| # taz.de -- Männlichkeit im Gropius Bau Berlin: Die Suche nach dem neuen Mann | |
| > Eine große Ausstellung will die Darstellung von Maskulinität in der | |
| > Fotografie dechiffrieren. Das gelingt aber nicht ganz. | |
| Bild: Aus der Serie „Christopher Street“ | |
| Da hängt er. Gleich zu Beginn der Ausstellung begrüßt er die | |
| Besucher*innen: der alte weiße Mann. Als [1][der US-amerikanische | |
| Künstler John Coplans] damit begann, seinen nackten Körper fotografisch | |
| abzubilden war er schon über 60. Seine „Self-Portraits“ zeigen nie sein | |
| Gesicht, nur seinen in die Jahre gekommenen Körper. „Frieze No. 2“ ist nun | |
| Teil der Schau „Masculinities. Liberation Through Photography“ im | |
| [2][Berliner Gropius Bau.] | |
| Es besteht aus vier schmalen Streifen, auf denen Coplans seinen Leib | |
| jeweils zu zwängen scheint. Sogenannte Problemzonen in Lebensgröße, denn | |
| dieser Leib – Coplans ist bei der Aufnahme 74 – hat Falten und Speckrollen. | |
| Bauch und Po hängen, die Muskeln sind erschlafft. Er weist also Zeichen der | |
| Alterung auf und wird so, für Männer eher unüblich, nun taxierenden Blicken | |
| ausgesetzt. Fragil lässt ihn das wirken, trotz seiner überflüssigen Pfunde. | |
| Coplans Selbstporträts sind ein passender Auftakt. Sie geben die Richtung | |
| für die Ausstellung vor, die zum Wochenende im Gropius Bau eröffnet wird. | |
| Um den Mann geht es darin, um Bilder von Männlichkeit, wie sie die | |
| Fotografie seit den 1960ern reproduziert, aber auch konstruiert. Es steht | |
| nicht gut um ihn, den Mann. Er gilt als Modernisierungsverlierer, der von | |
| toxischen Vorbildern gelenkt wird. Von der Krise der Männlichkeit ist seit | |
| Jahren die Rede, angetrieben durch Debatten wie #metoo, um mit ihrer Potenz | |
| prahlende Patriarchen, aber auch um Genderidentitäten und deren Grenzen. | |
| „Masculinities“ steht hier bewusst im Plural. Durchlässiger und diverser | |
| sind die Männerbilder in den vergangenen Jahrzehnten geworden, | |
| vielschichtiger, aber auch verwirrender. Von Widersprüchlichkeit und | |
| Komplexität ist im Text zur Ausstellung zu lesen, die qua Untertitel durch | |
| Fotografie befreien will. Aber: wovon überhaupt? | |
| ## Befreiung durch die Fotografie | |
| „Masculinities. Liberation through Photography“ wurde vom Londoner Barbican | |
| Centre konzipiert. Alona Pardo hat die Ausstellung, deren illustre | |
| Künstler*innenliste Robert Mapplethorpe, Richard Avedon, Rineke Dijkstra, | |
| Wolfgang Tillmans oder Catherine Opie und 45 weitere Namen umfasst, | |
| kuratiert. In Berlin läuft sie im Rahmen des European Month of Photography | |
| 2020 und wird vermutlich ein großes Publikum finden. | |
| Ohne Zweifel versammelt „Masculinities“ fantastische Arbeiten, ikonische | |
| Fotografien, die man in solcher Breite lange nicht gesehen hat, Werke | |
| großer Künstler*innen. Am Ende bleibt trotzdem ein fader Beigeschmack. | |
| Seltsam museal wirkt die Zusammenstellung, angesichts des ebenso brisanten | |
| wie zeitlosen Themas. | |
| Gegliedert ist die Schau in sechs Kapitel. Sie handeln von männlichen | |
| Archetypen, vom vermeintlich starken Mann, von Cowboys, Bodybuildern, | |
| Soldaten oder Wrestlern. Es geht um Macht, Patriarchat und Raum, dann um | |
| Familie und Vaterschaft, um den queeren Mann, die Rückeroberung des | |
| Schwarzen männlichen Körpers und schließlich um den weiblichen Blick auf | |
| Männer. So weit so schlüssig. | |
| Weniger verständlich ist, dass Pardo den Schwerpunkt auf Arbeiten aus den | |
| 1960er bis 90er Jahren legte und es verpasste, diesen ebenso starke | |
| zeitgenössische, weniger erwartbare Positionen an die Seite zu stellen. | |
| ## Der weibliche Blick | |
| So etwa im letzten der sechs Kapitel. Großartig sind die dafür ausgewählten | |
| Abhandlungen zum weiblichen Blick aufs männliche Geschlecht allesamt: | |
| Marianne Wex’ Forschungen zu „Weiblichen und männlichen Körpersprache als | |
| Ergebnis von patriarchalen Strukturen“ (1977). Ihre fotografischen Studien | |
| zu mehr oder weniger raumeinnehmenden Knie- oder anderen Haltungen von | |
| Frauen im Vergleich zu Männern. Auch Laurie Andersons Catcaller-Serie | |
| „Fully Automated Nikon (Object/Objection/Objectivity)“ aus 1973 ist dabei | |
| oder Ana Mendietas Bart-Performance aus dem Jahr 1972. | |
| Die jüngste der Arbeiten in diesem Kapitel, ist das dreiminütige Video | |
| „Rich“ der britischen Künstlerin Hilary Lloyd. Es hält einen intimen Mome… | |
| zwischen zwei heterosexuellen Männern fest, als der eine dem anderen den | |
| Kopf rasiert. 1999 hat Lloyd das aufgenommen. Haben Frauen diesem Diskurs | |
| seitdem wirklich nichts Relevantes mehr hinzugefügt? Oder ist diese | |
| Auslassung aktueller Erwiderungen als Aufforderung zu verstehen, selbst | |
| danach zu suchen? | |
| Auch in den anderen Räumen steht man immer wieder vor den Bildern und fragt | |
| sich gerade angesichts der heutigen Omnipräsenz fotografischer Bilder nach | |
| Aktualisierungen. [3][Sind es noch dieselben Codes, mit denen schwule | |
| Männer ihre Vorlieben nonverbal kommunizieren] wie in Hal Fischers | |
| herrlich-komischer Foto-Text-Serie „Gay Semiotics“? | |
| Im Kapitel zum queeren Mann sind diese zu sehen. Eine gute Idee war es, | |
| diesem in der Berliner Version der Ausstellung am meisten Raum zu geben. | |
| Gewidmet wird dieser unter anderem Rotimi Fani-Kayode, dem 1989 | |
| verstorbenen, nigerianisch-britischen Fotograf und dessen | |
| sinnlich-eleganten Kompositionen, in der postkoloniale Fragestellungen wie | |
| Gendernormen gleichermaßen unterlaufen werden. | |
| ## Rätselhafte Details | |
| Oder, um zwei der jüngeren Künstler*innen zu nennen, Paul Mpagi Sepuya | |
| verfremdete Porträts oder Elle Pérez’ Aufnahmen von zunächst rätselhaften | |
| Details, deren komplexe Bedeutung sich erst bei näherer Betrachtung | |
| erschließt. | |
| Toll, auch was die Hängung betrifft, sind die Arbeiten von Sunil Gupta | |
| integriert: Auf sich gegenüberliegenden Wänden sind zwei Serien des | |
| Aktivisten und Künstlers zu sehen. Beide handeln von Sichtbarkeit queerer | |
| Männer, jedoch in völlig verschiedenen Kontexten. Auf der einen Seite sind | |
| das seine Aufnahmen von der Christopher Street in New York 1976 – nach | |
| Stonewall und noch vor Aids, Momentaufnahmen einer Zeit des Aufbruchs und | |
| Aufbegehrens. | |
| Auf der anderen solche aus seinem Geburtsland Indien, fotografiert in den | |
| 1980ern, Bilder aus heimlichen Cruisinggebieten Neu-Delhis, versehen mit | |
| Zitaten der Männer. | |
| Berührend ist das, aufrührend sogar. Dennoch: Auch hier hätte es sich | |
| gelohnt Erzählstränge von Künstler*innen aus dem Hier und Jetzt, aus | |
| unserer politischen, ökonomischen, gesellschaftlichen Realität heraus | |
| weiterdrehen zu lassen. Die Befreiung durch Fotografie – sie steht | |
| weiterhin aus. | |
| 16 Oct 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Beate Scheder | |
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