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# taz.de -- In Berlin bleiben: Keine Schlange bei Mustafa
> Es heißt, Corona habe die Tendenz der Berliner, nach Brandenburg zu
> ziehen, noch verstärkt. Dabei hat so eine Hauptstadt ohne Touristen auch
> Vorteile.
Bild: Berliner Kulturgut: Ein Döner
Es war ein hartes halbes Jahr für den Freund: sein
„[1][kulturweit“-Austausch in Vietnam] abgeblasen, „aus und vorbei, adios,
adieu, xin chào.“ Jeden seiner Sätze schließt der Freund mit dreimal
hintereinander gepressten, stakkatoartigen Luftausstößen, seiner eigenen
Form der fernwehbedingten Trauerbewältigung. Wegen Corona wird er dem
Heimatland seiner Eltern nicht näherkommen, muss ihm fernbleiben, niemand
weiß, wie lang.
„Es nützt nichts“, sagt der Freund, „der Zukunft hinterherzutrauen.“
Pusten, Pusten, Pusten. „Ich bleibe jetzt in Berlin.“ Pusten, Pusten.
„Keine Jackfruit.“ Pusten. „Nächstes Jahr mache ich Urlaub in Vietnam.“
Pusten. „100 Prozent.“ Pusten. „Corona, Pest, Malaria, egal.“ Pusten,
Pusten, Pusten.
[2][Der Freund hat „Die Pest“ gelesen], während der Corona-Zeit, auf
Französisch. Als nächstes wird er Horváths „Kasimir & Karoline“ lesen.
„Passt perfekt in die Zeit“, sagt er und pustet. In einem vitalen Moment
habe ich den wagemutigen Vorschlag gemacht, ihn zu besuchen, im
Studentenwohnheim in Zehlendorf. Also setze ich mich mit grünen Vorsätzen
und gespickt mit der Hoffnung, frische Seeluft für meine Stadtlungen zu
ergattern, zunächst in die U- und anschließend in die S-Bahn.
Zwischendurch, mit Maske auf und Ohnmacht nahe, frage ich mich, was in
aller Welt mich, die ich, bereits lange vor Corona, das Haus nicht öfter
als nötig verlassen und sämtliche Freunde aus eben diesem Grund stets zu
mir nach Hause eingeladen hatte, zu jenem Ritt bewogen hatte?! (Grüne
Vorsätze und Seeluft).
Schlachtensee statt Brandenburg
Ich habe gelesen, dass Corona die Tendenz der [3][Berliner, nach
Brandenburg zu ziehen], noch verstärkt. Von meinem Balkon aus sehe ich auf
Angelikas Schrebergarten und in zehn Minuten bin ich am Späti [4][an der
Sonnenallee]. Ich verspüre kein Bedürfnis umzuziehen.
Der Freund holt mich an der S-Bahn-Station ab, gemeinsam umrunden wir einen
nahezu menschenleeren Schlachtensee. Der Freund kann sämtliche umgefallene
Bäume den entsprechenden Stürmen und Gewittern zuordnen. Ich zeige mich
beeindruckt und lobe die ästhetische Qualität der in den See gefallenen
Bäume.
Das Austauschprogramm hat dem Freund einen Alternativvorschlag
unterbreitet: Warschau. „Was meinst du?“, fragt er. „Ich weiß nicht“,
antworte ich, „mir hat die Stadt nicht wirklich gefallen, aber wenn du
rauswillst, warum nicht?“ Er wird nicht nach Warschau gehen. „Kann ich mir
nicht leisten. Warschau ist ja viel teurer als Hanoi. Ich bleibe in
Berlin“, sagt der Freund und pustet und pustet und pustet. „Das ist jetzt
so.“ Und er pustet und pustet und pustet.
Doch eine gute Sache kann selbst der Freund dem Corona-Zeitalter
abgewinnen: „Ich bin jetzt mindestens einmal die Woche bei Mustafas, keine
Schlange. Das ist Berlin ohne Touristen.“
Ich besehe Figuren, die allein auf einem Brett durchs Wasser ziehen, und
frage mich, warum Menschen stehpaddeln. Was passiert, wenn ihre Beine müde
werden? Wie machen sie kehrt? Andererseits, zum Abstandhalten ist
Stand-up-Paddling der richtige Sport.
„Ist mir ja ein bisschen peinlich“, füllt der Freund mein Schweigen, „ab…
als ich nach Berlin gekommen bin, habe ich mich bei Mustafa tatsächlich mal
in die Schlange gestellt.“ Kurz überlege ich, ob ich vorgeben sollte, nicht
für derlei Neu-Berliner-Fallen empfänglich gewesen zu sein, denke, was
soll’s und sage: „Haben wir das nicht alle?“ Gestern schickte der Freund
drei Kurznachrichten: „Die Touristen wieder da. Mustafas Mehringdamm 50
Leute Schlange. Ich bin bei Gogh Boss Tofu Box.“
6 Aug 2020
## LINKS
[1] /Corona-in-Vietnam/!5703935
[2] /Spaziergaenge-mit-Schrifstellerinnen/!5701086
[3] /Wohnungsmarkt-Brandenburg/!5694835
[4] /Nachdenken-ueber-Raum-und-Zeit/!5695688
## AUTOREN
Marielle Kreienborg
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