# taz.de -- Politökonomin Maja Göpel über Ideologie: „Wir wird wichtiger a… | |
> Mit „Unsere Welt neu denken“ landete sie einen Bestseller. Wird | |
> postfossil der neue Mainstream? Und wie reagieren die Bewahrer der alten | |
> Welt? | |
Bild: Die Wissenschaftlerin Maja Göpel im Berliner Regierungsviertel | |
taz am Wochenende: Frau Göpel, Sie sind Wissenschaftlerin, Politökonomin. | |
Ihr Twittername ist [1][„Beyond Ideology“], „Jenseits von Ideologie“, w… | |
betonen Sie das? | |
Maja Göpel: Ideologien sind geschlossene Weltbilder. Die helfen uns nicht | |
weiter in liberalen, aufklärungsorientierten Gesellschaften mit einem hohen | |
Anspruch an ihre Innovations- und Erneuerungsfähigkeit. Denkmuster zu | |
hinterfragen, ist deshalb auch eine emanzipatorische Agenda. Einer meiner | |
liebsten Theoretiker ist [2][Antonio Gramsci]. Er hat das Konzept der | |
Hegemonie geprägt. Es berücksichtigt die Rolle von Kultur und dominanten | |
Erzählungen in einer Gesellschaft, um die Legitimation von | |
Machtverhältnissen zu analysieren. Es ist also wichtig, die Art, wie wir | |
auf die Welt schauen, als Analysekategorie mit reinzunehmen. Die bis vor | |
Kurzem hegemoniale Erzählung beschrieb eine Gesellschaft, deren Wirtschaft | |
trotz ökologischer Grenzen immer mehr produzieren kann. Damit musste auch | |
nicht zu stark über die Verteilung von Freiheiten, Privilegien und Besitz | |
diskutiert werden. | |
Warum ist diese Hegemonie vorüber? | |
Weil die Empirie die Entkopplung von ökonomischem Wachstum und Ressourcen | |
nicht in ausreichendem Maße bestätigen kann und die ungleiche Verteilung | |
weiter zunimmt, selbst in Krisen wie der aktuellen. Ohne tiefen | |
Strukturwandel und die Veränderung von Konsummustern wird es nicht gehen – | |
jedenfalls ist mir noch keine Studie untergekommen, die das plausibel | |
darlegt. | |
Sie stehen im Zentrum des Mainstreams von Wissenschaft und Gesellschaft, | |
die sich verpflichtet hat, das Klima-Abkommen von Paris umzusetzen. Manche | |
Medien und auch Regierungspolitiker tun aber so, als sei das nicht | |
Regierungsauftrag, sondern radikales Ökospinnertum. | |
Ja, interessant, oder? Wenn Empfehlungen aus der Wissenschaft heute | |
radikal erscheinen, dann ist das im Prinzip ein Zeichen dafür, dass wir die | |
warnenden Analysen viel zu lange viel zu wenig ernst genommen haben. Sonst | |
wären wir mit kleineren Schritten auch noch ans Ziel gekommen. Jetzt | |
befinden wir uns also an dem sehr spannenden Punkt, an dem die Hegemonie | |
der Entkopplungserzählung zerbrochen ist und die des Trickle-down gleich | |
mit. | |
Also, dass der Wohlstand der Reichen nach unten sickert und alle was davon | |
haben. | |
Damit kommen diejenigen unter Legitimationsdruck, die den Status quo der | |
kleinen Adaptionen trotzdem beibehalten wollen. Da kann es schon kommod | |
sein, die Übermittler der Analysen als Interessenvertreter für eine | |
bestimmte Klientel abzustempeln. | |
Sie spielen darauf an, dass einige [3][Journalisten] Sie als | |
Umweltaktivistin und Grünen-Vordenkerin framen, also als Partei. Was geht | |
da vor sich? | |
Das müssen Sie die jeweiligen Personen fragen, mir haben sie auf diese | |
Frage nicht geantwortet. | |
Gleichzeitig versuchen klassische Linke, das ideologisch als „links“ zu | |
rahmen oder gar den guten alten Metadiskurs zu führen, etwa Katja Kipping | |
mit ihrem schneidigen „Klimaschutz oder Kapitalismus“. Was halten Sie | |
davon? | |
Gar nichts. Jedes weitere binäre Festfahren in Gegensatzpaaren und | |
vermeintlichen Unvereinbarkeiten wirkt in einer sowieso schon sehr | |
gestressten Gesellschaft sicher nicht darauf hin, dass wir demokratische | |
Lösungen für diese Krisen finden. Statt große Kategorien in Stellung zu | |
bringen, sollten zentrale politische Stellschrauben identifiziert werden, | |
die Umweltschutz und soziale Ziele zusammenbringen. | |
Sind Wissenschaftler manchmal auch zu wehleidig, wenn sie tatsächlich eine | |
große Öffentlichkeit erreichen und laute und nicht immer fundierte | |
Reaktionen bekommen? | |
Das habe ich auch schon gehört. Wenn jemand meine Arbeit nicht überzeugend | |
findet, fein. Dann bitte auf die Inhalte argumentieren. Aber meine | |
Unabhängigkeit infrage zu stellen oder mir Dinge anzudichten, die ich so | |
nie gesagt habe, das geht mir zu weit. Mir macht es sehr große Sorgen, wie | |
diese Gleichung „wer Öffentlichkeit annimmt, muss eben mit Diffamierung | |
umgehen“ zunehmend vorgetragen wird – insbesondere von denen, die so | |
arbeiten. | |
Die liberale Demokratie hat nach 1989 nicht das Paradies für alle gebracht | |
und deshalb Konkurrenz durch illiberale und autoritäre Angebote bekommen. | |
Klimapolitik interessiert aber auch manch emanzipatorische Bewegung nicht | |
groß und wird von bestimmten Liberalen als autoritär verstanden. Was sagen | |
Sie denen? | |
Aus meiner Sicht haben wir es auch mit einer illiberalen Demokratie zu tun, | |
in der das „Wir“ im „Ich“ zu klein geworden ist. Freiheit geht mit | |
Verantwortung einher, Privilegien mit Verpflichtungen. Das sind | |
grundlegende Prinzipien des Liberalismus und so steht es im Grundgesetz | |
unserer sozialen Marktwirtschaft. Auch eine unsichtbare Hand als | |
Marktmechanismus kann nur funktionieren, wenn die Preise in etwa die | |
Kostenwahrheit abbilden und ein gewisses Maß an Gerechtigkeit in der | |
Verteilung von Informationen, Bildung, Geld, Besitz und Macht nicht | |
unterschritten wird. Wenn viele, viele Kleine mit wenigen, sehr Großen | |
„freie Verträge“ aushandeln müssen, dann sind uns die strukturellen | |
Voraussetzungen für effektive Marktmechanismen abhandengekommen. Und wenn | |
zu viel Gestaltungsmacht in privater Hand liegt, bedroht das die Demokratie | |
und ihre Institutionen. | |
Wo sehen Sie das besonders? | |
Das können wir in den USA als dem Rollenmodell liberaler Demokratie nach | |
1989 eindrucksvoll beobachten. Deshalb gehören für mich soziale | |
Gerechtigkeit, fairer Wettbewerb und der Schutz unserer natürlichen | |
Lebensgrundlagen direkt zusammen. Dabei erinnere ich gern an den | |
Ordoliberalismus: Umweltkatastrophen abwenden ist genuine Aufgabe des | |
Staates. | |
Wie kriegt man aus Sicht der Transformationsforschung die Einhaltung des | |
1,5-Grad-Ziels noch hin? | |
Wichtig ist, dass alle Sektoren gleichzeitig angegangen werden und dass | |
Klimapolitik mit Ressourcenpolitik, Infrastrukturpolitik und Raumplanung | |
zusammengedacht wird. Große Stellschrauben sind: CO2 ausreichend hoch zu | |
bepreisen und die dreckigen Subventionen endlich abzubauen, um die | |
Energiewende hin zu erneuerbaren Quellen und diversen Speicherformen für | |
Energie so schnell wie möglich voranzutreiben. | |
Und? | |
Wärmewende ist das andere Stichwort und geht am besten mit einer Reform der | |
Sanierungsstandards und des Baurechts einher, sodass nachhaltige Baustoffe, | |
Holzbauweise so einiges an Sondermüll und Zement und Stahl ersetzen können. | |
Und natürlich sollten das Planungsrecht, die Stadt- und die | |
Verkehrswegeplanung verbessert werden, sodass die Mobilitätswende sich | |
nicht auf alternative Antriebe beschränkt, sondern Alltagswege verkürzt | |
werden und verschiedene Verkehrsmittel gut aufeinander abgestimmt modular | |
nutzbar werden. | |
Was ist mit der EU-Ebene, die von Aktivisten bis Medien gern ignoriert | |
wird? | |
Von der europäischen Ebene ist mit dem Green Deal nun endlich ein Ansatz | |
formuliert worden, der dem entspricht, was wir „Whole Institution Approach“ | |
nennen, also das Ziel der Dekarbonisierung und Kreislaufwirtschaft wirklich | |
als Querschnittsthema und auch Wettbewerbsstrategie zu verankern. In der | |
Umsetzung wird jetzt interessant, ob der Anspruch auf politische Kohärenz | |
gelingt. Da sind Metriken zur Erfassung der natürlichen Ressourcenbestände | |
– also schneller Regeneration übernutzter Ökosysteme und möglichst | |
umfassender Mehrfachnutzung entnommener Materialien – genauso wichtig wie | |
differenzierte Indikatoren für soziale Ziele. Das gilt für die Politik wie | |
für Unternehmen und Investoren. Und daran wird gearbeitet, auch wenn es | |
noch einiges an Druck braucht, damit die Milliarden der Recoveryprogramme | |
in diese Richtung wirken und nicht in die Stabilisierung alter Strukturen | |
fließen. Die systematische Einbindung ökologischer und sozialer Ziele in | |
Forschungs-, Struktur- und Investitionsprogramme ist zentral. | |
Was ist mit Landwirtschaft? | |
Der vermeintliche Paradigmenwechsel in der europäischen Agrarpolitik (GAP) | |
war für alle Nachhaltigkeitsinteressierten ein echter Schlag. Vor allem | |
nach den Ankündigungen bei der UN-Generalversammlung im September, dass nun | |
ganz ernsthaft die Dekade der Regeneration der Ökosysteme eingeläutet | |
werde. Weitere sieben Jahre diesen Pfad zu zementieren, ist katastrophal. | |
Wir sollten alles tun, zumindest die neue Flexibilität in der nationalen | |
Verwendung verantwortungsvoll zu nutzen. Allerdings befürchte ich die | |
typische Blockadeargumentation der Besitzstandswahrer: Wir würden ja gerne, | |
aber wenn nicht mindestens EU-weit verändert wird, können wir national nix | |
tun. Und auf EU-Ebene wird alles getan, damit dort keine einheitlichen | |
Vorgaben entstehen. Denn wir sehen natürlich die Bedeutung von | |
Handelsabkommen oder Grenzmaßnahmen für den Ausgleich von preislichen | |
Wettbewerbsnachteilen durch nachhaltigere Standards. Aber auch den Vorteil | |
von nachhaltigen Produkten in übersättigten Märkten, wenn | |
Nachhaltigkeitspolitik angekündigt wird. Durch die Diskussion von | |
CO2-Anpassungsmechanismen an EU-Grenzen ist eine ganz neue Dynamik in die | |
Klimaverhandlungen gekommen, außerdem gibt es neue Unterstützerallianzen. | |
Sie haben wesentliche Teile Ihres Nummer-1-Bestsellers „Unsere Welt neu | |
denken“ auch schon in Ihrem Standardwerk „The Great Mindshift“ beschriebe… | |
Warum ist es in diesem Jahr durch die Decke gegangen? | |
Das deutsche Buch ist auf viele, viele Nachfragen hin entstanden und kein | |
wissenschaftliches, sondern bewusst ein Sachbuch für ein breites Publikum. | |
Dennoch hat der Erfolg mich genauso überrascht wie ermutigt. In | |
Krisenmomenten geraten viele Selbstverständlichkeiten ins Wanken und | |
Zukunft wird plötzlich ein offenes, verhandeltes Momentum. Wenn wir es | |
jetzt schaffen, die Krisenhaftigkeit und das Wanken für Reflexion zu | |
nutzen, gesellschaftliche Ziele und das, was wir für normal halten, zu | |
hinterfragen, und mit neuen Lösungen experimentieren, ist das doch genau | |
das, was Aufklärung bedeutet und woraus sich die Erneuerungsfähigkeit einer | |
Gesellschaft speist. | |
Das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer deutlich intensivierten | |
Klimapolitik kam durch Fridays for Future in die Mitte der Gesellschaft. | |
FFF seien durch das Versagen der Grünen notwendig geworden, sagt die | |
Klimapolitikaktivistin Luisa Neubauer. Nun hat sich die Bewegung auf die | |
kleinste Oppositionspartei eingeschossen. Zu Recht? | |
Die gesamte Gesellschaft hat versagt, das würde ich nicht den Grünen in die | |
Schuhe schieben. Insgesamt beobachte ich zwei prekäre Trends: Zum einen | |
hört die Politik nicht auf, große Ankündigungen mit unzureichenden | |
Änderungen zu verbinden. Das war beim Klimagesetz 2019 so und jetzt bei der | |
Landwirtschaftspolitik der EU auch. Wir Wissenschaftler dürfen dann immer | |
die Fahne heben und sagen: Tut uns leid, aber das, was ihr verkündet, ist | |
leider nicht drin. Hier wird ein ungemeiner Vertrauensverlust riskiert. | |
Wenn das Gesetz nicht ausreicht, um auf den für Deutschland verbindlichen | |
Klimapfad zu kommen, dann sollte ich das auch nicht behaupten. Wenn die | |
Reform nicht mal versucht, die negativen Trends in den Landnutzungsmustern | |
tatsächlich zu drehen, dann sollte ich auch nicht einen erfolgreichen | |
Paradigmenwechsel beteuern. | |
Die Wissenschaft sagt es doch klar: Die Politik muss es nur umsetzen – sagt | |
FFF. | |
Wissenschaftliche Studien dürfen nicht mit einer Blaupause für Politik | |
gleichgesetzt werden. Wir berechnen mögliche Pfade der Veränderung, aber | |
das bedeutet nicht, dass diese in Demokratien problemlos 1:1 umgesetzt | |
werden können, oder dass es nicht sogar für das gleiche Ergebnis | |
unterschiedliche Pfade gibt. Darüber hinaus gibt es bei Studien | |
Unsicherheiten, sobald es sich um komplexe lebendige Systeme handelt und | |
nicht um Maschinen. „Unite behind the Science“ bedeutet daher nicht, dass | |
es nur eine klare Wahrheit gibt. Der Wunsch nach Orientierung in einer | |
Umbruchzeit darf nicht in dogmatische Fronten münden, dann wird die Suche | |
nach dem nächsten gemeinsamen Schritt sehr schwer. Deshalb ist es wichtig, | |
die eigenen Erkenntnisse und Interessen stark und offen zu vertreten, aber | |
idealerweise ohne Aversion oder gar Hass gegen diejenigen, die andere | |
haben. Das ist nicht leicht, insbesondere nicht, wenn die Machtverhältnisse | |
sehr ungleich verteilt sind und die andere Seite alles nur aussitzen muss, | |
um ihre Positionen weiter erhalten zu können und jahrelang TINA … | |
… There Is No Alternative … | |
… beim Wirtschaften verkündet hat. Deshalb sehe ich die Hochqualifizierten | |
in Führungspositionen in primärer Verantwortung dafür, den polarisierenden | |
Trends eine angemessene Veränderungsbereitschaft entgegenzustellen. | |
Ist „Jung“ gegen „Alt“ die wahre Konfliktlinie? | |
Nein, auf keinen Fall. Ich habe sehr viele Zuschriften auf mein Buch von | |
Leuten bekommen, die sagten, sie seien 70 oder auch 80, und unsere Art zu | |
leben und zu wirtschaften, sei Irrsinn. Das ist die Legitimität der | |
Nachkriegsgeneration, die noch weiß, wie man mit wenig klarkommt. So viele | |
haben sich gemeldet und gesagt: Ich bin aus dem Berufsleben raus, ich | |
möchte mich engagieren. | |
Neubauer und Sie haben auch Opa und Oma erreicht, die in der Kultur | |
fossiler Meritokratie alt geworden sind, und zwar jenseits von politischen | |
oder kulturellen Lagern. | |
Ja, genau. Die CDU kann Klimapolitik meinetwegen als Sicherheitsfrage oder | |
Rohstoffstrategie verstehen, die SPD als Gerechtigkeitsproblem der | |
Ressourcen und die Grünen können mehr auf die Ökologie gehen. Ich möchte, | |
dass das für jeden anschlussfähig sein kann und muss, Hauptsache wir kommen | |
jetzt in die Pötte. | |
Sie wuchsen in einem Dorf bei Bielefeld in einer ökologischen | |
Hausgemeinschaft auf, gingen in die Reformschule. Ist das eine Biografie | |
aus dem Ökomärchen, Frau Göpel? | |
Das ist so. | |
Keinen Schaden abbekommen? | |
Einige werden den sicher attestieren. | |
Sie lachen? | |
Ich habe es geliebt. Drei Familien in einem großen Bauernhaus mit drei | |
Wohnungen und einem Riesengarten mit einem Bauwagen für die Kinder. | |
Natürlich mit Regenbogen angemalt. Wir hatten Tiere. Vier der sechs | |
Erwachsenen haben an unserer Reformschule gearbeitet. | |
Sie wurden 24/7 zur Weltretterin ausgebildet? | |
Nein, ich war auch in der lokalen Grundschule und dem Handballverein, aber | |
wir waren schon eher die Hippies in einem konservativen Dorf. | |
Damals hat man Alternativwelten gebaut, eigene kleine heile Welten. War das | |
so? | |
Irgendwie schon, aber nicht abgeschottet. In der Laborschule zum Beispiel | |
wurden Kinder bewusst nicht nach Leistungsniveau getrennt und auch bewusst | |
aus allen Verhältnissen gleichmäßig aufgenommen. Wir hatten nicht nur ein | |
australisches Au-pair, sondern auch einen tamilischen Geflüchteten bei uns | |
wohnen. Tschernobyl war eine intensive Erfahrung, und mein Vater hat auch | |
damals schon Fleisch abgelehnt und Veggieburger gebraten. Aber ich hatte | |
auch Phasen, wo mir Pubertät viel wichtiger war, Party, Alkohol, kiffen und | |
Jungs. | |
Gott sei Dank. | |
Später kam dann meine Arbeit in den internationalen NGO-Netzwerken zum | |
Welthandel. Dort habe ich erlebt, dass Armut und vor allem die empfundene | |
Machtlosigkeit vor dem Zugriff auf die lokalen Lebensräume ein solches | |
Ausmaß haben, dass Menschen ihr Leben opfern für den Protest gegen diese | |
Form der Globalisierung. Deshalb habe ich auch so wenig Verständnis für das | |
ignorante Verbotsgeschrei in reichen Ländern. | |
Inwiefern denken Sie anders und neu, wie das der Titel Ihres Buches sagt? | |
Mein Anliegen war und ist es, dass wir uns aus den vermeintlichen | |
Gegensatzpaaren Staat versus Markt, Verbote versus Freiheit, Verzicht | |
versus Konsum befreien, die auch den öffentlichen Diskurs und das neue | |
Handeln so stark blockieren. Das habe ich in dem Buch kapitelweise | |
dargestellt, um zu zeigen, dass diese Trennschärfe in der Realität gar | |
nicht existiert. Und noch wichtiger, dass sich die normative Wertung von | |
Maßnahmen nur dann sinnvoll diskutieren lässt, wenn wir historisch und | |
kontextuell genau hingucken. Verbote können Freiheitsgewinn bedeuten – oder | |
staatliche Interventionen überhaupt Märkte schaffen. | |
Ich bin sehr für sozialökologische Ordnungspolitik, habe aber bei Ihrem | |
berühmten Satz „Verbote können uns befreien“ aus taz futurzwei auch schon | |
Liberale kotzen sehen. | |
Jooo. Die, die sich heute besonders lautstark liberal nennen, sind häufig | |
sehr privilegiert vom Status quo und finden diese Selbstverständlichkeit | |
infrage gestellt, wenn es ein bisschen pluralistischer, ein bisschen | |
weiblicher, ein bisschen verteilungsgerechter und ökologischer wird. Andere | |
gewinnen aber Freiheiten, wenn sich die Karten neu mischen. Anders als beim | |
Liberalismus für Chancengerechtigkeit findet sich hier eine vulgäre | |
Version, in der primär die eigenen Privilegien verteidigt werden, aber | |
keine Verantwortung für die Nebeneffekte übernommen wird. | |
Sicher würden Sie gern erzählen, dass die Leute durch die Coronapandemie | |
nun volle Pulle Transformation befürworten. Aber der Wunsch, zum Alten | |
zurückzukehren, ist sehr stark. | |
Wir sind eben auch Gewohnheitstiere. Aber man sollte nicht den Wunsch nach | |
Stabilität mit dem Wunsch nach der alten Version der Gesellschaft | |
verwechseln. Es war ja schon vorher eine Hochrisikogesellschaft und der | |
Populismus als Zeichen der Unzufriedenheit ein wachsendes Problem – die | |
Pandemie hat das noch sichtbarer gemacht. Wir befinden uns in einer | |
Umbruchphase und da, sagen Soziologen, brauche es eine glaubhafte | |
Erzählung, wohin die Reise gehen kann, und Führungspersönlichkeiten, die | |
diese Erzählung glaubhaft in die Welt tragen können, auch | |
vertrauensstiftende Kooperationsprozesse und Übergangsrituale, und vor | |
allem das Gefühl: „Wir“ wird wichtiger als „Ego“. | |
Ich halte es für Quatsch zu denken, wir hätten durch die pandemische | |
Erfahrung die wahren und guten Dinge jenseits des Konsumismus entdeckt. | |
Das Wichtige an der Pandemieerfahrung ist, dass die Idee implodiert ist, | |
dass es nicht anders geht, als wir es bisher machen. Nicht für alle, aber | |
für diejenigen mit sicheren Jobs war neuer Zeitwohlstand eine positive | |
Erfahrung, und es gibt viele Umfragen, in denen die dauernde Pendelei ins | |
Büro und auch die volle Arbeitszeit lieber nicht wiedergewollt werden. Aber | |
solange unsere Alltagsroutinen durch To-go-Verkaufsbuden führen und unsere | |
Aufmerksamkeit mit Werbe- und Marketingbotschaften vermüllt wird oder auf | |
Kurzlebigkeit getrimmte Trends und Halbwertzeiten wie Fast Fashion und | |
Elektrogeräte nicht politisch angegangen werden, bleibt Konsumismus eben | |
die vermeintliche „Normalität“. | |
Derzeit sind drei Zukunftspfade im Gespräch. Erstens: Weiter-so-fossil. | |
Zweitens: Degrowth, also weniger für alle. Drittens: ökologische | |
Modernisierung und „intelligentes“, also nachhaltiges Wachstum im Sinne von | |
Ralf Fücks. Wo sind Sie? | |
Zwischen zwei und drei. Degrowth heißt ja gar nicht weniger für alle, | |
sondern weniger für die mit zu großem Fußabdruck, sodass andere auch genug | |
haben. Dazu eine Befreiung vom strukturellen Zwang zu immer weiterem | |
Wachstum. Ich vermeide den Begriff aber, da wir uns keinen Gefallen tun mit | |
dem ewigen Streit über Wachstum oder nicht. Alle Ökonomen sind sich einig – | |
zumindest außerhalb der Medien –, dass BIP-Wachstum nicht das Ziel von | |
Politik sein sollte, sondern Wohlfahrt. Wenn wir nur noch Wachstum messen | |
können, solange wir die Schadschöpfung von Produktionsprozessen aus der | |
Bilanz ausblenden, dann ist ein steigendes Bruttoinlandsprodukt (BIP) keine | |
Erfolgsgeschichte. Für mich ist die zentrale Frage deshalb folgende: Wie | |
schaffen wir hohes Wohlergehen für alle innerhalb planetarer Grenzen und | |
gewinnen dadurch idealerweise ökonomische Stabilität zurück? Dafür müssen | |
wir Investitionen und Innovationen auch darauf ausrichten, Corona hat doch | |
gezeigt, dass ökonomische Instrumente Mittel und nicht Ziele sind. | |
Warum? | |
Weil wir aus einem moralischen Imperativ heraus die Wirtschaft abgewürgt | |
haben und kreativ geworden sind in den ökonomischen Instrumenten, um die | |
schlimmsten Folgen für die Unternehmen und die Bevölkerung abzufedern. | |
Leider noch nicht kreativ genug, denn im Rahmen der Transfers könnte | |
natürlich viel sinnvolle Transformationsarbeit stattfinden. Nehmen wir ein | |
Beispiel: Solange Messen nicht mehr stattfinden können, werden die | |
Mitarbeiter damit beauftragt, nachhaltige Konzepte zu entwickeln, sodass | |
diese Müllhaldeneffekte in Zukunft ausbleiben. Qualitative Entwicklung und | |
das Wachstum des BIPs sind also nicht das Gleiche. | |
Das BIP muss weg? | |
Der Wirtschaftswissenschaftler Joseph Stiglitz hat das noch vor Corona auf | |
den Punkt gebracht: Wir haben eine Demokratiekrise, Klimakrise und | |
Ungleichheitskrise, und unser Leitindikator BIP vermittelt uns nicht den | |
Hauch der Idee, dass wir ein Problem haben könnten. | |
Sie werden jetzt aber doch nicht ernsthaft für die Akademiker-Telenovela | |
vom entschleunigten Leben argumentieren? | |
Sie meinen, ich sollte Keynes nicht zu ernst nehmen? Ich finde seinen Essay | |
zu den Möglichkeiten unserer Enkel von 1930 ziemlich inspirierend. Bis 2030 | |
sei die maschinelle Fertigung so weit, dass die materiellen Bedürfnisse mit | |
geringer Arbeitszeit gedeckt werden und die Menschen sich endlich dem | |
widmen könnten, was Lebensqualität und Zivilisation befördert: Bildung, | |
Freunde, Familie, Gesundheit, Kunst und Kultur. Für diese Utopie hat er | |
nicht einmal eine ökologische Krise gebraucht. | |
Tempo kann auch geil sein. | |
Temporär. Lebendige Systeme nehmen sonst Schaden. Ökosysteme können ihre | |
Puffer auch eine Zeit lang strapazieren, aber irgendwann müssen sie die | |
wieder aufladen können. Das Gleiche kennen wir doch von uns selbst auch. In | |
verschiedenen Lebensphasen kann man auf unterschiedliches Tempo gehen, aber | |
dauerhaft immer höhere Produktivität geht dann auf Kosten von Qualität und | |
Resilienz. | |
Sind Sie dann letztlich eine Law-and-Order-Frau, die jenseits von | |
Revolutionsflausen auf Ordnungspolitik setzt? | |
Recht und Ordnung verraten ja schon als Begriff, dass sie eine bestimmte | |
moralische und normative Zielperspektive in sich tragen. Was das konkret | |
bedeutet, ergibt sich immer aus dem historischen Kontext. Wenn sich also | |
die Bedingungen unserer Existenz radikal verändert haben, dann kann das | |
Bemühen um den Erhalt von Grundrechten und eines den Herausforderungen | |
angemessenen Ordnungsrahmens zum Schutz von Freiheiten tatsächlich als | |
revolutionär erscheinen. Das liegt aber weniger an meiner Gesinnung als an | |
den radikal veränderten Rahmenbedingungen. | |
1 Nov 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://twitter.com/beyond_ideology?ref_src=twsrc%5Egoogle%7Ctwcamp%5Eserp%… | |
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Antonio_Gramsci | |
[3] https://twitter.com/ulfposh/status/1297442854193827840 | |
## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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