| # taz.de -- „Der amerikanische Sohn“ von Cailloux: Auf der Suche nach Eno H… | |
| > „Der amerikanische Sohn“ ist ein bitter-lakonischer Roman über New York. | |
| > Bernd Cailloux' Suche nach einem Sohn wird zur Selbstbefragung. | |
| Bild: Platz zum Verlieren und Finden: New York | |
| Es ist nicht viel mehr als ein Name, auf den sich der Ich-Erzähler bei | |
| seiner Suche nach dem Unbekannten stützen kann: Eno Harris. Wohnhaft | |
| irgendwo in den USA. Vielleicht in New York, vielleicht woanders. Etwas | |
| älter als dreißig Jahre, von Beruf Sportreporter. Das ist die Person, die | |
| er sucht. | |
| Eno Harris ist sein Sohn. Gezeugt während einer kurzen Liebschaft mit einer | |
| Frau in Hamburg Anfang der Achtziger. Die beiden hatten sich in einer Bar | |
| kennengelernt, sie verband eine gemeinsame Leidenschaft für Literatur, | |
| Musik, Subkultur. Nina aber – so der Name der Frau – wanderte kurz nach der | |
| Affäre nach Jamaika aus. Dass sie zu dem Zeitpunkt schwanger war, wusste er | |
| nicht – sie hatte ihm zunächst erzählt, sie habe abgetrieben. Erst später | |
| erfuhr er von der Existenz seines Sohns. | |
| Dies ist die Ausgangssituation in dem jüngsten Roman des Berliner | |
| Schriftstellers Bernd Cailloux, „Der amerikanische Sohn“. Der Erzähler, ein | |
| etwas granteliger, nostalgischer, dabei aber hochgradig selbstironischer | |
| Schriftsteller jenseits der Siebzig wird von einer Kulturstiftung im Jahr | |
| 2014 nach New York eingeladen. Er nutzt die Zeit dort, um sein erwachsenes | |
| Kind ausfindig zu machen. | |
| Wie in manch früherem Roman Cailloux’ schimmern autobiografische Anteile | |
| deutlich hindurch. Es ist die fortdauernde Geschichte eines | |
| Achtundsechzigers, der darüber reflektiert, was eigentlich übrig geblieben | |
| ist von den [1][Utopien, die Menschen wie er in den Siebzigern] hatten. | |
| ## Erinnerungen des Alters | |
| Und wer da zu viel Erinnerungschose vermutet, dem nimmt er gleich den Wind | |
| aus den Segeln: „Ja, sorry, so wie andere aus Wasser bestehe ich zu achtzig | |
| Prozent aus Erinnerungen … das Langzeitgedächtnis ist die einzige Funktion, | |
| die sich im Alter tapfer hält.“ | |
| [2][Cailloux] hatte in den späten Sechzigern gemeinsam mit Freunden, alle | |
| im Sponti- und Hippiemilieu angesiedelt, eine Firma für | |
| Stroboskop-Lichtanlagen gegründet, seinerzeit die erste in Deutschland. Die | |
| Freundschaften und die Firma aber krachten zusammen, in seinem wohl | |
| bekanntesten Werk „Geschäftsjahr 1968/69“ erzählte er davon. Nun nimmt er | |
| den Faden wieder auf, der neue Roman beginnt mit einer Begegnung mit | |
| Büdinger, einer Figur, die schon dort auftaucht. | |
| „Der amerikanische Sohn“ ist hochspannend, weil die Suche nach Eno Harris | |
| nur das Gerüst der Geschichte ist. Der Roman gleicht eher einer | |
| Selbstbefragung; er handelt davon, wie ein alleinstehender Mann knapp über | |
| Siebzig – immer ohne Familie geblieben, die Beziehungen hielten jeweils nur | |
| ein paar Jahre – mit sich selbst ringt, über sein Erbe nachdenkt (nicht das | |
| materielle, das gibt es nicht). Darüber, ob er den Sohn nicht schon längst | |
| hätte aufsuchen sollen, über die „eklatanten Leerstellen der Erfahrung […… | |
| keinen Nachwuchs aufgezogen zu haben“. | |
| ## Selbstverwirklichung war Egoismus | |
| Er redet dabei durchaus Klartext mit sich selbst: „Aber wie sollte ich | |
| einem Kind erklären, die Pflicht der Vaterschaft verweigert zu haben? | |
| Welche Argumente jenseits von fadenscheinigen Ausflüchten gäbe es? […] Also | |
| was? Zugeben, dass die permanente Selbstverwirklichung in Wahrheit der pure | |
| Egoismus war? Nach uns die Sintflut?“ | |
| Tief in dem Erzähler kriecht irgend etwas hervor, das diese | |
| Quasi-Kinderlosigkeit als Makel begreift: „Ein radikal geführtes | |
| Solistenleben im Rückblick zu beklagen, war so quälend wie absurd. Zur Zeit | |
| meiner eigenen Kindheit gab es für kinderlos Gebliebene nur Spottbegriffe – | |
| Hagestolz und alte Jungfer, graustrümpfige Jungfer …“ | |
| Die Figuren verschonen sich auch gegenseitig nicht, pflegen eine | |
| 68er-typische Offenheit. Sie reflektieren ohne Tabus über ihre Biografien, | |
| Altersgenossin Karla schimpft etwa einmal über „Rabenväter“ wie ihn, die | |
| „dreißig Jahre […] mit den Blagen nichts zu tun haben“ wollten. | |
| Und dann ist „Der amerikanische Sohn“ aber auch ein New-York-Roman und ein | |
| bitter-lakonisches Resümieren über die Hassliebe zu dieser Stadt und zu den | |
| USA. „Mich interessiert, was vom guten Amerika noch übrig ist, außer den | |
| Welttourneen von Bob Dylan und Joan Baez“, sagt der Erzähler einmal. | |
| ## What do you do for a living? | |
| Das, was er einst in Amerika suchte und fand, findet er im heutigen New | |
| York nicht im Mindesten vor – und wenn, nur als Karikatur seiner selbst. | |
| Die Konversationen im Kulturbetrieb ekeln ihn zum Teil einfach nur an: „Was | |
| er denn so for living machte? Die Frage wurde hier stets als erste | |
| gestellt, mit ihr checkten die Leute, wie erfolgreich einer war, um dann zu | |
| entscheiden, wie viel Gesprächszeit man ihm zumaß.“ | |
| So wie in diesem Satz gelingt es Cailloux häufig, sein New-York-Erleben | |
| pointiert darzustellen, auch dank einer guten (Selbst-)Beobachtungsgabe. | |
| Beispielsweise hängt dem Erzähler wegen einer Nervensache ein Augenlid | |
| leicht herunter, als er mit einem Kurator durch eine Galerie zieht – er | |
| sieht die Bilder mit einem „Schatten, eine[m] Trauerrand“. | |
| Es ist natürlich alles andere als Zufall, dass die Kunstmüdigkeit hier, vor | |
| teils millionenschweren Gemälden, körperliche Symptome hervorruft. Etwas | |
| Unbehagliches scheint – im Jahr 2014 – zudem aufzuziehen, im TV kommt ein | |
| „Hochhausdealer“ namens Donald Trump vermehrt zu Wort, der beim Thema China | |
| „unangenehme Meinungsstärke“ beweist. | |
| So, wie der Erzähler seinem Sohn immer näher kommt, kommt er im Lauf der | |
| Handlung sich selbst und dem, was er vom Leben noch will, immer näher. | |
| Wobei der fragende und ironische Blick eines links Tickenden von der alten | |
| Garde hier durchaus für Erkenntnisgewinn und für einige schöne Lacher | |
| sorgt. Und klar, auch Eno Harris wird noch eine Rolle spielen, aber | |
| gespoilert wird an dieser Stelle nichts. | |
| 7 Jun 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jens Uthoff | |
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