# taz.de -- Neuer Band von Annett Gröschner: Geschichtshaufen Berlin | |
> Annett Gröschner legt mit „Berliner Bürger*stuben. Palimpseste und | |
> Geschichten“ eine Sammlung von Porträts, Reportagen und politischen | |
> Essays vor. | |
Bild: Blättert durch die Überschreibungen Berlins: Annett Gröschner | |
BERLIN taz | Dieses eine kleine Wörtchen im Untertitel der neuen | |
Textsammlung von Annett Gröschner gibt das gesamte Buch gut wieder: | |
„Palimpseste“ steht dort, der vollständige Titel lautet „Berliner | |
Bürger*stuben. Palimpseste und Geschichten“. Die Bezeichnung Palimpsest | |
wurde in der Zeit der Papyrusrollen verwendet, gemeint ist damit, dass ein | |
Schriftstück überschrieben und durch neue Schriftzeichen ersetzt werden | |
kann. Wobei Reste des Alten verbleiben können. | |
„Berlin ist ein Palimpsest“, schreibt Gröschner folgerichtig, denn „(…) | |
auch eine Stadt lebt von der immerwährenden Überschreibung. Orte | |
verschwinden, werden umdefiniert oder überformt. Aber immer bleibt etwas | |
übrig, oft rätselhaft wie die fünfte oder sechste, nur kryptisch | |
überlieferte Schicht auf dem Papyrus.“ Und klar, kaum eine Stadt wurde in | |
den vergangenen Jahrzehnten, Jahrhunderten so oft „überschrieben“ wie | |
Berlin. | |
Annett Gröschner, die seit vielen Jahren als Schriftstellerin und | |
Journalistin in Berlin lebt und viel zur jüngeren Geschichte des Prenzlauer | |
Berg gearbeitet hat, legt hier eine Sammlung von Porträts, Reportagen, | |
Miniaturen, Oral-History-Texten und politischen Essays vor, die meisten | |
davon waren in Zeitungen, auf Blogs und Katalogen bereits veröffentlicht. | |
Gröschner gräbt gern aus, schweift gern ab, lugt gern um die Ecke – | |
dorthin, wo bislang noch niemand hingeschaut hat. „Geschichte ist ein | |
Haufen“, zitiert sie an einer Stelle den Dokumentarfilmer Thomas Heise – in | |
„Berliner Bürger*stuben“ piekst Gröschner in diesen Haufen hinein und zie… | |
so manches Vergessenes heraus. Der Titel irritiert insofern ein bisschen, | |
als dass man denken könnte, die Behausungen spielten immer eine bedeutende | |
Rolle oder aber – wegen des Sternchens – es ginge zentral um Diversity in | |
dem Textband. Beides stimmt nicht so ganz. Andererseits: um die Ecke | |
gedacht stimmt es schon wieder. Um Feminismus geht es auf jeden Fall oft | |
und viel in „Berliner Bürger*stuben“. | |
## Künstler:innenporträts aus Bild und Sound | |
Sehr gelungen an dieser Sammlung sind die Künstler:innen-Porträts oder jene | |
von wichtigen Zeitgenoss:innen. Enthalten ist zum Beispiel eine Trauerrede, | |
die die Autorin bei der Beerdigung von Gitti Eicke („Backfisch im | |
Bombenkrieg. Notizen in Steno“) hält. Sie zeichnet deren Lebensgeschichte | |
vom BDM-Mädchen bis zur emanzipierten Frau, die lebenslang bereut, in der | |
NS-Zeit so blind gewesen zu sein, bis zur Prenzlauer-Berg-Alltagsarchivarin | |
und -Stenografin nach. | |
In dem Essay über die Fotografie „Ramona“ von Helga Paris – dem Porträt | |
eines jungen Mädchens vor einer Berliner Hausmauer zu DDR-Zeiten – zeigt | |
Gröschner ganz konkret, wie man Geschichte anhand einer Fotografie | |
freilegen kann. Toll sind auch die Annäherungen an das Werk von Annemirl | |
Bauer („Die Madonna vom Prenzlauer Berg. Die Malerin Annemirl Bauer“) und | |
an Thomas Heises an der Hochschule für Film und Fernsehen der DDR | |
entstandene Dokumentation „Wozu denn über DIESE LEUTE einen FILM?“ von | |
1980. | |
Durch die Editionsgeschichte dieses Films (der sich sogenannten asozialen | |
Jugendlichen in der DDR widmete und natürlich nicht gezeigt wurde) bekommt | |
man ein gutes Bild von der DDR jener Zeit – aber auch durch den Sound des | |
Artikels: „Es war die Zeit, als super geil noch urst schau war. Meistens | |
aber nicht mehr als einwandfrei. (…) Ansonsten machen die Jungs, was alle | |
der damals zahlreichen Jugendlichen im Prenzlauer Berg Ende der Siebziger | |
tun: Rumhängen auf dem Wasserturmplateau mit Mädchen und | |
Kassettenrekordern, aus denen Bob Dylan tönt, Musik aus dem Radio auf | |
Kassetten mitschneiden, sich ein bisschen prügeln, Bier trinken, Stuss | |
quatschen und so wenig wie möglich über Arbeit reden (…)“. | |
## „Die Frau gehört ins Haus – ins Rathaus“ | |
Ähnlich nah dran am Geschehen ist sie in der Textcollage über den 4. | |
November 1989, den Tag der Großdemonstration auf dem Alexanderplatz („Das | |
Gefühl haben, alles sei möglich – Die Demonstration am 4. November 1989“). | |
Aus Interviews – u. a. mit Jochen Schmidt, Bert Neumann und Anke | |
Feuchtenberger – hat sie ein Kaleidoskop dieses Tages zusammengestellt. Es | |
fühlt sich an, als wäre man dabei. „Ganz deutlich sehe ich ein Plakat vor | |
mir: STALIN ENTSORGEN. // Das haben wir gemalt. // (…) Wir hatten ein | |
feministisches Flugblatt geschrieben, auf dem Sätze standen wie: »Die Frau | |
gehört ins Haus – ins Rathaus« und als wir die verteilten, gab es Männer, | |
die sagten: »Jetzt wollen die Weiber ooch noch was«, und ihre Frauen | |
nickten dazu. (…)“. Ähnlich dokumentarisch und archivarisch verfährt sie | |
mit den Textminiaturen, die sie „Blitzlichter“ nennt und die sie in dem | |
Band einstreut: Alltagsbeobachtungen aus der S-Bahn, dem Supermarkt oder | |
dem Restaurant – oder auch von der Pressekonferenz bei Union Berlin. Auch | |
Träume aus der DDR-Zeit, die von der Reise nach Westberlin handeln, hat | |
Gröschner notiert. | |
Durchzogen ist das Buch von Gentrifizierungskritik, die in Teilen zu | |
pauschal ausfällt. Beispielsweise sind es im eigentlich lesenswerten Text | |
zum Künstler Konrad Knebel, von dem auch die Coverabbildung stammt | |
(„Dircksenstraße Berlin“, 1971), die „Hipster (…), die keinen Krach und | |
keinen Dreck machen (…) die Miete pünktlich bezahlen und wenn sie gestresst | |
sind, draußen auf dem Platz eine Runde Tischtennis zur Entspannung | |
spielen“, die die ‚guten‘ Alteingesessenen verdrängen. Natürlich gibt es | |
viele geradezu idealtypische Fälle wie den beschriebenen. In der Häufung in | |
dem Textband gewinnt man aber den Eindruck, als wandele sich Berlin | |
ausschließlich zum Negativen und als zögen ausnahmslos fiese, neureiche | |
Typen in die Stadt. Bei der Frage, wer das eigentlich ist, der da kommt, | |
mutmaßt sie aber oft nur und hört auf zu recherchieren. Da wäre eine | |
differenziertere Betrachtung wünschenswert gewesen. Auch in der Frage der | |
Castorf-Ablösung an der Volksbühne ist für Gröschner völlig klar, wer die | |
Guten und wer die Bösen sind (sie ist natürlich Team Castorf). | |
Das ändert allerdings nichts daran, dass „Berliner Bürger*stuben“ ein | |
gelungener Band ist, eine Fundgrube an (Ost-)Berlinwissen und -geschichten. | |
Auf Vieles wird man sehr neugierig; Vieles lernt man, zumindest als | |
Westler, dazu. Zum Beispiel über die Gründung eines Unabhängigen | |
Frauenverbands in der Volksbühne kurz nach dem Mauerfall, wo eine Frau | |
Merkel eine Rolle spielt. Oder über die Stipendiatinnen von Wiepersdorf. | |
Oder über den Ginkgobaum an der Humboldt-Uni. Oder oder oder. Wer also den | |
Geschichtshaufen Berlin ein klein bisschen besser verstehen will, der | |
sollte dieses Buch lesen. | |
19 May 2020 | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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