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# taz.de -- Sammler Edition Julian Schnabel: Ich kannte ihn kaum
> Vom Wunsch, Momente festzuhalten: Die Künstlerin und Musikerin Laurie
> Anderson über den Künstler und Freund Julian Schnabel.
Bild: Die Titelseite des Buch mit: Julian Schnabel, Large Girl with No Eyes, 20…
## Montauk
Wann war das? Wir sitzen auf der Bank vor Julians dreiwandigem
Freiluftatelier in Montauk. Es ist ein Nachmittag im Spätsommer, das Licht
ist sanft, der Himmel beinahe transparent, ein mildes Blau, das die Augen
beruhigt, wenn das Licht sie erfüllt.
Lou und ich sitzen mit unserem Hund Lolabelle auf einer dünnen eisernen
Bank, den Rücken zum Pool, den Blick auf das Atelier, in dem Julian malt
und redet. Lou ist ganz mitgenommen von den Interferonbehandlungen wegen
seiner Hepatitis und Lolabelle ganz aufgedunsen von Medikamenten gegen
dieselbe Krankheit.
„Schaut her, was passiert, wenn ich hier einen Strich mache!“, sagt Julian,
während er auf das Bild zugeht und am Rand eine lange blaue Linie malt.
„Seht! Es verändert alles!“ Wir sehen es. Wenn man ihm beim Malen zusieht,
ist es so, als würde vor unseren Augen ein Film gleichzeitig geschrieben,
gedreht, geschnitten und vorgeführt.
Wir beobachten ihn dabei, wie er eins seiner Bilder betrachtet. Und ich
denke daran, wie sehr es in seiner Arbeit genau darum geht. Viele seiner
Filme handeln von Menschen, die schauen, von Menschen, die sehen, Basquiat,
Arenas, van Gogh und Jean-Do, aus seinem einen Auge in Schmetterling und
Taucherglocke.
Es ist zurzeit schwer, in die Vergangenheit einzutauchen. Warum durch Räume
wandern, in denen niemand mehr lebt? Warum die Toten wieder zum Leben
erwecken, damit sie dann in unseren Armen wieder in sich zusammensinken?
Vielleicht ist genau das der Auslöser, ein Bild zu malen oder einen Song zu
schreiben: der Wunsch, diesen Moment festzuhalten, der immer mehr oder
weniger der gleiche ist.
An der Schwelle zur Ewigkeit. Ein goldener Himmel. Ich denke an „Who Am
I?“, Lous wunderschönen Song über Erinnerung und Freiheit, und schon geht
es mir besser. „Wenn es falsch ist, darüber nachzudenken / Die tote
Vergangenheit in deiner Faust zu halten / Warum haben wir dann
Erinnerungen? / Lasst uns den Verstand verlieren und frei sein.“
Wenn ich an Julian denke, sehe ich ihn vor mir, wie er verschiedene Dinge
betrachtet – die Form eines Pinselstrichs, das Licht in einem Raum, die
Beugung eines Arms auf einem Gemälde. Wenn ich mir seine Arbeiten angesehen
habe, gehen mir danach lauter Fragen und Geschichten durch den Kopf, und
dann denke ich an etwas, von dem ich nicht bemerkt hatte, dass es mich
beschäftigt. Gibt es so etwas wie Schicksal? Warum ist Identität so
fließend? Was machen wir hier überhaupt?
## Gründe, zu leben
Seit Lous Tod vor beinahe sieben Jahren bin ich immer dabei, furchtbar
traurig und gleichzeitig seltsam klarsichtig zu werden. Was treibt uns an?
Was lässt uns jeden Morgen aufstehen? Julian zeigt mir, was das Leben
lebenswert macht, dank seiner genussbetonten, zielstrebigen und einfach nur
unbeschwerten Einstellung zum Leben.
Inmitten der Pandemie und zahlloser Absagen der verschiedensten Projekte
bin ich mir unsicher, was ich als Atelier benutzen soll. „Häng deine Bilder
in die Bäume“, sagt er. „Und warte, was dann passiert.“ Wenn ich an Juli…
denke, denke ich an Liebe und an die Passion, mit der er alles macht –
surfen, kochen, malen, Filme drehen, schreiben, Vater sein, Sohn, Ehemann,
Freund.
Ich mache eine Liste von Dingen, die ich in den Bildern zu sehen glaube:
Federn, Pfeile, Flecken auf Fenstern, Diamanten, Schneeflocken, Spulen,
Hufe. Dazu Spiralen, Ranken, Amöben, winzige flatternde Fahnen. Kratzer,
Schichten von Klecksen, durchscheinende Häufungen, Flecken getrockneten
Blutes, an Drähten befestigte Blüten.
Es ist schwer, Worte für diese Zeichen zu finden. Da sind noch flatternde
Blätter, dichte Uferlinien, fallende Hülsen, ein in Mumienpapier
gewickelter alter Mann, Schlüssel. Und eine Baskenmütze, die auf einen
wirbelnden Tornado aus blauer Farbe gefallen ist. Dinge, die sich von
Positiv- zu Negativformen verschieben. Ein Greif in einem Fez.
Wenn man Julian beim Malen zusieht, sieht man jemanden, der völlig frei
ist. Man muss schnell denken, während Bilder auftauchen und unter weißen
Pinselstrichen wieder verschwinden. Manchmal übermalt er das Ganze mit
weißer Farbe und wäscht dann alles mit einem Gartenschlauch ab.
Ich mache eine Pause und schaue ihm nicht mehr zu. Wenn ich nach einer
Weile wieder hinsehe, ist alles anders – ein neuer Entwurf. Lauter sich
auflösende gekräuselte Linien auf wolligen Flecken. Auf einmal zittern
alle Linien in einer Art Vibrato, die Zeichen sind zu Musik geworden. Ich
frage Julian: „Was ist jetzt los?“, und er sagt: „Ich weiß nicht.
Vielleicht sind es Action Paintings.“
Ich liebe die Titel seiner Bilder, die wie Hinweise wirken,
Verbindungsglieder zwischen der Welt der Bilder und der Welt der Worte.
Zeichen müssen nicht wie Eulen oder Häuser aussehen. Es ist eine visuelle
Welt, in der schäumende Formmassen nicht gleich Wolken sind. Ich merke,
dass mein Verstand verzweifelt nach Worten sucht. „Übersetzung!
Bedeutung!“, fordert er. Dann schalte ich ihn aus. Diese Bilder können ohne
Namen auskommen und das ewige Geheimnis in allen Dingen verkörpern.
## Schwimmen und sich treiben lassen
Julian und ich sind durch den Tod miteinander verbunden. Ich erinnere mich,
wie er seine Mutter, als sie schon sehr alt war, ein fragiles
Knochenbündel, sanft durch den Pool auf den Armen trug, sich mit ihr im
Kreis drehte und fragte: „Gefällt es dir hier?“, und sie antwortete: „Vor
allem mit dir.“
Ich erinnere mich, wie er sich um seinen Vater Jack kümmerte, ein
Pflegebett in seinem Haus aufstellte und jeden Morgen mit dem Telefon in
den Raum kam, es Jack reichte und sagte: „Hier, Pop, nimm das Telefon. Ruf
deinen Makler an. Nimm das Telefon. Er wartet auf deinen Anruf.“ Wie er ihn
am Leben hielt. Als Jack starb, rief Julian Lou an und bat ihn, zu kommen
und mit ihm bei seinem Vater zu sitzen, der tot im Bett lag. Julian hatte
ein Maltuch um den Kopf seines Vaters gebunden, damit sein Mund geschlossen
blieb.
Er verstand Lou besser als fast jeder andere. Ihre Freundschaft beruhte auf
grenzenlosem Vertrauen und völliger Vertrautheit. Er hat meine
Lieblingsfotos von Lou in Montauk aufgenommen: Lou mit Badehose in einem
alten Cabriolet, mit einem Schwert in der Hand. „Wie ein Samurai oder
jemand aus einem Film von Tarkowski“, sagt Julian. Es ist Liebe, aber auch
Vertrauen – auf jedem Bild von den beiden erkennt man es in ihren Augen.
Jahre später starb Lou. Julian kam am Tag davor zu Besuch. Es war zufällig
Julians Geburtstag, und er hob Lou in die Höhe, trug ihn in den Pool und
drehte sich sanft mit ihm auf seinen Armen. Dann saßen wir zu dritt auf dem
Sofa und sahen uns Julians und Lous Film „Berlin“ an. Lou jauchzte
glücklich, vor allem wenn Steve Hunter coole Gitarrenriffs spielte.
Und während des Abspanns riefen sie gemeinsam: „Wer hat diesen Film
bezahlt? Die Autoren!“ Dann brüllten sie vor Lachen.
25 Jan 2021
## AUTOREN
Laurie Anderson
## TAGS
zeitgenössische Kunst
Performance-KünstlerIn
Julian Schnabel
Mode
Dokumentarfilm
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