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# taz.de -- 10 Jahre nach dem Auffliegen des NSU: Der lange Schatten des Terrors
> Vor 10 Jahren flog der NSU auf. Seine Taten begannen in Nürnberg.
> Angehörige der Opfer glauben, dass es dort Helfer gab, die nicht verfolgt
> wurden.
Bild: Eine Gedenkveranstaltung für Enver Simsek am Tatort im September 2014
An einem Dienstagabend im Oktober sitzt Semiya Şimşek in ihrem Haus in der
türkischen Provinz Isparta und blickt in die Kamera ihres Computers. Sie
trägt ein weißes Oberteil und spricht in einem Videogespräch übers Internet
zu gut 50 Zuschauenden, organisiert ist der Abend von einem Nürnberger
Verein.
Die 35-Jährige erzählt von ihrem Vater Enver Şimşek, „ein sehr fleißiger
und sozialer Mann“, der ihrer Mutter viele Liebesbriefe schrieb. „Ich bin
stolz, seine Tochter zu sein.“
Semiya Şimşek hat in den vergangenen Jahren oft über ihren Vater
gesprochen, auf Gedenkfeiern, auf Podien, im Fernsehen. Sie wirkt an diesem
Oktoberabend zunächst gefasst, als sie erzählt, wie ihr Vater 1985 nach
Deutschland kam und von Schlüchtern in Hessen aus einen Blumengroßhandel
aufzog, mit Verkaufsständen in mehreren Städten. Bis er am 9. September
2000 erschossen wurde.
Er stand an diesem Tag als Urlaubsvertretung an einem seiner Stände, an
einer Ausfallstraße im Süden Nürnbergs – zwei Unbekannte traten an ihn
heran und feuerten neun Schüsse auf ihn ab, mitten am Tag. Şimşek starb
zwei Tage später im Krankenhaus.
Semiya Şimşek war damals 14 Jahre alt, ihr Bruder Abdulkerim 13. Die Zeit
nach dem Mord an ihrem Vater wurde zum Albtraum für die Familie: Elf Jahre
lang wusste sie nicht, wer hinter der Tat steckte. Ermittler verdächtigten
die Familie, unterstellten dem Vater Drogenhandel oder eine Geliebte.
Bis zum 4. November 2011. An diesem Tag erschießen sich in Eisenach die
Thüringer Rechtsextremisten Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt nach einem
gescheiterten Bankraub in ihrem Wohnmobil. Ihre Kumpanin Beate Zschäpe
setzt in Zwickau den letzten Unterschlupf der Gruppe in Brand und
verschickt Bekennerschreiben. Darin verherrlicht der
„Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) seine zehn Morde an migrantischen
Gewerbetreibenden und einer Polizistin. Der erste Mord war der an Enver
Şimşek.
Das Auffliegen der Terrorgruppe ist jetzt genau zehn Jahre her. Und je
länger Semiya Şimşek an diesem Oktoberabend darüber spricht, desto
energischer wird sie. „Nichts ist aufgeklärt“, sagt die Sozialpädagogin
bitter. „Wir haben immer noch dieselben Fragen wie damals. Warum mussten
unsere Väter sterben? Warum gerade sie?“
Semiya Şimşek ist überzeugt: Weil es Helfer an den Tatorten gab, die die
Opfer ausspähten und aussuchten, gerade in Nürnberg. „Es ist kein Trio, es
gibt viele Helfershelfer. Und ich verstehe den Staat nicht, warum er da
nicht ermittelt, warum er sie nicht bestraft. Warum möchte er immer noch
blind bleiben?“
Semiya Şimşek muss kurz innehalten. Sie blickt auf ihrem Bildschirm in
betroffene Gesichter der Zuhörenden. Der Moment zeigt, wie offen die Wunden
noch immer sind. Und wie sehr der Staat in dieser Mordserie bis heute
versagt.
Der Terror des NSU ist die schwerste rechtsterroristische Anschlagsserie in
Deutschland. Es ist der Terror von Thüringer Neonazis, der in Nürnberg
begann – und dort die meisten Todesopfer forderte.
Warum ausgerechnet Nürnberg? Weil es lokale Helfer gab? Das Jenaer Trio war
mit Rechtsextremisten aus der Region gut bekannt. Und zwei von ihnen hatten
vor den Taten direkten Kontakt mit den Nürnberger Mordopfern.
Am 23. Juni 1999 explodiert in der Nürnberger Bar „Sonnenschein“, nahe dem
Hauptbahnhof, eine Bombe, versteckt in einer Taschenlampe. Als der
Betreiber Mehmet O., der seinen wahren Namen sicherheitshalber aus der
Öffentlichkeit hält, die Taschenlampe beim Saubermachen findet und
anknipst, zündet die Rohrbombe. O. fliegt durch das Lokal, erleidet
Schnittwunden, muss mehrere Wochen gepflegt werden.
Am 9. September 2000 folgt der Mord an Enver Şimşek und am 13. Juni 2001
der zweite Mord der NSU-Serie, wieder in Nürnberg, an Abdurrahim Özüdoğru,
der eine Änderungsschneiderei betreibt, in der er erschossen wird. Der
49-Jährige war ursprünglich für ein Maschinenbaustudium nach Deutschland
gekommen und Vater einer 17-jährigen Tochter. Am 9. Juni 2005 folgt
schließlich der Mord an İsmail Yaşar, einem 50-jährigen Imbissbetreiber in
Nürnberg. Er hinterlässt einen 15-jährigen Sohn und eine 22-jährige
Tochter.
In sechs anderen Städten ermordete der NSU bis 2007 sieben weitere
Menschen: Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, Theodoros
Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat, Michèle Kiesewetter. Dazu kamen
zwei Anschläge in Köln und 15 Raubüberfälle.
Für die Terrorserie wurde Beate Zschäpe im Juli 2018 vor dem
Oberlandesgericht München zu lebenslanger Haft verurteilt. Vier
Mitangeklagte erhielten Haftstrafen bis zu zehn Jahren: der frühere
NPD-Mann und Waffenbeschaffer Ralf Wohlleben, der engste Gefährte André
Eminger, der Passbesorger Holger G. und der geläuterte Waffenüberbringer
Carsten S.
Semiya Şimşek aber glaubt, dass das nicht alle sind. Nach dem Auffliegen
des NSU schrieb sie ein Buch, sie verfolgte den Prozess in München als
Nebenklägerin, traf sich mit anderen Angehörigen, nahm an
Gedenkveranstaltungen teil. Und wanderte 2012 nach Isparta aus. Dorthin, wo
ihr Vater geboren wurde – und wo er heute beerdigt ist.
Semiya Şimşek suchte Abstand, heiratete, zieht in Isparta heute zwei Kinder
groß und arbeitet mit syrischen Geflüchteten. Ruhe gefunden hat sie dennoch
nicht. Weil der Mord an ihrem Vater und die offenen Fragen sie nicht
loslassen. Und weil sie damit nicht allein ist.
An dem Videogespräch nimmt auch Gamze Kubaşık teil, die Tochter des
Dortmunder NSU-Opfers Mehmet Kubaşık. „Ich bin mir sicher, dass es Helfer
gab“, sagt auch sie. „Aber dazu werden wir wohl nie Antworten bekommen. Die
Aufklärung wurde verhindert.“ Auch Mehmet O., der verletzte Betreiber der
„Sonnenschein“-Bar, sagt: „Das waren definitiv nicht nur drei Leute.“ V…
Engagierte in Nürnberg sind davon ebenfalls überzeugt.
Das Problem ist nur: Die Bundesanwaltschaft konnte bis heute keine
NSU-Helfer an den Tatorten ermitteln – nicht in Nürnberg und nicht
anderswo. Dabei beschrieben sich die Terroristen in ihrem Bekennervideo
selbst als „Netzwerk von Kameraden“.
129 Kontaktleute des untergetauchten Trios listete die Bundesanwaltschaft
einst auf, darunter auch V-Leute. Im NSU-Prozess klagte sie davon die vier
engsten Unterstützer an. Zudem laufen bis heute noch Verfahren gegen neun
weitere Helfer, die Wohnungen oder Papiere organisiert haben sollen.
Handfeste Beweise gegen weitere Unterstützer aber habe man nicht gefunden,
beteuerte die Bundesanwaltschaft immer wieder.
Viele der Opferangehörigen dagegen glauben, es werde nicht richtig nach den
Helfern gesucht, weil der Staat die Dimension des NSU-Terrors nicht noch
größer machen wolle. Tatsächlich lässt gerade der Tatort Nürnberg an der
These eines abgeschotteten Terrortrios zweifeln.
Wenige Tage nach dem 4. November 2011, dem Tag, an dem der NSU aufflog,
geht beim Verlag der Nürnberger Nachrichten ein Brief ein, adressiert an
die Redaktion. Eine Sekretärin gibt ihn Politikredakteur Herbert Fuehr: Es
ist eines der NSU-Bekennerschreiben.
„Das war wie ein Schock“, erinnert sich Fuehr. Jahrelang hatte seine
Zeitung über die drei rätselhaften Morde in der Stadt berichtet. „Und
plötzlich war klar, wie alles zusammenhängt.“ Gleichzeitig sei er verblüfft
gewesen. „Dieses Schreiben, ausgerechnet an unsere Zeitung?“
15 dieser Bekennerschreiben soll Beate Zschäpe auf ihrer Flucht an
Zeitungsredaktionen, Parteien oder muslimische Vereine verschickt haben.
Der Brief an die Nürnberger Nachrichten aber ist unfrankiert. „Das erinnere
ich genau, weil unsere Sekretärin die Briefmarken sonst sammelte“, sagt
Fuehr. Es musste also jemand persönlich den Brief eingeworfen haben.
Zschäpe selbst war es wohl nicht – ihr rekonstruierter Fluchtweg führte gen
Norden. „Also war es ein Helfer“, sagt Fuehr. „Einer, den wir bis heute
nicht kennen.“
Herbert Fuehr recherchierte mit Kollegen nach Helfern des NSU vor Ort,
prüfte Kontakte lokaler Szenegrößen nach Thüringen und mögliche
konspirative Wohnungen in Tatortnähe – letztlich erfolglos. Dann ging er in
Rente. Heute ist er in einem Nürnberger Bündnis gegen Rechtsextremismus
aktiv. Er sagt: „Aus meiner Sicht muss es in Nürnberg Helfer mit
Ortskenntnis gegeben haben. Die Tatorte sind sonst nicht zu finden.“ Fuehr
gab damals Hinweise an die Polizei weiter. „Von dort habe ich aber nie mehr
etwas gehört.“
Tatsächlich gibt es Auffälligkeiten bei allen Nürnberger Tatorten. So war
bei der „Sonnenschein“-Bar von außen nicht erkennbar, dass sie von einem
Migranten betrieben wurde. Gleiches galt für die Schneiderei von Abdurrahim
Özüdoğru. Auch der Blumenstand von Enver Şimşek lag abgelegen und war nur
unregelmäßig und an wenigen Tagen aufgebaut. Der verschlungene Weg, auf dem
sich laut Zeugen zwei Radfahrer – Mundlos und Böhnhardt, wie sich später
herausstellte – nach dem Mord an İsmail Yaşar vom Tatort entfernten, sei
auch nur Ortskundigen bekannt, betont Fuehr.
Untersuchungsausschüsse hielten zudem fest, dass sich Neonazis vom
„Thüringer Heimatschutz“, zu dem Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt gehörte…
schon in den neunziger Jahren mit Nürnberger Szenefreunden trafen, etwa in
der Gaststätte „Tiroler Höhe“. Das Lokal stand auch auf einer Telefonlist…
die Ermittler 1998 nach dem Abtauchen des Jenaer Trios in deren Garage
fanden. Ausgewertet wurde die Liste erst nach dem Auffliegen des NSU.
Die Anwältin der Familie Şimşek, Seda Başay-Yıldız, verweist auch auf die
NSU-Ausspähnotizen zu Nürnberg, die Ermittler in den Resten des
Trio-Unterschlupfs fanden. „Asylheim: Tür offen ohne Schloss, Keller
zugänglich“, heißt es dort etwa. Oder: „Problem: Tankstelle nebenan. Tür…
aus Tankstelle geht in jeder freien Minute zu reden rüber“. Bemerkenswerte
Details, von denen Başay-Yıldız überzeugt ist, dass sie Außenstehende nicht
durch zufällige Beobachtungen erlangen konnten. „Alles spricht hier für
Informationen von Insidern.“
Aber wer sind diese Nürnberger Insider?
Ein Name, der vor Ort immer wieder fällt, ist Matthias Fischer. Als im Juni
1999 in der „Sonnenschein“-Bar die Bombe explodierte, ist der damals erst
22-Jährige bereits einer der am besten vernetzten Neonazis in der Region.
Fischer engagiert sich in Kameradschaften wie der Fränkischen Aktionsfront,
später bei der NPD. Und er gibt in Nürnberg ein Szeneheft heraus: den
Landser.
Offen wurde dort zu einem härteren Auftreten der Szene aufgerufen. „Keine
Worte, sondern Taten“, lautete der wiederholte Aufruf. Das wurde später die
Losung des NSU. In einer Ausgabe Ende 1999, wenige Monate nach dem Anschlag
aufs „Sonnenschein“, stand im Landser ein „Gruß an die Untergrundkämpfe…
War damit der NSU gemeint?
Fischer hatte auch Kontakte nach Thüringen. Wie er bei einer
Zeugenvernehmung 2013 beim BKA einräumte, lernte er in den neunziger Jahren
auf Konzerten auch einen Mann aus Jena kennen, zu dem er „sporadisch
Kontakt“ hielt: Uwe Mundlos. Der wiederum führte Fischer auf besagter
„Garagenliste“.
Mehr noch: Fischer hatte zwei Szenefreunde, die nahe der „Sonnenschein“-Bar
wohnten, einer direkt im Nachbarhaus. Das machte die Opferanwältin Antonia
von der Behrens im NSU-Prozess publik. Und das BKA sieht auch die
„begründete Annahme“, dass Fischers Landser-Heft vom NSU-Trio 2001 oder
2002 ganz direkt einen Spendenbrief erhielt.
War Matthias Fischer also einer der Nürnberger NSU-Helfer? Ermittlungen
dazu gegen ihn sind nicht bekannt. Auf eine Anfrage an den Neonazi über
seine Partei heißt es, man rede nicht mit der taz. In seiner Vernehmung
2013 bestritt Fischer, etwas vom NSU gewusst oder mit ihm zu tun gehabt zu
haben. Nachfragen der BKA-Beamten gab es fast keine, nach einer Stunde war
die Befragung vorbei.
2014 zog Fischer schließlich nach Brandenburg. Von der militanten Szene hat
er sich nicht gelöst. Fischer baute zuletzt die Neonazi-Partei „Der III.
Weg“ auf, die er als Bundesvize leitet – die radikalste rechtsextreme
Partei derzeit. Der Brandenburger Verfassungsschutz hält ihn für eine
„zentrale Führungsfigur“ und einen „Strippenzieher“, der für Vernetzu…
in der Neonazi-Szene sorge, „über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus“.
Auch bei der jüngsten Provo-Aktion seiner Partei, einer „Grenzpatrouille“
in Brandenburg, war Fischer dabei. Vom NSU-Terror distanzierte sich seine
Partei nicht, im Gegenteil. Im Münchner Prozess hielten „III. Weg“-Anhäng…
Kontakt zu den Mitangeklagten Wohlleben und Eminger. Die Partei geißelte
das Verfahren als „Komödienstadel“ und „Schauprozess“.
Auch eine andere Rechtsextremistin lebte 2002 bis 2003 im Nürnberger Umland
und war damals gut vernetzt: Mandy Struck. Die Friseurin hatte Kontakt zu
Fischer und seinen Gruppen, nahm an einer ihrer Schulungen teil und schrieb
einen Beitrag für den Landser, wie sie im NSU-Prozess einräumte.
1998 lernte Struck das untergetauchte NUS-Trio kennen und besorgte ihm
einen Unterschlupf in Chemnitz, in der Wohnung ihres damaligen
Lebensgefährten – weil ein Szenefreund sie darum gebeten habe. Auch soll
sie Zschäpe eine Krankenkassenkarte überlassen haben. Zschäpe wiederum
benutzte den Namen Mandy Struck als einen ihrer Aliasse.
Gegen Struck läuft bis heute ein Ermittlungsverfahren der
Bundesanwaltschaft, eines der neun noch offenen – aber nur wegen des
Unterschlupfs, nicht wegen möglicher Hilfen in Nürnberg. Im NSU-Prozess
beteuerte sie, von den Terrorplänen nichts gewusst und die Szene verlassen
zu haben. Tatsächlich aber tauchte ihr Name später noch auf der
Anwesenheitsliste eines rechtsextremen Vereins im Erzgebirge auf. Auch der
NSU-Ausschuss im Bundestag hielt Struck für eine „Macherin“, die sich zu
Unrecht als „unbedeutend“ darstellen konnte und die die Ermittler
„intensiver in den Fokus nehmen hätten müssen“.
Ein anderer der damaligen Partner von Mandy Struck war der Nürnberger
Neonazi Christian W. Der 42-Jährige war einst in der Kameradschaftsszene
aktiv, später bei der NPD. Struck sagte im NSU-Prozess, W. habe ihr mal
eine Bombenbauanleitung gegeben – was dieser bestreitet. Aber er räumte in
einer BKA-Zeugenvernehmung 2012 ein, dass ihm der Verkaufsstand von Enver
Şimşek bekannt war: Er selbst habe dort zwei Mal Blumen gekauft. Mit den
Morden wollte er aber nichts zu tun gehabt haben. Die NSU-Taten seien
„Wahnsinn“, erklärte er den Beamten. Ermittlungen gegen Christian W. sind
nicht bekannt. Er lebt bis heute in der Region, will der Szene aber
ebenfalls den Rücken gekehrt haben.
Anwältin Başay-Yıldız verweist noch auf einen weiteren Nürnberger
Rechtsextremisten, der direkten Kontakt zu einem späteren Mordopfer hatte:
Jürgen F. Der heutige Mittfünfziger hatte mit İsmail Yaşar, dem Nürnberger
Imbissbetreiber, vor dessen Ermordung einen Streit. Jürgen F. hatte eine
Gipsfigur vor dem Imbiss zerstört. Den Schaden bezahlte er nicht, wurde
deshalb von Yaşar angezeigt und vor Gericht verurteilt.
Başay-Yıldız hält es für möglich, dass das Trio so auf Yaşar aufmerksam
wurde. Das BKA erklärte dagegen bereits 2012, man sehe keinen Zusammenhang
mit dem Mord – der vorherige Streit sei „situationsbedingt“ entstanden.
Aber: Auch Jürgen F. traf Mundlos und andere Thüringer Neonazis laut
Ermittlungspapieren 1995 in der „Tiroler Höhe“.
Mehmet O., der einstige „Sonnenschein“-Betreiber, wies die Ermittler auf
eine weitere Rechtsextremistin hin: Susann Eminger, die Ehefrau des engsten
NSU-Helfers André Eminger aus Zwickau. Jahrelang wusste Mehmet O. nicht,
wer den Anschlag auf ihn verübt hatte. Im Juni 2013 offenbarte im
NSU-Prozess plötzlich der Thüringer Mitangeklagte Carsten S., dass Mundlos
und Böhnhardt eine Taschenlampe in eine Nürnberger Kneipe „stellten“.
Als Mehmet O. daraufhin nochmal vernommen wurde und ihm BKA-Beamte Fotos
von Personen aus dem NSU-Komplex vorlegten, war sich der Gastronom sicher,
eine Frau wiederzuerkennen. „Woher ich sie kenne, weiß ich nicht mehr“,
sagt Mehmet O. heute. „Aber ich hatte sie auf jeden Fall schon mal
gesehen.“ Erst Jahre später erfuhr Mehmet O. durch Journalisten, auf wen er
da gezeigt hatte: Susann Eminger.
Susann Eminger war jahrelang in der Szene aktiv, wurde nach Zschäpes
Untertauchen zu deren bester Freundin, überließ ihr eine Bahncard und
Kleidung für die Flucht. Auch gegen die 40-Jährige läuft eines der offenen
Verfahren bei der Bundesanwaltschaft, wegen Unterstützung einer
terroristischen Vereinigung – aber nur wegen der Bahncard. Eine Beteiligung
am Anschlag auf das „Sonnenschein“ wird ihr nicht vorgeworfen.
Ermittler begründeten dies damit, dass Mehmet O. seine Aussage zu Susann
Eminger „weder zeitlich noch örtlich noch situativ zuordnen“ konnte. Auch
habe das NSU-Trio Susann Eminger laut Zschäpe erst nach dem Anschlag
kennengelernt. Eminger selbst verweigerte zu alldem im NSU-Prozess die
Aussage.
Aber auch auf dem Computer von Susann und André Eminger fanden Ermittler
einen Kartenausschnitt von Nürnberg. Und der NSU wurde in der Familie bis
zum Schluss verehrt. Als Beamte zwei Jahre nach dem Auffliegen die Wohnung
der Emingers nochmals durchsuchten, fanden sie im Wohnzimmer eine
Kohlezeichnung mit den Gesichtern von Mundlos und Böhnhardt. Dazu der
Schriftzug: „Unvergessen“.
All die Personen aus dem Umfeld des NSU-Trios und der Nürnberger Tatopfer –
sind sie Zufall? Mehmet O. und die anderen Opferangehörigen glauben das
nicht. „Ich will Ermittlungen gegen diese Leute sehen“, fordert Mehmet O.
„Von Versprechungen habe ich die Nase voll.“
Die Bundesanwaltschaft gibt sich zu der Unterstützer-Frage in Nürnberg
jedoch wortkarg. Aktuell bestätigt sie nur die neun noch offenen
Helferverfahren, darunter jene gegen Mandy Struck und Susann Eminger. Für
weitere Unterstützer wie Matthias Fischer, Christian W. oder Jürgen F.
fehle es an einem konkreten Tatverdacht. Für die Bundesanwaltschaft spricht
vieles daher dafür, dass das Trio nach dem Abtauchen tatsächlich eng
abgeschirmt lebte und in tagelangen Erkundungen seine Opfer selbst
ausspähte.
Die Opferfamilien und ihre Anwälte kritisieren, dass sie bis heute keine
Akteneinsicht zu den neun noch offenen Verfahren bekommen – was die
Bundesanwaltschaft mit den noch laufenden Ermittlungen begründet. Auch
fordern sie endlich Anklagen. Wahrscheinlicher aber ist, dass die Verfahren
demnächst eingestellt werden. Da schon der engste Trio-Vertraute André
Eminger im NSU-Prozess einen Teilfreispruch erhielt, ist ein Schuldnachweis
für die weiteren Verdächtigen noch schwieriger.
Birgit Mair fürchtet diesen Tag. „Das würde für die Opfer noch mal eine
Ohrfeige sein.“ Die 54-Jährige gehört in Nürnberg zu den Engagierten, die
sich seit Jahren für die NSU-Aufklärung einsetzen. Sie verfolgte
Untersuchungsausschüsse und den Münchner Prozess, hielt Kontakt zu den
Opferfamilien, setzte sich für Gedenkorte ein, konzipierte eine Ausstellung
zu den NSU-Betroffenen, die bundesweit gezeigt wurde. Und es ist ihr Verein
– das [1][Institut für sozialwissenschaftliche Forschung, Bildung und
Beratung] –, der Semiya Şimşek und Gamze Kubaşık zu dem Onlinegespräch im
Oktober einlud.
Auch Birgit Mair glaubt, dass es bisher nicht verfolgte NSU-Helfer in ihrer
Stadt gibt. „Aber der Wille, sie zu überführen, ist nicht da. Denn wenn man
das ganze Netzwerk anklagen würde, käme man an den V-Leuten nicht vorbei.
Und da will dieser Staat nicht ran.“
Es ist ein Fazit, das so ähnlich auch der NSU-Untersuchungsausschuss im
Bundestag fällte. Eine „strukturelle Aufhellung des breiteren
Unterstützernetzwerks ist nicht erfolgt“, heißt es in dessen
Abschlussbericht. Dabei sei „deutlich ersichtlich, welche Protagonisten und
Netzwerke an deren einzelnen Tat- und Aufenthaltsorten Kontakt zu
Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe hatten“.
Auch die Nürnberger Lokalpolitik sieht Aufklärungsbedarf. Auf Druck
zivilgesellschaftlicher Initiativen, auch der von Mair, verabschiedete der
Stadtrat im Mai [2][eine Resolution, in der ein zweiter bayerischer
NSU-Untersuchungsausschuss gefordert wird]. Besonders zum Anschlag auf die
„Sonnenschein“-Bar sei bis heute vieles ungeklärt, ebenso „die
Unterstützerszene des NSU in Nürnberg“, heißt es dort. „Als Stadt, in der
diese Verbrechen passierten, ist es unsere Aufgabe, Aufklärung
einzufordern.“ Oberbürgermeister Marcus König, ein CSU-Mann, teilt die
Forderung: Eine „lückenlose Aufklärung“ und einen zweiten U-Ausschuss sei
man „den Opfern und Hinterbliebenen schuldig“.
Das Problem ist nur: Die Opfer haben die Hoffnung auf Aufklärung fast
verloren – und ihr Vertrauen in den deutschen Staat. „Natürlich haben wir
kein Vertrauen mehr, nach allem, was passiert ist“, sagt Semiya Şimşek.
„Und wenn dieser Staat so weitermacht, werden immer weitere Morde
passieren.“ Es ist auch diese Enttäuschung, die Şimşek in die Türkei zog.
Das Grab ihres Vaters liegt nicht weit von ihrem Haus in Isparta entfernt,
sie ist häufig dort. „Ich spreche oft mit ihm“, sagt Şimşek. Manchmal ne…
sie ihre beiden kleinen Kinder mit, die nun begännen, Fragen nach ihrem
Großvater zu stellen. „Ich versuche, das vorsichtig zu erklären.“ Aber sie
könne eben nicht alles erklären.
Nürnberg setzte [3][in diesem Jahr zumindest Zeichen des Gedenkens]. Im
Juni enthüllte die Stadt eine Stele zum 20. Jahrestag des Mordes an
Abdurrahim Özüdoğru, dem Schneider und zweiten Nürnberger Opfer. Im
September weihte sie einen Enver-Şimşek-Platz ein, am Tatort des Mordes.
Dafür reiste Abdulkerim Şimşek, Semiyas Bruder, an und hielt eine Rede.
„Ich vermisse meinen Vater immer noch sehr“, sagte der 34-Jährige, der in
Hessen lebt.
Und er betonte, dass der Prozess in München „eine große Enttäuschung“ wa…
weil die Helferfrage dort nicht geklärt wurde. „Warum ausgerechnet mein
Vater? Wir müssen noch heute davon ausgehen, dass Mittäter frei
herumlaufen.“
Auch Semiya Şimşek flog für diesen Tag, den Todestag ihres Vaters, mit
ihrer Familie nach Deutschland, aber nach Jena, wo das NSU-Trio
untertauchte und wo vor einem Jahr ebenfalls ein Enver-Şimşek-Platz
eingeweiht wurde. Sie nahm an einem kleinen Gedenken teil, das die Stadt
organisiert hatte. Sie sei nicht gerne in Nürnberg, am Tatort, wo ihr Vater
erschossen wurde, sagt Şimşek. Auch Auftritte wie in Jena kosteten viel
Kraft, sie könne nur wenige davon absolvieren. „Danach geht es mir immer
zwei, drei Tage nicht gut.“
Und dennoch seien diese Auftritte wichtig, sagt Semiya Şimşek. Damit nicht
vergessen werde, wer ihr Vater war. Und was ihm angetan wurde. Und damit
irgendwann vielleicht doch noch ihre offenen Fragen beantwortet werden.
Ausgeschrieben wurden in diesem Text die Nachnamen jener Personen, die in
der Öffentlichkeit bekannt sind. Die anderen wurden abgekürzt.
31 Oct 2021
## LINKS
[1] https://www.isfbb.de/
[2] https://www.br.de/nachrichten/bayern/nuernberger-stadtrat-fordert-zweiten-n…
[3] /Opfer-des-NSU-Terrors-in-Nuernberg/!5772662
## AUTOREN
Konrad Litschko
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Rechtsextremismus
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Der III. Weg
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