | |
anderswo. Dabei beschrieben sich die Terroristen in ihrem Bekennervideo | |
selbst als „Netzwerk von Kameraden“. | |
129 Kontaktleute des untergetauchten Trios listete die Bundesanwaltschaft | |
einst auf, darunter auch V-Leute. Im NSU-Prozess klagte sie davon die vier | |
engsten Unterstützer an. Zudem laufen bis heute noch Verfahren gegen neun | |
weitere Helfer, die Wohnungen oder Papiere organisiert haben sollen. | |
Handfeste Beweise gegen weitere Unterstützer aber habe man nicht gefunden, | |
beteuerte die Bundesanwaltschaft immer wieder. | |
Viele der Opferangehörigen dagegen glauben, es werde nicht richtig nach den | |
Helfern gesucht, weil der Staat die Dimension des NSU-Terrors nicht noch | |
größer machen wolle. Tatsächlich lässt gerade der Tatort Nürnberg an der | |
These eines abgeschotteten Terrortrios zweifeln. | |
Wenige Tage nach dem 4. November 2011, dem Tag, an dem der NSU aufflog, | |
geht beim Verlag der Nürnberger Nachrichten ein Brief ein, adressiert an | |
die Redaktion. Eine Sekretärin gibt ihn Politikredakteur Herbert Fuehr: Es | |
ist eines der NSU-Bekennerschreiben. | |
„Das war wie ein Schock“, erinnert sich Fuehr. Jahrelang hatte seine | |
Zeitung über die drei rätselhaften Morde in der Stadt berichtet. „Und | |
plötzlich war klar, wie alles zusammenhängt.“ Gleichzeitig sei er verblüfft | |
gewesen. „Dieses Schreiben, ausgerechnet an unsere Zeitung?“ | |
15 dieser Bekennerschreiben soll Beate Zschäpe auf ihrer Flucht an | |
Zeitungsredaktionen, Parteien oder muslimische Vereine verschickt haben. | |
Der Brief an die Nürnberger Nachrichten aber ist unfrankiert. „Das erinnere | |
ich genau, weil unsere Sekretärin die Briefmarken sonst sammelte“, sagt | |
Fuehr. Es musste also jemand persönlich den Brief eingeworfen haben. | |
Zschäpe selbst war es wohl nicht – ihr rekonstruierter Fluchtweg führte gen | |
Norden. „Also war es ein Helfer“, sagt Fuehr. „Einer, den wir bis heute | |
nicht kennen.“ | |
Herbert Fuehr recherchierte mit Kollegen nach Helfern des NSU vor Ort, | |
prüfte Kontakte lokaler Szenegrößen nach Thüringen und mögliche | |
konspirative Wohnungen in Tatortnähe – letztlich erfolglos. Dann ging er in | |
Rente. Heute ist er in einem Nürnberger Bündnis gegen Rechtsextremismus | |
aktiv. Er sagt: „Aus meiner Sicht muss es in Nürnberg Helfer mit | |
Ortskenntnis gegeben haben. Die Tatorte sind sonst nicht zu finden.“ Fuehr | |
gab damals Hinweise an die Polizei weiter. „Von dort habe ich aber nie mehr | |
etwas gehört.“ | |
Tatsächlich gibt es Auffälligkeiten bei allen Nürnberger Tatorten. So war | |
bei der „Sonnenschein“-Bar von außen nicht erkennbar, dass sie von einem | |
Migranten betrieben wurde. Gleiches galt für die Schneiderei von Abdurrahim | |
Özüdoğru. Auch der Blumenstand von Enver Şimşek lag abgelegen und war nur | |
unregelmäßig und an wenigen Tagen aufgebaut. Der verschlungene Weg, auf dem | |
sich laut Zeugen zwei Radfahrer – Mundlos und Böhnhardt, wie sich später | |
herausstellte – nach dem Mord an İsmail Yaşar vom Tatort entfernten, sei | |
auch nur Ortskundigen bekannt, betont Fuehr. | |
Untersuchungsausschüsse hielten zudem fest, dass sich Neonazis vom | |
„Thüringer Heimatschutz“, zu dem Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt gehörte… | |
schon in den neunziger Jahren mit Nürnberger Szenefreunden trafen, etwa in | |
der Gaststätte „Tiroler Höhe“. Das Lokal stand auch auf einer Telefonlist… | |
die Ermittler 1998 nach dem Abtauchen des Jenaer Trios in deren Garage | |
fanden. Ausgewertet wurde die Liste erst nach dem Auffliegen des NSU. | |
Die Anwältin der Familie Şimşek, Seda Başay-Yıldız, verweist auch auf die | |
NSU-Ausspähnotizen zu Nürnberg, die Ermittler in den Resten des | |
Trio-Unterschlupfs fanden. „Asylheim: Tür offen ohne Schloss, Keller | |
zugänglich“, heißt es dort etwa. Oder: „Problem: Tankstelle nebenan. Tür… | |
aus Tankstelle geht in jeder freien Minute zu reden rüber“. Bemerkenswerte | |
Details, von denen Başay-Yıldız überzeugt ist, dass sie Außenstehende nicht | |
durch zufällige Beobachtungen erlangen konnten. „Alles spricht hier für | |
Informationen von Insidern.“ | |
Aber wer sind diese Nürnberger Insider? | |
Ein Name, der vor Ort immer wieder fällt, ist Matthias Fischer. Als im Juni | |
1999 in der „Sonnenschein“-Bar die Bombe explodierte, ist der damals erst | |
22-Jährige bereits einer der am besten vernetzten Neonazis in der Region. | |
Fischer engagiert sich in Kameradschaften wie der Fränkischen Aktionsfront, | |
später bei der NPD. Und er gibt in Nürnberg ein Szeneheft heraus: den | |
Landser. | |
Offen wurde dort zu einem härteren Auftreten der Szene aufgerufen. „Keine | |
Worte, sondern Taten“, lautete der wiederholte Aufruf. Das wurde später die | |
Losung des NSU. In einer Ausgabe Ende 1999, wenige Monate nach dem Anschlag | |
aufs „Sonnenschein“, stand im Landser ein „Gruß an die Untergrundkämpfe… | |
War damit der NSU gemeint? | |
Fischer hatte auch Kontakte nach Thüringen. Wie er bei einer | |
Zeugenvernehmung 2013 beim BKA einräumte, lernte er in den neunziger Jahren | |
auf Konzerten auch einen Mann aus Jena kennen, zu dem er „sporadisch | |
Kontakt“ hielt: Uwe Mundlos. Der wiederum führte Fischer auf besagter | |
„Garagenliste“. | |
Mehr noch: Fischer hatte zwei Szenefreunde, die nahe der „Sonnenschein“-Bar | |
wohnten, einer direkt im Nachbarhaus. Das machte die Opferanwältin Antonia | |
von der Behrens im NSU-Prozess publik. Und das BKA sieht auch die | |
„begründete Annahme“, dass Fischers Landser-Heft vom NSU-Trio 2001 oder | |
2002 ganz direkt einen Spendenbrief erhielt. | |
War Matthias Fischer also einer der Nürnberger NSU-Helfer? Ermittlungen | |
dazu gegen ihn sind nicht bekannt. Auf eine Anfrage an den Neonazi über | |
seine Partei heißt es, man rede nicht mit der taz. In seiner Vernehmung | |
2013 bestritt Fischer, etwas vom NSU gewusst oder mit ihm zu tun gehabt zu | |
haben. Nachfragen der BKA-Beamten gab es fast keine, nach einer Stunde war | |
die Befragung vorbei. | |
2014 zog Fischer schließlich nach Brandenburg. Von der militanten Szene hat | |
er sich nicht gelöst. Fischer baute zuletzt die Neonazi-Partei „Der III. | |
Weg“ auf, die er als Bundesvize leitet – die radikalste rechtsextreme | |
Partei derzeit. Der Brandenburger Verfassungsschutz hält ihn für eine | |
„zentrale Führungsfigur“ und einen „Strippenzieher“, der für Vernetzu… | |
in der Neonazi-Szene sorge, „über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus“. | |
Auch bei der jüngsten Provo-Aktion seiner Partei, einer „Grenzpatrouille“ | |
in Brandenburg, war Fischer dabei. Vom NSU-Terror distanzierte sich seine | |
Partei nicht, im Gegenteil. Im Münchner Prozess hielten „III. Weg“-Anhäng… | |
Kontakt zu den Mitangeklagten Wohlleben und Eminger. Die Partei geißelte | |
das Verfahren als „Komödienstadel“ und „Schauprozess“. | |
Auch eine andere Rechtsextremistin lebte 2002 bis 2003 im Nürnberger Umland | |
und war damals gut vernetzt: Mandy Struck. Die Friseurin hatte Kontakt zu | |
Fischer und seinen Gruppen, nahm an einer ihrer Schulungen teil und schrieb | |
einen Beitrag für den Landser, wie sie im NSU-Prozess einräumte. | |
1998 lernte Struck das untergetauchte NUS-Trio kennen und besorgte ihm | |
einen Unterschlupf in Chemnitz, in der Wohnung ihres damaligen | |
Lebensgefährten – weil ein Szenefreund sie darum gebeten habe. Auch soll | |
sie Zschäpe eine Krankenkassenkarte überlassen haben. Zschäpe wiederum | |
benutzte den Namen Mandy Struck als einen ihrer Aliasse. | |
Gegen Struck läuft bis heute ein Ermittlungsverfahren der | |
Bundesanwaltschaft, eines der neun noch offenen – aber nur wegen des | |
Unterschlupfs, nicht wegen möglicher Hilfen in Nürnberg. Im NSU-Prozess | |
beteuerte sie, von den Terrorplänen nichts gewusst und die Szene verlassen | |
zu haben. Tatsächlich aber tauchte ihr Name später noch auf der | |
Anwesenheitsliste eines rechtsextremen Vereins im Erzgebirge auf. Auch der | |
NSU-Ausschuss im Bundestag hielt Struck für eine „Macherin“, die sich zu | |
Unrecht als „unbedeutend“ darstellen konnte und die die Ermittler | |
„intensiver in den Fokus nehmen hätten müssen“. | |
Ein anderer der damaligen Partner von Mandy Struck war der Nürnberger | |
Neonazi Christian W. Der 42-Jährige war einst in der Kameradschaftsszene | |
aktiv, später bei der NPD. Struck sagte im NSU-Prozess, W. habe ihr mal | |
eine Bombenbauanleitung gegeben – was dieser bestreitet. Aber er räumte in | |
einer BKA-Zeugenvernehmung 2012 ein, dass ihm der Verkaufsstand von Enver | |
Şimşek bekannt war: Er selbst habe dort zwei Mal Blumen gekauft. Mit den | |
Morden wollte er aber nichts zu tun gehabt haben. Die NSU-Taten seien | |
„Wahnsinn“, erklärte er den Beamten. Ermittlungen gegen Christian W. sind | |
nicht bekannt. Er lebt bis heute in der Region, will der Szene aber | |
ebenfalls den Rücken gekehrt haben. | |
Anwältin Başay-Yıldız verweist noch auf einen weiteren Nürnberger | |
Rechtsextremisten, der direkten Kontakt zu einem späteren Mordopfer hatte: | |
Jürgen F. Der heutige Mittfünfziger hatte mit İsmail Yaşar, dem Nürnberger | |
Imbissbetreiber, vor dessen Ermordung einen Streit. Jürgen F. hatte eine | |
Gipsfigur vor dem Imbiss zerstört. Den Schaden bezahlte er nicht, wurde | |
deshalb von Yaşar angezeigt und vor Gericht verurteilt. | |
Başay-Yıldız hält es für möglich, dass das Trio so auf Yaşar aufmerksam | |
wurde. Das BKA erklärte dagegen bereits 2012, man sehe keinen Zusammenhang | |
mit dem Mord – der vorherige Streit sei „situationsbedingt“ entstanden. | |
Aber: Auch Jürgen F. traf Mundlos und andere Thüringer Neonazis laut | |
Ermittlungspapieren 1995 in der „Tiroler Höhe“. | |
Mehmet O., der einstige „Sonnenschein“-Betreiber, wies die Ermittler auf | |
eine weitere Rechtsextremistin hin: Susann Eminger, die Ehefrau des engsten | |
NSU-Helfers André Eminger aus Zwickau. Jahrelang wusste Mehmet O. nicht, | |
wer den Anschlag auf ihn verübt hatte. Im Juni 2013 offenbarte im | |
NSU-Prozess plötzlich der Thüringer Mitangeklagte Carsten S., dass Mundlos | |
und Böhnhardt eine Taschenlampe in eine Nürnberger Kneipe „stellten“. | |
Als Mehmet O. daraufhin nochmal vernommen wurde und ihm BKA-Beamte Fotos | |
von Personen aus dem NSU-Komplex vorlegten, war sich der Gastronom sicher, | |
eine Frau wiederzuerkennen. „Woher ich sie kenne, weiß ich nicht mehr“, | |
sagt Mehmet O. heute. „Aber ich hatte sie auf jeden Fall schon mal | |
gesehen.“ Erst Jahre später erfuhr Mehmet O. durch Journalisten, auf wen er | |
da gezeigt hatte: Susann Eminger. | |
Susann Eminger war jahrelang in der Szene aktiv, wurde nach Zschäpes | |
Untertauchen zu deren bester Freundin, überließ ihr eine Bahncard und | |
Kleidung für die Flucht. Auch gegen die 40-Jährige läuft eines der offenen | |
Verfahren bei der Bundesanwaltschaft, wegen Unterstützung einer | |
terroristischen Vereinigung – aber nur wegen der Bahncard. Eine Beteiligung | |
am Anschlag auf das „Sonnenschein“ wird ihr nicht vorgeworfen. | |
Ermittler begründeten dies damit, dass Mehmet O. seine Aussage zu Susann | |
Eminger „weder zeitlich noch örtlich noch situativ zuordnen“ konnte. Auch | |
habe das NSU-Trio Susann Eminger laut Zschäpe erst nach dem Anschlag | |
kennengelernt. Eminger selbst verweigerte zu alldem im NSU-Prozess die | |
Aussage. | |
Aber auch auf dem Computer von Susann und André Eminger fanden Ermittler | |
einen Kartenausschnitt von Nürnberg. Und der NSU wurde in der Familie bis | |
zum Schluss verehrt. Als Beamte zwei Jahre nach dem Auffliegen die Wohnung | |
der Emingers nochmals durchsuchten, fanden sie im Wohnzimmer eine | |
Kohlezeichnung mit den Gesichtern von Mundlos und Böhnhardt. Dazu der | |
Schriftzug: „Unvergessen“. | |
All die Personen aus dem Umfeld des NSU-Trios und der Nürnberger Tatopfer – | |
sind sie Zufall? Mehmet O. und die anderen Opferangehörigen glauben das | |
nicht. „Ich will Ermittlungen gegen diese Leute sehen“, fordert Mehmet O. | |
„Von Versprechungen habe ich die Nase voll.“ | |
Die Bundesanwaltschaft gibt sich zu der Unterstützer-Frage in Nürnberg | |
jedoch wortkarg. Aktuell bestätigt sie nur die neun noch offenen | |
Helferverfahren, darunter jene gegen Mandy Struck und Susann Eminger. Für | |
weitere Unterstützer wie Matthias Fischer, Christian W. oder Jürgen F. | |
fehle es an einem konkreten Tatverdacht. Für die Bundesanwaltschaft spricht | |
vieles daher dafür, dass das Trio nach dem Abtauchen tatsächlich eng | |
abgeschirmt lebte und in tagelangen Erkundungen seine Opfer selbst | |
ausspähte. | |
Die Opferfamilien und ihre Anwälte kritisieren, dass sie bis heute keine | |
Akteneinsicht zu den neun noch offenen Verfahren bekommen – was die | |
Bundesanwaltschaft mit den noch laufenden Ermittlungen begründet. Auch | |
fordern sie endlich Anklagen. Wahrscheinlicher aber ist, dass die Verfahren | |
demnächst eingestellt werden. Da schon der engste Trio-Vertraute André | |
Eminger im NSU-Prozess einen Teilfreispruch erhielt, ist ein Schuldnachweis | |
für die weiteren Verdächtigen noch schwieriger. | |
Birgit Mair fürchtet diesen Tag. „Das würde für die Opfer noch mal eine | |
Ohrfeige sein.“ Die 54-Jährige gehört in Nürnberg zu den Engagierten, die | |
sich seit Jahren für die NSU-Aufklärung einsetzen. Sie verfolgte | |
Untersuchungsausschüsse und den Münchner Prozess, hielt Kontakt zu den | |
Opferfamilien, setzte sich für Gedenkorte ein, konzipierte eine Ausstellung | |
zu den NSU-Betroffenen, die bundesweit gezeigt wurde. Und es ist ihr Verein | |
– das [1][Institut für sozialwissenschaftliche Forschung, Bildung und | |
Beratung] –, der Semiya Şimşek und Gamze Kubaşık zu dem Onlinegespräch im | |
Oktober einlud. | |
Auch Birgit Mair glaubt, dass es bisher nicht verfolgte NSU-Helfer in ihrer | |
Stadt gibt. „Aber der Wille, sie zu überführen, ist nicht da. Denn wenn man | |
das ganze Netzwerk anklagen würde, käme man an den V-Leuten nicht vorbei. | |
Und da will dieser Staat nicht ran.“ | |
Es ist ein Fazit, das so ähnlich auch der NSU-Untersuchungsausschuss im | |
Bundestag fällte. Eine „strukturelle Aufhellung des breiteren | |
Unterstützernetzwerks ist nicht erfolgt“, heißt es in dessen | |
Abschlussbericht. Dabei sei „deutlich ersichtlich, welche Protagonisten und | |
Netzwerke an deren einzelnen Tat- und Aufenthaltsorten Kontakt zu | |
Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe hatten“. | |
Auch die Nürnberger Lokalpolitik sieht Aufklärungsbedarf. Auf Druck | |
zivilgesellschaftlicher Initiativen, auch der von Mair, verabschiedete der | |
Stadtrat im Mai [2][eine Resolution, in der ein zweiter bayerischer | |
NSU-Untersuchungsausschuss gefordert wird]. Besonders zum Anschlag auf die | |
„Sonnenschein“-Bar sei bis heute vieles ungeklärt, ebenso „die | |
Unterstützerszene des NSU in Nürnberg“, heißt es dort. „Als Stadt, in der | |
diese Verbrechen passierten, ist es unsere Aufgabe, Aufklärung | |
einzufordern.“ Oberbürgermeister Marcus König, ein CSU-Mann, teilt die | |
Forderung: Eine „lückenlose Aufklärung“ und einen zweiten U-Ausschuss sei | |
man „den Opfern und Hinterbliebenen schuldig“. | |
Das Problem ist nur: Die Opfer haben die Hoffnung auf Aufklärung fast | |
verloren – und ihr Vertrauen in den deutschen Staat. „Natürlich haben wir | |
kein Vertrauen mehr, nach allem, was passiert ist“, sagt Semiya Şimşek. | |
„Und wenn dieser Staat so weitermacht, werden immer weitere Morde | |
passieren.“ Es ist auch diese Enttäuschung, die Şimşek in die Türkei zog. | |
Das Grab ihres Vaters liegt nicht weit von ihrem Haus in Isparta entfernt, | |
sie ist häufig dort. „Ich spreche oft mit ihm“, sagt Şimşek. Manchmal ne… | |
sie ihre beiden kleinen Kinder mit, die nun begännen, Fragen nach ihrem | |
Großvater zu stellen. „Ich versuche, das vorsichtig zu erklären.“ Aber sie | |
könne eben nicht alles erklären. | |
Nürnberg setzte [3][in diesem Jahr zumindest Zeichen des Gedenkens]. Im | |
Juni enthüllte die Stadt eine Stele zum 20. Jahrestag des Mordes an | |
Abdurrahim Özüdoğru, dem Schneider und zweiten Nürnberger Opfer. Im | |
September weihte sie einen Enver-Şimşek-Platz ein, am Tatort des Mordes. | |
Dafür reiste Abdulkerim Şimşek, Semiyas Bruder, an und hielt eine Rede. | |
„Ich vermisse meinen Vater immer noch sehr“, sagte der 34-Jährige, der in | |
Hessen lebt. | |
Und er betonte, dass der Prozess in München „eine große Enttäuschung“ wa… | |
weil die Helferfrage dort nicht geklärt wurde. „Warum ausgerechnet mein | |
Vater? Wir müssen noch heute davon ausgehen, dass Mittäter frei | |
herumlaufen.“ | |
Auch Semiya Şimşek flog für diesen Tag, den Todestag ihres Vaters, mit | |
ihrer Familie nach Deutschland, aber nach Jena, wo das NSU-Trio | |
untertauchte und wo vor einem Jahr ebenfalls ein Enver-Şimşek-Platz | |
eingeweiht wurde. Sie nahm an einem kleinen Gedenken teil, das die Stadt | |
organisiert hatte. Sie sei nicht gerne in Nürnberg, am Tatort, wo ihr Vater | |
erschossen wurde, sagt Şimşek. Auch Auftritte wie in Jena kosteten viel | |
Kraft, sie könne nur wenige davon absolvieren. „Danach geht es mir immer | |
zwei, drei Tage nicht gut.“ | |
Und dennoch seien diese Auftritte wichtig, sagt Semiya Şimşek. Damit nicht | |
vergessen werde, wer ihr Vater war. Und was ihm angetan wurde. Und damit | |
irgendwann vielleicht doch noch ihre offenen Fragen beantwortet werden. | |
Ausgeschrieben wurden in diesem Text die Nachnamen jener Personen, die in | |
der Öffentlichkeit bekannt sind. Die anderen wurden abgekürzt. | |
31 Oct 2021 | |
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[1] https://www.isfbb.de/ | |
[2] https://www.br.de/nachrichten/bayern/nuernberger-stadtrat-fordert-zweiten-n… | |
[3] /Opfer-des-NSU-Terrors-in-Nuernberg/!5772662 | |
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Konrad Litschko | |
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