| # taz.de -- 10 Jahre nach dem Auffliegen des NSU: Der lange Schatten des Terrors | |
| > Vor 10 Jahren flog der NSU auf. Seine Taten begannen in Nürnberg. | |
| > Angehörige der Opfer glauben, dass es dort Helfer gab, die nicht verfolgt | |
| > wurden. | |
| Bild: Eine Gedenkveranstaltung für Enver Simsek am Tatort im September 2014 | |
| An einem Dienstagabend im Oktober sitzt Semiya Şimşek in ihrem Haus in der | |
| türkischen Provinz Isparta und blickt in die Kamera ihres Computers. Sie | |
| trägt ein weißes Oberteil und spricht in einem Videogespräch übers Internet | |
| zu gut 50 Zuschauenden, organisiert ist der Abend von einem Nürnberger | |
| Verein. | |
| Die 35-Jährige erzählt von ihrem Vater Enver Şimşek, „ein sehr fleißiger | |
| und sozialer Mann“, der ihrer Mutter viele Liebesbriefe schrieb. „Ich bin | |
| stolz, seine Tochter zu sein.“ | |
| Semiya Şimşek hat in den vergangenen Jahren oft über ihren Vater | |
| gesprochen, auf Gedenkfeiern, auf Podien, im Fernsehen. Sie wirkt an diesem | |
| Oktoberabend zunächst gefasst, als sie erzählt, wie ihr Vater 1985 nach | |
| Deutschland kam und von Schlüchtern in Hessen aus einen Blumengroßhandel | |
| aufzog, mit Verkaufsständen in mehreren Städten. Bis er am 9. September | |
| 2000 erschossen wurde. | |
| Er stand an diesem Tag als Urlaubsvertretung an einem seiner Stände, an | |
| einer Ausfallstraße im Süden Nürnbergs – zwei Unbekannte traten an ihn | |
| heran und feuerten neun Schüsse auf ihn ab, mitten am Tag. Şimşek starb | |
| zwei Tage später im Krankenhaus. | |
| Semiya Şimşek war damals 14 Jahre alt, ihr Bruder Abdulkerim 13. Die Zeit | |
| nach dem Mord an ihrem Vater wurde zum Albtraum für die Familie: Elf Jahre | |
| lang wusste sie nicht, wer hinter der Tat steckte. Ermittler verdächtigten | |
| die Familie, unterstellten dem Vater Drogenhandel oder eine Geliebte. | |
| Bis zum 4. November 2011. An diesem Tag erschießen sich in Eisenach die | |
| Thüringer Rechtsextremisten Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt nach einem | |
| gescheiterten Bankraub in ihrem Wohnmobil. Ihre Kumpanin Beate Zschäpe | |
| setzt in Zwickau den letzten Unterschlupf der Gruppe in Brand und | |
| verschickt Bekennerschreiben. Darin verherrlicht der | |
| „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) seine zehn Morde an migrantischen | |
| Gewerbetreibenden und einer Polizistin. Der erste Mord war der an Enver | |
| Şimşek. | |
| Das Auffliegen der Terrorgruppe ist jetzt genau zehn Jahre her. Und je | |
| länger Semiya Şimşek an diesem Oktoberabend darüber spricht, desto | |
| energischer wird sie. „Nichts ist aufgeklärt“, sagt die Sozialpädagogin | |
| bitter. „Wir haben immer noch dieselben Fragen wie damals. Warum mussten | |
| unsere Väter sterben? Warum gerade sie?“ | |
| Semiya Şimşek ist überzeugt: Weil es Helfer an den Tatorten gab, die die | |
| Opfer ausspähten und aussuchten, gerade in Nürnberg. „Es ist kein Trio, es | |
| gibt viele Helfershelfer. Und ich verstehe den Staat nicht, warum er da | |
| nicht ermittelt, warum er sie nicht bestraft. Warum möchte er immer noch | |
| blind bleiben?“ | |
| Semiya Şimşek muss kurz innehalten. Sie blickt auf ihrem Bildschirm in | |
| betroffene Gesichter der Zuhörenden. Der Moment zeigt, wie offen die Wunden | |
| noch immer sind. Und wie sehr der Staat in dieser Mordserie bis heute | |
| versagt. | |
| Der Terror des NSU ist die schwerste rechtsterroristische Anschlagsserie in | |
| Deutschland. Es ist der Terror von Thüringer Neonazis, der in Nürnberg | |
| begann – und dort die meisten Todesopfer forderte. | |
| Warum ausgerechnet Nürnberg? Weil es lokale Helfer gab? Das Jenaer Trio war | |
| mit Rechtsextremisten aus der Region gut bekannt. Und zwei von ihnen hatten | |
| vor den Taten direkten Kontakt mit den Nürnberger Mordopfern. | |
| Am 23. Juni 1999 explodiert in der Nürnberger Bar „Sonnenschein“, nahe dem | |
| Hauptbahnhof, eine Bombe, versteckt in einer Taschenlampe. Als der | |
| Betreiber Mehmet O., der seinen wahren Namen sicherheitshalber aus der | |
| Öffentlichkeit hält, die Taschenlampe beim Saubermachen findet und | |
| anknipst, zündet die Rohrbombe. O. fliegt durch das Lokal, erleidet | |
| Schnittwunden, muss mehrere Wochen gepflegt werden. | |
| Am 9. September 2000 folgt der Mord an Enver Şimşek und am 13. Juni 2001 | |
| der zweite Mord der NSU-Serie, wieder in Nürnberg, an Abdurrahim Özüdoğru, | |
| der eine Änderungsschneiderei betreibt, in der er erschossen wird. Der | |
| 49-Jährige war ursprünglich für ein Maschinenbaustudium nach Deutschland | |
| gekommen und Vater einer 17-jährigen Tochter. Am 9. Juni 2005 folgt | |
| schließlich der Mord an İsmail Yaşar, einem 50-jährigen Imbissbetreiber in | |
| Nürnberg. Er hinterlässt einen 15-jährigen Sohn und eine 22-jährige | |
| Tochter. | |
| In sechs anderen Städten ermordete der NSU bis 2007 sieben weitere | |
| Menschen: Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, Theodoros | |
| Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat, Michèle Kiesewetter. Dazu kamen | |
| zwei Anschläge in Köln und 15 Raubüberfälle. | |
| Für die Terrorserie wurde Beate Zschäpe im Juli 2018 vor dem | |
| Oberlandesgericht München zu lebenslanger Haft verurteilt. Vier | |
| Mitangeklagte erhielten Haftstrafen bis zu zehn Jahren: der frühere | |
| NPD-Mann und Waffenbeschaffer Ralf Wohlleben, der engste Gefährte André | |
| Eminger, der Passbesorger Holger G. und der geläuterte Waffenüberbringer | |
| Carsten S. | |
| Semiya Şimşek aber glaubt, dass das nicht alle sind. Nach dem Auffliegen | |
| des NSU schrieb sie ein Buch, sie verfolgte den Prozess in München als | |
| Nebenklägerin, traf sich mit anderen Angehörigen, nahm an | |
| Gedenkveranstaltungen teil. Und wanderte 2012 nach Isparta aus. Dorthin, wo | |
| ihr Vater geboren wurde – und wo er heute beerdigt ist. | |
| Semiya Şimşek suchte Abstand, heiratete, zieht in Isparta heute zwei Kinder | |
| groß und arbeitet mit syrischen Geflüchteten. Ruhe gefunden hat sie dennoch | |
| nicht. Weil der Mord an ihrem Vater und die offenen Fragen sie nicht | |
| loslassen. Und weil sie damit nicht allein ist. | |
| An dem Videogespräch nimmt auch Gamze Kubaşık teil, die Tochter des | |
| Dortmunder NSU-Opfers Mehmet Kubaşık. „Ich bin mir sicher, dass es Helfer | |
| gab“, sagt auch sie. „Aber dazu werden wir wohl nie Antworten bekommen. Die | |
| Aufklärung wurde verhindert.“ Auch Mehmet O., der verletzte Betreiber der | |
| „Sonnenschein“-Bar, sagt: „Das waren definitiv nicht nur drei Leute.“ V… | |
| Engagierte in Nürnberg sind davon ebenfalls überzeugt. | |
| Das Problem ist nur: Die Bundesanwaltschaft konnte bis heute keine | |
| NSU-Helfer an den Tatorten ermitteln – nicht in Nürnberg und nicht | |
| anderswo. Dabei beschrieben sich die Terroristen in ihrem Bekennervideo | |
| selbst als „Netzwerk von Kameraden“. | |
| 129 Kontaktleute des untergetauchten Trios listete die Bundesanwaltschaft | |
| einst auf, darunter auch V-Leute. Im NSU-Prozess klagte sie davon die vier | |
| engsten Unterstützer an. Zudem laufen bis heute noch Verfahren gegen neun | |
| weitere Helfer, die Wohnungen oder Papiere organisiert haben sollen. | |
| Handfeste Beweise gegen weitere Unterstützer aber habe man nicht gefunden, | |
| beteuerte die Bundesanwaltschaft immer wieder. | |
| Viele der Opferangehörigen dagegen glauben, es werde nicht richtig nach den | |
| Helfern gesucht, weil der Staat die Dimension des NSU-Terrors nicht noch | |
| größer machen wolle. Tatsächlich lässt gerade der Tatort Nürnberg an der | |
| These eines abgeschotteten Terrortrios zweifeln. | |
| Wenige Tage nach dem 4. November 2011, dem Tag, an dem der NSU aufflog, | |
| geht beim Verlag der Nürnberger Nachrichten ein Brief ein, adressiert an | |
| die Redaktion. Eine Sekretärin gibt ihn Politikredakteur Herbert Fuehr: Es | |
| ist eines der NSU-Bekennerschreiben. | |
| „Das war wie ein Schock“, erinnert sich Fuehr. Jahrelang hatte seine | |
| Zeitung über die drei rätselhaften Morde in der Stadt berichtet. „Und | |
| plötzlich war klar, wie alles zusammenhängt.“ Gleichzeitig sei er verblüfft | |
| gewesen. „Dieses Schreiben, ausgerechnet an unsere Zeitung?“ | |
| 15 dieser Bekennerschreiben soll Beate Zschäpe auf ihrer Flucht an | |
| Zeitungsredaktionen, Parteien oder muslimische Vereine verschickt haben. | |
| Der Brief an die Nürnberger Nachrichten aber ist unfrankiert. „Das erinnere | |
| ich genau, weil unsere Sekretärin die Briefmarken sonst sammelte“, sagt | |
| Fuehr. Es musste also jemand persönlich den Brief eingeworfen haben. | |
| Zschäpe selbst war es wohl nicht – ihr rekonstruierter Fluchtweg führte gen | |
| Norden. „Also war es ein Helfer“, sagt Fuehr. „Einer, den wir bis heute | |
| nicht kennen.“ | |
| Herbert Fuehr recherchierte mit Kollegen nach Helfern des NSU vor Ort, | |
| prüfte Kontakte lokaler Szenegrößen nach Thüringen und mögliche | |
| konspirative Wohnungen in Tatortnähe – letztlich erfolglos. Dann ging er in | |
| Rente. Heute ist er in einem Nürnberger Bündnis gegen Rechtsextremismus | |
| aktiv. Er sagt: „Aus meiner Sicht muss es in Nürnberg Helfer mit | |
| Ortskenntnis gegeben haben. Die Tatorte sind sonst nicht zu finden.“ Fuehr | |
| gab damals Hinweise an die Polizei weiter. „Von dort habe ich aber nie mehr | |
| etwas gehört.“ | |
| Tatsächlich gibt es Auffälligkeiten bei allen Nürnberger Tatorten. So war | |
| bei der „Sonnenschein“-Bar von außen nicht erkennbar, dass sie von einem | |
| Migranten betrieben wurde. Gleiches galt für die Schneiderei von Abdurrahim | |
| Özüdoğru. Auch der Blumenstand von Enver Şimşek lag abgelegen und war nur | |
| unregelmäßig und an wenigen Tagen aufgebaut. Der verschlungene Weg, auf dem | |
| sich laut Zeugen zwei Radfahrer – Mundlos und Böhnhardt, wie sich später | |
| herausstellte – nach dem Mord an İsmail Yaşar vom Tatort entfernten, sei | |
| auch nur Ortskundigen bekannt, betont Fuehr. | |
| Untersuchungsausschüsse hielten zudem fest, dass sich Neonazis vom | |
| „Thüringer Heimatschutz“, zu dem Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt gehörte… | |
| schon in den neunziger Jahren mit Nürnberger Szenefreunden trafen, etwa in | |
| der Gaststätte „Tiroler Höhe“. Das Lokal stand auch auf einer Telefonlist… | |
| die Ermittler 1998 nach dem Abtauchen des Jenaer Trios in deren Garage | |
| fanden. Ausgewertet wurde die Liste erst nach dem Auffliegen des NSU. | |
| Die Anwältin der Familie Şimşek, Seda Başay-Yıldız, verweist auch auf die | |
| NSU-Ausspähnotizen zu Nürnberg, die Ermittler in den Resten des | |
| Trio-Unterschlupfs fanden. „Asylheim: Tür offen ohne Schloss, Keller | |
| zugänglich“, heißt es dort etwa. Oder: „Problem: Tankstelle nebenan. Tür… | |
| aus Tankstelle geht in jeder freien Minute zu reden rüber“. Bemerkenswerte | |
| Details, von denen Başay-Yıldız überzeugt ist, dass sie Außenstehende nicht | |
| durch zufällige Beobachtungen erlangen konnten. „Alles spricht hier für | |
| Informationen von Insidern.“ | |
| Aber wer sind diese Nürnberger Insider? | |
| Ein Name, der vor Ort immer wieder fällt, ist Matthias Fischer. Als im Juni | |
| 1999 in der „Sonnenschein“-Bar die Bombe explodierte, ist der damals erst | |
| 22-Jährige bereits einer der am besten vernetzten Neonazis in der Region. | |
| Fischer engagiert sich in Kameradschaften wie der Fränkischen Aktionsfront, | |
| später bei der NPD. Und er gibt in Nürnberg ein Szeneheft heraus: den | |
| Landser. | |
| Offen wurde dort zu einem härteren Auftreten der Szene aufgerufen. „Keine | |
| Worte, sondern Taten“, lautete der wiederholte Aufruf. Das wurde später die | |
| Losung des NSU. In einer Ausgabe Ende 1999, wenige Monate nach dem Anschlag | |
| aufs „Sonnenschein“, stand im Landser ein „Gruß an die Untergrundkämpfe… | |
| War damit der NSU gemeint? | |
| Fischer hatte auch Kontakte nach Thüringen. Wie er bei einer | |
| Zeugenvernehmung 2013 beim BKA einräumte, lernte er in den neunziger Jahren | |
| auf Konzerten auch einen Mann aus Jena kennen, zu dem er „sporadisch | |
| Kontakt“ hielt: Uwe Mundlos. Der wiederum führte Fischer auf besagter | |
| „Garagenliste“. | |
| Mehr noch: Fischer hatte zwei Szenefreunde, die nahe der „Sonnenschein“-Bar | |
| wohnten, einer direkt im Nachbarhaus. Das machte die Opferanwältin Antonia | |
| von der Behrens im NSU-Prozess publik. Und das BKA sieht auch die | |
| „begründete Annahme“, dass Fischers Landser-Heft vom NSU-Trio 2001 oder | |
| 2002 ganz direkt einen Spendenbrief erhielt. | |
| War Matthias Fischer also einer der Nürnberger NSU-Helfer? Ermittlungen | |
| dazu gegen ihn sind nicht bekannt. Auf eine Anfrage an den Neonazi über | |
| seine Partei heißt es, man rede nicht mit der taz. In seiner Vernehmung | |
| 2013 bestritt Fischer, etwas vom NSU gewusst oder mit ihm zu tun gehabt zu | |
| haben. Nachfragen der BKA-Beamten gab es fast keine, nach einer Stunde war | |
| die Befragung vorbei. | |
| 2014 zog Fischer schließlich nach Brandenburg. Von der militanten Szene hat | |
| er sich nicht gelöst. Fischer baute zuletzt die Neonazi-Partei „Der III. | |
| Weg“ auf, die er als Bundesvize leitet – die radikalste rechtsextreme | |
| Partei derzeit. Der Brandenburger Verfassungsschutz hält ihn für eine | |
| „zentrale Führungsfigur“ und einen „Strippenzieher“, der für Vernetzu… | |
| in der Neonazi-Szene sorge, „über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus“. | |
| Auch bei der jüngsten Provo-Aktion seiner Partei, einer „Grenzpatrouille“ | |
| in Brandenburg, war Fischer dabei. Vom NSU-Terror distanzierte sich seine | |
| Partei nicht, im Gegenteil. Im Münchner Prozess hielten „III. Weg“-Anhäng… | |
| Kontakt zu den Mitangeklagten Wohlleben und Eminger. Die Partei geißelte | |
| das Verfahren als „Komödienstadel“ und „Schauprozess“. | |
| Auch eine andere Rechtsextremistin lebte 2002 bis 2003 im Nürnberger Umland | |
| und war damals gut vernetzt: Mandy Struck. Die Friseurin hatte Kontakt zu | |
| Fischer und seinen Gruppen, nahm an einer ihrer Schulungen teil und schrieb | |
| einen Beitrag für den Landser, wie sie im NSU-Prozess einräumte. | |
| 1998 lernte Struck das untergetauchte NUS-Trio kennen und besorgte ihm | |
| einen Unterschlupf in Chemnitz, in der Wohnung ihres damaligen | |
| Lebensgefährten – weil ein Szenefreund sie darum gebeten habe. Auch soll | |
| sie Zschäpe eine Krankenkassenkarte überlassen haben. Zschäpe wiederum | |
| benutzte den Namen Mandy Struck als einen ihrer Aliasse. | |
| Gegen Struck läuft bis heute ein Ermittlungsverfahren der | |
| Bundesanwaltschaft, eines der neun noch offenen – aber nur wegen des | |
| Unterschlupfs, nicht wegen möglicher Hilfen in Nürnberg. Im NSU-Prozess | |
| beteuerte sie, von den Terrorplänen nichts gewusst und die Szene verlassen | |
| zu haben. Tatsächlich aber tauchte ihr Name später noch auf der | |
| Anwesenheitsliste eines rechtsextremen Vereins im Erzgebirge auf. Auch der | |
| NSU-Ausschuss im Bundestag hielt Struck für eine „Macherin“, die sich zu | |
| Unrecht als „unbedeutend“ darstellen konnte und die die Ermittler | |
| „intensiver in den Fokus nehmen hätten müssen“. | |
| Ein anderer der damaligen Partner von Mandy Struck war der Nürnberger | |
| Neonazi Christian W. Der 42-Jährige war einst in der Kameradschaftsszene | |
| aktiv, später bei der NPD. Struck sagte im NSU-Prozess, W. habe ihr mal | |
| eine Bombenbauanleitung gegeben – was dieser bestreitet. Aber er räumte in | |
| einer BKA-Zeugenvernehmung 2012 ein, dass ihm der Verkaufsstand von Enver | |
| Şimşek bekannt war: Er selbst habe dort zwei Mal Blumen gekauft. Mit den | |
| Morden wollte er aber nichts zu tun gehabt haben. Die NSU-Taten seien | |
| „Wahnsinn“, erklärte er den Beamten. Ermittlungen gegen Christian W. sind | |
| nicht bekannt. Er lebt bis heute in der Region, will der Szene aber | |
| ebenfalls den Rücken gekehrt haben. | |
| Anwältin Başay-Yıldız verweist noch auf einen weiteren Nürnberger | |
| Rechtsextremisten, der direkten Kontakt zu einem späteren Mordopfer hatte: | |
| Jürgen F. Der heutige Mittfünfziger hatte mit İsmail Yaşar, dem Nürnberger | |
| Imbissbetreiber, vor dessen Ermordung einen Streit. Jürgen F. hatte eine | |
| Gipsfigur vor dem Imbiss zerstört. Den Schaden bezahlte er nicht, wurde | |
| deshalb von Yaşar angezeigt und vor Gericht verurteilt. | |
| Başay-Yıldız hält es für möglich, dass das Trio so auf Yaşar aufmerksam | |
| wurde. Das BKA erklärte dagegen bereits 2012, man sehe keinen Zusammenhang | |
| mit dem Mord – der vorherige Streit sei „situationsbedingt“ entstanden. | |
| Aber: Auch Jürgen F. traf Mundlos und andere Thüringer Neonazis laut | |
| Ermittlungspapieren 1995 in der „Tiroler Höhe“. | |
| Mehmet O., der einstige „Sonnenschein“-Betreiber, wies die Ermittler auf | |
| eine weitere Rechtsextremistin hin: Susann Eminger, die Ehefrau des engsten | |
| NSU-Helfers André Eminger aus Zwickau. Jahrelang wusste Mehmet O. nicht, | |
| wer den Anschlag auf ihn verübt hatte. Im Juni 2013 offenbarte im | |
| NSU-Prozess plötzlich der Thüringer Mitangeklagte Carsten S., dass Mundlos | |
| und Böhnhardt eine Taschenlampe in eine Nürnberger Kneipe „stellten“. | |
| Als Mehmet O. daraufhin nochmal vernommen wurde und ihm BKA-Beamte Fotos | |
| von Personen aus dem NSU-Komplex vorlegten, war sich der Gastronom sicher, | |
| eine Frau wiederzuerkennen. „Woher ich sie kenne, weiß ich nicht mehr“, | |
| sagt Mehmet O. heute. „Aber ich hatte sie auf jeden Fall schon mal | |
| gesehen.“ Erst Jahre später erfuhr Mehmet O. durch Journalisten, auf wen er | |
| da gezeigt hatte: Susann Eminger. | |
| Susann Eminger war jahrelang in der Szene aktiv, wurde nach Zschäpes | |
| Untertauchen zu deren bester Freundin, überließ ihr eine Bahncard und | |
| Kleidung für die Flucht. Auch gegen die 40-Jährige läuft eines der offenen | |
| Verfahren bei der Bundesanwaltschaft, wegen Unterstützung einer | |
| terroristischen Vereinigung – aber nur wegen der Bahncard. Eine Beteiligung | |
| am Anschlag auf das „Sonnenschein“ wird ihr nicht vorgeworfen. | |
| Ermittler begründeten dies damit, dass Mehmet O. seine Aussage zu Susann | |
| Eminger „weder zeitlich noch örtlich noch situativ zuordnen“ konnte. Auch | |
| habe das NSU-Trio Susann Eminger laut Zschäpe erst nach dem Anschlag | |
| kennengelernt. Eminger selbst verweigerte zu alldem im NSU-Prozess die | |
| Aussage. | |
| Aber auch auf dem Computer von Susann und André Eminger fanden Ermittler | |
| einen Kartenausschnitt von Nürnberg. Und der NSU wurde in der Familie bis | |
| zum Schluss verehrt. Als Beamte zwei Jahre nach dem Auffliegen die Wohnung | |
| der Emingers nochmals durchsuchten, fanden sie im Wohnzimmer eine | |
| Kohlezeichnung mit den Gesichtern von Mundlos und Böhnhardt. Dazu der | |
| Schriftzug: „Unvergessen“. | |
| All die Personen aus dem Umfeld des NSU-Trios und der Nürnberger Tatopfer – | |
| sind sie Zufall? Mehmet O. und die anderen Opferangehörigen glauben das | |
| nicht. „Ich will Ermittlungen gegen diese Leute sehen“, fordert Mehmet O. | |
| „Von Versprechungen habe ich die Nase voll.“ | |
| Die Bundesanwaltschaft gibt sich zu der Unterstützer-Frage in Nürnberg | |
| jedoch wortkarg. Aktuell bestätigt sie nur die neun noch offenen | |
| Helferverfahren, darunter jene gegen Mandy Struck und Susann Eminger. Für | |
| weitere Unterstützer wie Matthias Fischer, Christian W. oder Jürgen F. | |
| fehle es an einem konkreten Tatverdacht. Für die Bundesanwaltschaft spricht | |
| vieles daher dafür, dass das Trio nach dem Abtauchen tatsächlich eng | |
| abgeschirmt lebte und in tagelangen Erkundungen seine Opfer selbst | |
| ausspähte. | |
| Die Opferfamilien und ihre Anwälte kritisieren, dass sie bis heute keine | |
| Akteneinsicht zu den neun noch offenen Verfahren bekommen – was die | |
| Bundesanwaltschaft mit den noch laufenden Ermittlungen begründet. Auch | |
| fordern sie endlich Anklagen. Wahrscheinlicher aber ist, dass die Verfahren | |
| demnächst eingestellt werden. Da schon der engste Trio-Vertraute André | |
| Eminger im NSU-Prozess einen Teilfreispruch erhielt, ist ein Schuldnachweis | |
| für die weiteren Verdächtigen noch schwieriger. | |
| Birgit Mair fürchtet diesen Tag. „Das würde für die Opfer noch mal eine | |
| Ohrfeige sein.“ Die 54-Jährige gehört in Nürnberg zu den Engagierten, die | |
| sich seit Jahren für die NSU-Aufklärung einsetzen. Sie verfolgte | |
| Untersuchungsausschüsse und den Münchner Prozess, hielt Kontakt zu den | |
| Opferfamilien, setzte sich für Gedenkorte ein, konzipierte eine Ausstellung | |
| zu den NSU-Betroffenen, die bundesweit gezeigt wurde. Und es ist ihr Verein | |
| – das [1][Institut für sozialwissenschaftliche Forschung, Bildung und | |
| Beratung] –, der Semiya Şimşek und Gamze Kubaşık zu dem Onlinegespräch im | |
| Oktober einlud. | |
| Auch Birgit Mair glaubt, dass es bisher nicht verfolgte NSU-Helfer in ihrer | |
| Stadt gibt. „Aber der Wille, sie zu überführen, ist nicht da. Denn wenn man | |
| das ganze Netzwerk anklagen würde, käme man an den V-Leuten nicht vorbei. | |
| Und da will dieser Staat nicht ran.“ | |
| Es ist ein Fazit, das so ähnlich auch der NSU-Untersuchungsausschuss im | |
| Bundestag fällte. Eine „strukturelle Aufhellung des breiteren | |
| Unterstützernetzwerks ist nicht erfolgt“, heißt es in dessen | |
| Abschlussbericht. Dabei sei „deutlich ersichtlich, welche Protagonisten und | |
| Netzwerke an deren einzelnen Tat- und Aufenthaltsorten Kontakt zu | |
| Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe hatten“. | |
| Auch die Nürnberger Lokalpolitik sieht Aufklärungsbedarf. Auf Druck | |
| zivilgesellschaftlicher Initiativen, auch der von Mair, verabschiedete der | |
| Stadtrat im Mai [2][eine Resolution, in der ein zweiter bayerischer | |
| NSU-Untersuchungsausschuss gefordert wird]. Besonders zum Anschlag auf die | |
| „Sonnenschein“-Bar sei bis heute vieles ungeklärt, ebenso „die | |
| Unterstützerszene des NSU in Nürnberg“, heißt es dort. „Als Stadt, in der | |
| diese Verbrechen passierten, ist es unsere Aufgabe, Aufklärung | |
| einzufordern.“ Oberbürgermeister Marcus König, ein CSU-Mann, teilt die | |
| Forderung: Eine „lückenlose Aufklärung“ und einen zweiten U-Ausschuss sei | |
| man „den Opfern und Hinterbliebenen schuldig“. | |
| Das Problem ist nur: Die Opfer haben die Hoffnung auf Aufklärung fast | |
| verloren – und ihr Vertrauen in den deutschen Staat. „Natürlich haben wir | |
| kein Vertrauen mehr, nach allem, was passiert ist“, sagt Semiya Şimşek. | |
| „Und wenn dieser Staat so weitermacht, werden immer weitere Morde | |
| passieren.“ Es ist auch diese Enttäuschung, die Şimşek in die Türkei zog. | |
| Das Grab ihres Vaters liegt nicht weit von ihrem Haus in Isparta entfernt, | |
| sie ist häufig dort. „Ich spreche oft mit ihm“, sagt Şimşek. Manchmal ne… | |
| sie ihre beiden kleinen Kinder mit, die nun begännen, Fragen nach ihrem | |
| Großvater zu stellen. „Ich versuche, das vorsichtig zu erklären.“ Aber sie | |
| könne eben nicht alles erklären. | |
| Nürnberg setzte [3][in diesem Jahr zumindest Zeichen des Gedenkens]. Im | |
| Juni enthüllte die Stadt eine Stele zum 20. Jahrestag des Mordes an | |
| Abdurrahim Özüdoğru, dem Schneider und zweiten Nürnberger Opfer. Im | |
| September weihte sie einen Enver-Şimşek-Platz ein, am Tatort des Mordes. | |
| Dafür reiste Abdulkerim Şimşek, Semiyas Bruder, an und hielt eine Rede. | |
| „Ich vermisse meinen Vater immer noch sehr“, sagte der 34-Jährige, der in | |
| Hessen lebt. | |
| Und er betonte, dass der Prozess in München „eine große Enttäuschung“ wa… | |
| weil die Helferfrage dort nicht geklärt wurde. „Warum ausgerechnet mein | |
| Vater? Wir müssen noch heute davon ausgehen, dass Mittäter frei | |
| herumlaufen.“ | |
| Auch Semiya Şimşek flog für diesen Tag, den Todestag ihres Vaters, mit | |
| ihrer Familie nach Deutschland, aber nach Jena, wo das NSU-Trio | |
| untertauchte und wo vor einem Jahr ebenfalls ein Enver-Şimşek-Platz | |
| eingeweiht wurde. Sie nahm an einem kleinen Gedenken teil, das die Stadt | |
| organisiert hatte. Sie sei nicht gerne in Nürnberg, am Tatort, wo ihr Vater | |
| erschossen wurde, sagt Şimşek. Auch Auftritte wie in Jena kosteten viel | |
| Kraft, sie könne nur wenige davon absolvieren. „Danach geht es mir immer | |
| zwei, drei Tage nicht gut.“ | |
| Und dennoch seien diese Auftritte wichtig, sagt Semiya Şimşek. Damit nicht | |
| vergessen werde, wer ihr Vater war. Und was ihm angetan wurde. Und damit | |
| irgendwann vielleicht doch noch ihre offenen Fragen beantwortet werden. | |
| Ausgeschrieben wurden in diesem Text die Nachnamen jener Personen, die in | |
| der Öffentlichkeit bekannt sind. Die anderen wurden abgekürzt. | |
| 31 Oct 2021 | |
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| [1] https://www.isfbb.de/ | |
| [2] https://www.br.de/nachrichten/bayern/nuernberger-stadtrat-fordert-zweiten-n… | |
| [3] /Opfer-des-NSU-Terrors-in-Nuernberg/!5772662 | |
| ## AUTOREN | |
| Konrad Litschko | |
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| CDU und Grüne wollen geheimgehaltene NSU-Akten nicht veröffentlichen. SPD, | |
| FDP und Linke werfen den Grünen doppeltes Spiel vor. |