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# taz.de -- Politökonomin Maja Göpel über Ideologie: „Wir wird wichtiger a…
> Mit „Unsere Welt neu denken“ landete sie einen Bestseller. Wird
> postfossil der neue Mainstream? Und wie reagieren die Bewahrer der alten
> Welt?
Bild: Die Wissenschaftlerin Maja Göpel im Berliner Regierungsviertel
taz am Wochenende: Frau Göpel, Sie sind Wissenschaftlerin, Politökonomin.
Ihr Twittername ist [1][„Beyond Ideology“], „Jenseits von Ideologie“, w…
betonen Sie das?
Maja Göpel: Ideologien sind geschlossene Weltbilder. Die helfen uns nicht
weiter in liberalen, aufklärungsorientierten Gesellschaften mit einem hohen
Anspruch an ihre Innovations- und Erneuerungsfähigkeit. Denkmuster zu
hinterfragen, ist deshalb auch eine emanzipatorische Agenda. Einer meiner
liebsten Theoretiker ist [2][Antonio Gramsci]. Er hat das Konzept der
Hegemonie geprägt. Es berücksichtigt die Rolle von Kultur und dominanten
Erzählungen in einer Gesellschaft, um die Legitimation von
Machtverhältnissen zu analysieren. Es ist also wichtig, die Art, wie wir
auf die Welt schauen, als Analysekategorie mit reinzunehmen. Die bis vor
Kurzem hegemoniale Erzählung beschrieb eine Gesellschaft, deren Wirtschaft
trotz ökologischer Grenzen immer mehr produzieren kann. Damit musste auch
nicht zu stark über die Verteilung von Freiheiten, Privilegien und Besitz
diskutiert werden.
Warum ist diese Hegemonie vorüber?
Weil die Empirie die Entkopplung von ökonomischem Wachstum und Ressourcen
nicht in ausreichendem Maße bestätigen kann und die ungleiche Verteilung
weiter zunimmt, selbst in Krisen wie der aktuellen. Ohne tiefen
Strukturwandel und die Veränderung von Konsummustern wird es nicht gehen –
jedenfalls ist mir noch keine Studie untergekommen, die das plausibel
darlegt.
Sie stehen im Zentrum des Mainstreams von Wissenschaft und Gesellschaft,
die sich verpflichtet hat, das Klima-Abkommen von Paris umzusetzen. Manche
Medien und auch Regierungspolitiker tun aber so, als sei das nicht
Regierungsauftrag, sondern radikales Ökospinnertum.
Ja, interessant, oder? Wenn Empfehlungen aus der Wissenschaft heute
radikal erscheinen, dann ist das im Prinzip ein Zeichen dafür, dass wir die
warnenden Analysen viel zu lange viel zu wenig ernst genommen haben. Sonst
wären wir mit kleineren Schritten auch noch ans Ziel gekommen. Jetzt
befinden wir uns also an dem sehr spannenden Punkt, an dem die Hegemonie
der Entkopplungserzählung zerbrochen ist und die des Trickle-down gleich
mit.
Also, dass der Wohlstand der Reichen nach unten sickert und alle was davon
haben.
Damit kommen diejenigen unter Legitimationsdruck, die den Status quo der
kleinen Adaptionen trotzdem beibehalten wollen. Da kann es schon kommod
sein, die Übermittler der Analysen als Interessenvertreter für eine
bestimmte Klientel abzustempeln.
Sie spielen darauf an, dass einige [3][Journalisten] Sie als
Umweltaktivistin und Grünen-Vordenkerin framen, also als Partei. Was geht
da vor sich?
Das müssen Sie die jeweiligen Personen fragen, mir haben sie auf diese
Frage nicht geantwortet.
Gleichzeitig versuchen klassische Linke, das ideologisch als „links“ zu
rahmen oder gar den guten alten Metadiskurs zu führen, etwa Katja Kipping
mit ihrem schneidigen „Klimaschutz oder Kapitalismus“. Was halten Sie
davon?
Gar nichts. Jedes weitere binäre Festfahren in Gegensatzpaaren und
vermeintlichen Unvereinbarkeiten wirkt in einer sowieso schon sehr
gestressten Gesellschaft sicher nicht darauf hin, dass wir demokratische
Lösungen für diese Krisen finden. Statt große Kategorien in Stellung zu
bringen, sollten zentrale politische Stellschrauben identifiziert werden,
die Umweltschutz und soziale Ziele zusammenbringen.
Sind Wissenschaftler manchmal auch zu wehleidig, wenn sie tatsächlich eine
große Öffentlichkeit erreichen und laute und nicht immer fundierte
Reaktionen bekommen?
Das habe ich auch schon gehört. Wenn jemand meine Arbeit nicht überzeugend
findet, fein. Dann bitte auf die Inhalte argumentieren. Aber meine
Unabhängigkeit infrage zu stellen oder mir Dinge anzudichten, die ich so
nie gesagt habe, das geht mir zu weit. Mir macht es sehr große Sorgen, wie
diese Gleichung „wer Öffentlichkeit annimmt, muss eben mit Diffamierung
umgehen“ zunehmend vorgetragen wird – insbesondere von denen, die so
arbeiten.
Die liberale Demokratie hat nach 1989 nicht das Paradies für alle gebracht
und deshalb Konkurrenz durch illiberale und autoritäre Angebote bekommen.
Klimapolitik interessiert aber auch manch emanzipatorische Bewegung nicht
groß und wird von bestimmten Liberalen als autoritär verstanden. Was sagen
Sie denen?
Aus meiner Sicht haben wir es auch mit einer illiberalen Demokratie zu tun,
in der das „Wir“ im „Ich“ zu klein geworden ist. Freiheit geht mit
Verantwortung einher, Privilegien mit Verpflichtungen. Das sind
grundlegende Prinzipien des Liberalismus und so steht es im Grundgesetz
unserer sozialen Marktwirtschaft. Auch eine unsichtbare Hand als
Marktmechanismus kann nur funktionieren, wenn die Preise in etwa die
Kostenwahrheit abbilden und ein gewisses Maß an Gerechtigkeit in der
Verteilung von Informationen, Bildung, Geld, Besitz und Macht nicht
unterschritten wird. Wenn viele, viele Kleine mit wenigen, sehr Großen
„freie Verträge“ aushandeln müssen, dann sind uns die strukturellen
Voraussetzungen für effektive Marktmechanismen abhandengekommen. Und wenn
zu viel Gestaltungsmacht in privater Hand liegt, bedroht das die Demokratie
und ihre Institutionen.
Wo sehen Sie das besonders?
Das können wir in den USA als dem Rollenmodell liberaler Demokratie nach
1989 eindrucksvoll beobachten. Deshalb gehören für mich soziale
Gerechtigkeit, fairer Wettbewerb und der Schutz unserer natürlichen
Lebensgrundlagen direkt zusammen. Dabei erinnere ich gern an den
Ordoliberalismus: Umweltkatastrophen abwenden ist genuine Aufgabe des
Staates.
Wie kriegt man aus Sicht der Transformationsforschung die Einhaltung des
1,5-Grad-Ziels noch hin?
Wichtig ist, dass alle Sektoren gleichzeitig angegangen werden und dass
Klimapolitik mit Ressourcenpolitik, Infrastrukturpolitik und Raumplanung
zusammengedacht wird. Große Stellschrauben sind: CO2 ausreichend hoch zu
bepreisen und die dreckigen Subventionen endlich abzubauen, um die
Energiewende hin zu erneuerbaren Quellen und diversen Speicherformen für
Energie so schnell wie möglich voranzutreiben.
Und?
Wärmewende ist das andere Stichwort und geht am besten mit einer Reform der
Sanierungsstandards und des Baurechts einher, sodass nachhaltige Baustoffe,
Holzbauweise so einiges an Sondermüll und Zement und Stahl ersetzen können.
Und natürlich sollten das Planungsrecht, die Stadt- und die
Verkehrswegeplanung verbessert werden, sodass die Mobilitätswende sich
nicht auf alternative Antriebe beschränkt, sondern Alltagswege verkürzt
werden und verschiedene Verkehrsmittel gut aufeinander abgestimmt modular
nutzbar werden.
Was ist mit der EU-Ebene, die von Aktivisten bis Medien gern ignoriert
wird?
Von der europäischen Ebene ist mit dem Green Deal nun endlich ein Ansatz
formuliert worden, der dem entspricht, was wir „Whole Institution Approach“
nennen, also das Ziel der Dekarbonisierung und Kreislaufwirtschaft wirklich
als Querschnittsthema und auch Wettbewerbsstrategie zu verankern. In der
Umsetzung wird jetzt interessant, ob der Anspruch auf politische Kohärenz
gelingt. Da sind Metriken zur Erfassung der natürlichen Ressourcenbestände
– also schneller Regeneration übernutzter Ökosysteme und möglichst
umfassender Mehrfachnutzung entnommener Materialien – genauso wichtig wie
differenzierte Indikatoren für soziale Ziele. Das gilt für die Politik wie
für Unternehmen und Investoren. Und daran wird gearbeitet, auch wenn es
noch einiges an Druck braucht, damit die Milliarden der Recoveryprogramme
in diese Richtung wirken und nicht in die Stabilisierung alter Strukturen
fließen. Die systematische Einbindung ökologischer und sozialer Ziele in
Forschungs-, Struktur- und Investitionsprogramme ist zentral.
Was ist mit Landwirtschaft?
Der vermeintliche Paradigmenwechsel in der europäischen Agrarpolitik (GAP)
war für alle Nachhaltigkeitsinteressierten ein echter Schlag. Vor allem
nach den Ankündigungen bei der UN-Generalversammlung im September, dass nun
ganz ernsthaft die Dekade der Regeneration der Ökosysteme eingeläutet
werde. Weitere sieben Jahre diesen Pfad zu zementieren, ist katastrophal.
Wir sollten alles tun, zumindest die neue Flexibilität in der nationalen
Verwendung verantwortungsvoll zu nutzen. Allerdings befürchte ich die
typische Blockadeargumentation der Besitzstandswahrer: Wir würden ja gerne,
aber wenn nicht mindestens EU-weit verändert wird, können wir national nix
tun. Und auf EU-Ebene wird alles getan, damit dort keine einheitlichen
Vorgaben entstehen. Denn wir sehen natürlich die Bedeutung von
Handelsabkommen oder Grenzmaßnahmen für den Ausgleich von preislichen
Wettbewerbsnachteilen durch nachhaltigere Standards. Aber auch den Vorteil
von nachhaltigen Produkten in übersättigten Märkten, wenn
Nachhaltigkeitspolitik angekündigt wird. Durch die Diskussion von
CO2-Anpassungsmechanismen an EU-Grenzen ist eine ganz neue Dynamik in die
Klimaverhandlungen gekommen, außerdem gibt es neue Unterstützerallianzen.
Sie haben wesentliche Teile Ihres Nummer-1-Bestsellers „Unsere Welt neu
denken“ auch schon in Ihrem Standardwerk „The Great Mindshift“ beschriebe…
Warum ist es in diesem Jahr durch die Decke gegangen?
Das deutsche Buch ist auf viele, viele Nachfragen hin entstanden und kein
wissenschaftliches, sondern bewusst ein Sachbuch für ein breites Publikum.
Dennoch hat der Erfolg mich genauso überrascht wie ermutigt. In
Krisenmomenten geraten viele Selbstverständlichkeiten ins Wanken und
Zukunft wird plötzlich ein offenes, verhandeltes Momentum. Wenn wir es
jetzt schaffen, die Krisenhaftigkeit und das Wanken für Reflexion zu
nutzen, gesellschaftliche Ziele und das, was wir für normal halten, zu
hinterfragen, und mit neuen Lösungen experimentieren, ist das doch genau
das, was Aufklärung bedeutet und woraus sich die Erneuerungsfähigkeit einer
Gesellschaft speist.
Das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer deutlich intensivierten
Klimapolitik kam durch Fridays for Future in die Mitte der Gesellschaft.
FFF seien durch das Versagen der Grünen notwendig geworden, sagt die
Klimapolitikaktivistin Luisa Neubauer. Nun hat sich die Bewegung auf die
kleinste Oppositionspartei eingeschossen. Zu Recht?
Die gesamte Gesellschaft hat versagt, das würde ich nicht den Grünen in die
Schuhe schieben. Insgesamt beobachte ich zwei prekäre Trends: Zum einen
hört die Politik nicht auf, große Ankündigungen mit unzureichenden
Änderungen zu verbinden. Das war beim Klimagesetz 2019 so und jetzt bei der
Landwirtschaftspolitik der EU auch. Wir Wissenschaftler dürfen dann immer
die Fahne heben und sagen: Tut uns leid, aber das, was ihr verkündet, ist
leider nicht drin. Hier wird ein ungemeiner Vertrauensverlust riskiert.
Wenn das Gesetz nicht ausreicht, um auf den für Deutschland verbindlichen
Klimapfad zu kommen, dann sollte ich das auch nicht behaupten. Wenn die
Reform nicht mal versucht, die negativen Trends in den Landnutzungsmustern
tatsächlich zu drehen, dann sollte ich auch nicht einen erfolgreichen
Paradigmenwechsel beteuern.
Die Wissenschaft sagt es doch klar: Die Politik muss es nur umsetzen – sagt
FFF.
Wissenschaftliche Studien dürfen nicht mit einer Blaupause für Politik
gleichgesetzt werden. Wir berechnen mögliche Pfade der Veränderung, aber
das bedeutet nicht, dass diese in Demokratien problemlos 1:1 umgesetzt
werden können, oder dass es nicht sogar für das gleiche Ergebnis
unterschiedliche Pfade gibt. Darüber hinaus gibt es bei Studien
Unsicherheiten, sobald es sich um komplexe lebendige Systeme handelt und
nicht um Maschinen. „Unite behind the Science“ bedeutet daher nicht, dass
es nur eine klare Wahrheit gibt. Der Wunsch nach Orientierung in einer
Umbruchzeit darf nicht in dogmatische Fronten münden, dann wird die Suche
nach dem nächsten gemeinsamen Schritt sehr schwer. Deshalb ist es wichtig,
die eigenen Erkenntnisse und Interessen stark und offen zu vertreten, aber
idealerweise ohne Aversion oder gar Hass gegen diejenigen, die andere
haben. Das ist nicht leicht, insbesondere nicht, wenn die Machtverhältnisse
sehr ungleich verteilt sind und die andere Seite alles nur aussitzen muss,
um ihre Positionen weiter erhalten zu können und jahrelang TINA …
… There Is No Alternative …
… beim Wirtschaften verkündet hat. Deshalb sehe ich die Hochqualifizierten
in Führungspositionen in primärer Verantwortung dafür, den polarisierenden
Trends eine angemessene Veränderungsbereitschaft entgegenzustellen.
Ist „Jung“ gegen „Alt“ die wahre Konfliktlinie?
Nein, auf keinen Fall. Ich habe sehr viele Zuschriften auf mein Buch von
Leuten bekommen, die sagten, sie seien 70 oder auch 80, und unsere Art zu
leben und zu wirtschaften, sei Irrsinn. Das ist die Legitimität der
Nachkriegsgeneration, die noch weiß, wie man mit wenig klarkommt. So viele
haben sich gemeldet und gesagt: Ich bin aus dem Berufsleben raus, ich
möchte mich engagieren.
Neubauer und Sie haben auch Opa und Oma erreicht, die in der Kultur
fossiler Meritokratie alt geworden sind, und zwar jenseits von politischen
oder kulturellen Lagern.
Ja, genau. Die CDU kann Klimapolitik meinetwegen als Sicherheitsfrage oder
Rohstoffstrategie verstehen, die SPD als Gerechtigkeitsproblem der
Ressourcen und die Grünen können mehr auf die Ökologie gehen. Ich möchte,
dass das für jeden anschlussfähig sein kann und muss, Hauptsache wir kommen
jetzt in die Pötte.
Sie wuchsen in einem Dorf bei Bielefeld in einer ökologischen
Hausgemeinschaft auf, gingen in die Reformschule. Ist das eine Biografie
aus dem Ökomärchen, Frau Göpel?
Das ist so.
Keinen Schaden abbekommen?
Einige werden den sicher attestieren.
Sie lachen?
Ich habe es geliebt. Drei Familien in einem großen Bauernhaus mit drei
Wohnungen und einem Riesengarten mit einem Bauwagen für die Kinder.
Natürlich mit Regenbogen angemalt. Wir hatten Tiere. Vier der sechs
Erwachsenen haben an unserer Reformschule gearbeitet.
Sie wurden 24/7 zur Weltretterin ausgebildet?
Nein, ich war auch in der lokalen Grundschule und dem Handballverein, aber
wir waren schon eher die Hippies in einem konservativen Dorf.
Damals hat man Alternativwelten gebaut, eigene kleine heile Welten. War das
so?
Irgendwie schon, aber nicht abgeschottet. In der Laborschule zum Beispiel
wurden Kinder bewusst nicht nach Leistungsniveau getrennt und auch bewusst
aus allen Verhältnissen gleichmäßig aufgenommen. Wir hatten nicht nur ein
australisches Au-pair, sondern auch einen tamilischen Geflüchteten bei uns
wohnen. Tschernobyl war eine intensive Erfahrung, und mein Vater hat auch
damals schon Fleisch abgelehnt und Veggieburger gebraten. Aber ich hatte
auch Phasen, wo mir Pubertät viel wichtiger war, Party, Alkohol, kiffen und
Jungs.
Gott sei Dank.
Später kam dann meine Arbeit in den internationalen NGO-Netzwerken zum
Welthandel. Dort habe ich erlebt, dass Armut und vor allem die empfundene
Machtlosigkeit vor dem Zugriff auf die lokalen Lebensräume ein solches
Ausmaß haben, dass Menschen ihr Leben opfern für den Protest gegen diese
Form der Globalisierung. Deshalb habe ich auch so wenig Verständnis für das
ignorante Verbotsgeschrei in reichen Ländern.
Inwiefern denken Sie anders und neu, wie das der Titel Ihres Buches sagt?
Mein Anliegen war und ist es, dass wir uns aus den vermeintlichen
Gegensatzpaaren Staat versus Markt, Verbote versus Freiheit, Verzicht
versus Konsum befreien, die auch den öffentlichen Diskurs und das neue
Handeln so stark blockieren. Das habe ich in dem Buch kapitelweise
dargestellt, um zu zeigen, dass diese Trennschärfe in der Realität gar
nicht existiert. Und noch wichtiger, dass sich die normative Wertung von
Maßnahmen nur dann sinnvoll diskutieren lässt, wenn wir historisch und
kontextuell genau hingucken. Verbote können Freiheitsgewinn bedeuten – oder
staatliche Interventionen überhaupt Märkte schaffen.
Ich bin sehr für sozialökologische Ordnungspolitik, habe aber bei Ihrem
berühmten Satz „Verbote können uns befreien“ aus taz futurzwei auch schon
Liberale kotzen sehen.
Jooo. Die, die sich heute besonders lautstark liberal nennen, sind häufig
sehr privilegiert vom Status quo und finden diese Selbstverständlichkeit
infrage gestellt, wenn es ein bisschen pluralistischer, ein bisschen
weiblicher, ein bisschen verteilungsgerechter und ökologischer wird. Andere
gewinnen aber Freiheiten, wenn sich die Karten neu mischen. Anders als beim
Liberalismus für Chancengerechtigkeit findet sich hier eine vulgäre
Version, in der primär die eigenen Privilegien verteidigt werden, aber
keine Verantwortung für die Nebeneffekte übernommen wird.
Sicher würden Sie gern erzählen, dass die Leute durch die Coronapandemie
nun volle Pulle Transformation befürworten. Aber der Wunsch, zum Alten
zurückzukehren, ist sehr stark.
Wir sind eben auch Gewohnheitstiere. Aber man sollte nicht den Wunsch nach
Stabilität mit dem Wunsch nach der alten Version der Gesellschaft
verwechseln. Es war ja schon vorher eine Hochrisikogesellschaft und der
Populismus als Zeichen der Unzufriedenheit ein wachsendes Problem – die
Pandemie hat das noch sichtbarer gemacht. Wir befinden uns in einer
Umbruchphase und da, sagen Soziologen, brauche es eine glaubhafte
Erzählung, wohin die Reise gehen kann, und Führungspersönlichkeiten, die
diese Erzählung glaubhaft in die Welt tragen können, auch
vertrauensstiftende Kooperationsprozesse und Übergangsrituale, und vor
allem das Gefühl: „Wir“ wird wichtiger als „Ego“.
Ich halte es für Quatsch zu denken, wir hätten durch die pandemische
Erfahrung die wahren und guten Dinge jenseits des Konsumismus entdeckt.
Das Wichtige an der Pandemieerfahrung ist, dass die Idee implodiert ist,
dass es nicht anders geht, als wir es bisher machen. Nicht für alle, aber
für diejenigen mit sicheren Jobs war neuer Zeitwohlstand eine positive
Erfahrung, und es gibt viele Umfragen, in denen die dauernde Pendelei ins
Büro und auch die volle Arbeitszeit lieber nicht wiedergewollt werden. Aber
solange unsere Alltagsroutinen durch To-go-Verkaufsbuden führen und unsere
Aufmerksamkeit mit Werbe- und Marketingbotschaften vermüllt wird oder auf
Kurzlebigkeit getrimmte Trends und Halbwertzeiten wie Fast Fashion und
Elektrogeräte nicht politisch angegangen werden, bleibt Konsumismus eben
die vermeintliche „Normalität“.
Derzeit sind drei Zukunftspfade im Gespräch. Erstens: Weiter-so-fossil.
Zweitens: Degrowth, also weniger für alle. Drittens: ökologische
Modernisierung und „intelligentes“, also nachhaltiges Wachstum im Sinne von
Ralf Fücks. Wo sind Sie?
Zwischen zwei und drei. Degrowth heißt ja gar nicht weniger für alle,
sondern weniger für die mit zu großem Fußabdruck, sodass andere auch genug
haben. Dazu eine Befreiung vom strukturellen Zwang zu immer weiterem
Wachstum. Ich vermeide den Begriff aber, da wir uns keinen Gefallen tun mit
dem ewigen Streit über Wachstum oder nicht. Alle Ökonomen sind sich einig –
zumindest außerhalb der Medien –, dass BIP-Wachstum nicht das Ziel von
Politik sein sollte, sondern Wohlfahrt. Wenn wir nur noch Wachstum messen
können, solange wir die Schadschöpfung von Produktionsprozessen aus der
Bilanz ausblenden, dann ist ein steigendes Bruttoinlandsprodukt (BIP) keine
Erfolgsgeschichte. Für mich ist die zentrale Frage deshalb folgende: Wie
schaffen wir hohes Wohlergehen für alle innerhalb planetarer Grenzen und
gewinnen dadurch idealerweise ökonomische Stabilität zurück? Dafür müssen
wir Investitionen und Innovationen auch darauf ausrichten, Corona hat doch
gezeigt, dass ökonomische Instrumente Mittel und nicht Ziele sind.
Warum?
Weil wir aus einem moralischen Imperativ heraus die Wirtschaft abgewürgt
haben und kreativ geworden sind in den ökonomischen Instrumenten, um die
schlimmsten Folgen für die Unternehmen und die Bevölkerung abzufedern.
Leider noch nicht kreativ genug, denn im Rahmen der Transfers könnte
natürlich viel sinnvolle Transformationsarbeit stattfinden. Nehmen wir ein
Beispiel: Solange Messen nicht mehr stattfinden können, werden die
Mitarbeiter damit beauftragt, nachhaltige Konzepte zu entwickeln, sodass
diese Müllhaldeneffekte in Zukunft ausbleiben. Qualitative Entwicklung und
das Wachstum des BIPs sind also nicht das Gleiche.
Das BIP muss weg?
Der Wirtschaftswissenschaftler Joseph Stiglitz hat das noch vor Corona auf
den Punkt gebracht: Wir haben eine Demokratiekrise, Klimakrise und
Ungleichheitskrise, und unser Leitindikator BIP vermittelt uns nicht den
Hauch der Idee, dass wir ein Problem haben könnten.
Sie werden jetzt aber doch nicht ernsthaft für die Akademiker-Telenovela
vom entschleunigten Leben argumentieren?
Sie meinen, ich sollte Keynes nicht zu ernst nehmen? Ich finde seinen Essay
zu den Möglichkeiten unserer Enkel von 1930 ziemlich inspirierend. Bis 2030
sei die maschinelle Fertigung so weit, dass die materiellen Bedürfnisse mit
geringer Arbeitszeit gedeckt werden und die Menschen sich endlich dem
widmen könnten, was Lebensqualität und Zivilisation befördert: Bildung,
Freunde, Familie, Gesundheit, Kunst und Kultur. Für diese Utopie hat er
nicht einmal eine ökologische Krise gebraucht.
Tempo kann auch geil sein.
Temporär. Lebendige Systeme nehmen sonst Schaden. Ökosysteme können ihre
Puffer auch eine Zeit lang strapazieren, aber irgendwann müssen sie die
wieder aufladen können. Das Gleiche kennen wir doch von uns selbst auch. In
verschiedenen Lebensphasen kann man auf unterschiedliches Tempo gehen, aber
dauerhaft immer höhere Produktivität geht dann auf Kosten von Qualität und
Resilienz.
Sind Sie dann letztlich eine Law-and-Order-Frau, die jenseits von
Revolutionsflausen auf Ordnungspolitik setzt?
Recht und Ordnung verraten ja schon als Begriff, dass sie eine bestimmte
moralische und normative Zielperspektive in sich tragen. Was das konkret
bedeutet, ergibt sich immer aus dem historischen Kontext. Wenn sich also
die Bedingungen unserer Existenz radikal verändert haben, dann kann das
Bemühen um den Erhalt von Grundrechten und eines den Herausforderungen
angemessenen Ordnungsrahmens zum Schutz von Freiheiten tatsächlich als
revolutionär erscheinen. Das liegt aber weniger an meiner Gesinnung als an
den radikal veränderten Rahmenbedingungen.
1 Nov 2020
## LINKS
[1] https://twitter.com/beyond_ideology?ref_src=twsrc%5Egoogle%7Ctwcamp%5Eserp%…
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Antonio_Gramsci
[3] https://twitter.com/ulfposh/status/1297442854193827840
## AUTOREN
Peter Unfried
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