# taz.de -- Berlin-Buch: Mal sehen, was im Dschungel lief | |
> Wir steh'n auf Berlin - aber fühlen uns nicht mehr so gut. In seinem | |
> Roman „Gutgeschriebene Verluste“ erzählt Bernd Cailloux von der großen | |
> New-Wave-Zeit. | |
Bild: Das Ende der Geschichte – in einer Novembernacht beenden tausende Trabi… | |
„Leiser sah auf dem Heimweg einmal mit fernglasigem Blick sehr weit nach | |
vorn: Wenn du dich in späteren Jahren mal an die von dir bejammerten Abende | |
wie den heutigen erinnerst, wirst du sagen, das war sie, die große Zeit.“ | |
So steht es auf Seite 39. Schon 18 Seiten davor aber ist dieser Satz in | |
Frage gestellt worden: „Die große Zeit – Ende der Siebziger, Anfang achtzig | |
in Berlin? Glaubte Leiser das wirklich? Könnte das nicht bereits zehn Jahre | |
früher der Fall gewesen sein? Um achtundsechzig herum, war er dreizehn oder | |
vierzehn und noch zu Hause in einer kleinen Stadt … während von mir | |
anderswo dies und das mitgegründet wurde.“ | |
Der so spricht, ist der Ich-Erzähler von Bernd Cailloux’ Roman | |
„Gutgeschriebene Verluste“, den wir getrost Bernd Cailloux nennen dürfen. | |
Nicht umsonst heißt die vollständige Gattungsbezeichnung „Roman mémoire“, | |
und was vom Ich-Erzähler anderswo (in Düsseldorf und Hamburg) damals so | |
mitgegründet wurde, ließ sich vor sieben Jahren in Cailloux‘ Roman „Das | |
Geschäftsjahr 1968/69“ nachlesen, in dem der Achtundsechziger nicht als | |
Revolutionär, sondern als Start-up-Unternehmer gezeigt wurde: ein Roman, | |
von der Kritik zu Recht unisono gefeiert ob seines Lakonismus und seiner | |
Ironie. | |
## Was war größer? 1968? | |
Man sollte Cailloux’ neuen Roman tunlichst nicht als Fortschreibung lesen, | |
weil solche Lektüre immer den Blick verengt. Eher könnte man ihn in die | |
Rubrik „Variationen zu einem Thema“ einreihen, aber auch damit machte man | |
es sich etwas zu einfach. | |
Die beiden oben gegeneinander geschnittenen Zitate verweisen schon auf das | |
Dilemma, das die Lektüre von Cailloux’ Roman zu einer melancholischen und | |
zuweilen auch depressiven Angelegenheit macht. Denn es ist schwer, wirklich | |
zu trauern (und vielleicht irgendwann damit aufzuhören), wenn man nicht | |
genau zu sagen weiß, was man eigentlich verloren hat. Was war größer? 1968? | |
Oder die New-Wave-Zeit Anfang der Achtziger im Mauer-Berlin, damals im Café | |
Mitropa in der Goltzstraße oder im Dschungel in der Nürnberger Straße? | |
(„Mal sehen, was im Dschungel läuft“, wie Annette Humpe im Jahr 1980 sang, | |
um uns mitzuteilen, dass sie sich gut fühlte und auf Berlin stand.) | |
Leiser, dem wir den ersten Satz verdanken, ist ein erfolgreicher | |
Autorenkollege des Ich-Erzählers, längst mit Familie an den Stadtrand | |
gezogen, und in diesem Buch gleichsam die Kontrollinstanz, auch der | |
Spiegel: Das also kann aus einem werden, wenn man sein Leben nicht | |
verplempert. Der Ich-Erzähler dagegen hockt noch immer im Café Fler in der | |
Potsdamer Straße, dem „Café der Übriggebliebenen“, wie gleich zu Beginn … | |
Buches Leisers Freundin feststellt. (Leiser hat zwei Frauen, eine, die mit | |
ihm verheiratet ist, und eine Geliebte. Erfolgreiche Autoren sind | |
vielleicht so.) | |
## Undeutlich Verlorenes | |
Unter dem Bann dieses Fremdurteils, zu den Übriggebliebenen zu gehören, | |
nimmt der Erzähler seine Arbeit auf. Dass er nicht einmal genau weiß, wovon | |
er übrig geblieben ist, macht ihn zum Melancholiker, denn die Melancholie | |
heftet sich, wie wir von Freud wissen, an ein Verlorenes, das ihr selbst | |
nicht wirklich deutlich ist, anders gesagt: Sie weiß nicht genau, worum sie | |
zu trauern versucht. | |
Entsprechend greift dieser Roman mémoire in verschiedenste Richtungen aus. | |
Strukturlos ist er nicht; er weigert sich aber, den Gesetzen des gut | |
erzählten Romans als Sinnmaschine zu folgen, wie er immer noch und immer | |
wieder von Lesern wie Kritik goutiert wird. Seine Struktur folgt den Regeln | |
der Autofiktion, und das macht seine Stärken ebenso wie seine Schwächen | |
aus. | |
Dass in einem Roman mémoire alle Erzählstränge sich mit dem Vergangenen und | |
damit der Erinnerung befassen, liegt auf der Hand. Cailloux organisiert | |
seinen Text dankenswerterweise nicht linear, und wir bekommen hier also zum | |
Glück von einem 1945 geborenen Autor nicht noch einmal, möglichst filmreif | |
aufgepeppt, eine weitere Version der Geschichte der Bundesrepublik | |
Deutschland, ihrer alternativen Bewegungen, ihres Undergrounds und ihrer | |
Schreckensmomente und Nischen, obwohl das alles da ist. | |
## Die Tristesse der milchkaffeebraunen Altbauten | |
Erzählung und Reflexion durchdringen sich, und manchmal nimmt die Reflexion | |
überhand, was dem Buch nicht guttut, doch dazu später. Zuweilen greifen die | |
Erzählstränge und die erzählten Zeiten ineinander, was in der Regel gut | |
gelingt und schlüssig ist. | |
Es gibt hübsche, genaue Beobachtungen. Das Wesen der Mauerstadt Westberlin | |
erfasst Cailloux auf einer einzigen Seite zuerst ästhetisch, dann | |
soziologisch. Nach jeder Rückkehr aus Westdeutschland braucht es einen | |
Moment, aber dann „wusste ich wieder, dass die Pracht West-Berlins nur | |
rudimentär vorhanden und in Teilen schwer lädiert, wenn nicht verschüttet | |
war. Die Tristesse der milchkaffeebraunen Altbauten, der angeschossenen | |
Brandmauern fiel stärker als anderes ins Auge – in Waschbetonkübeln | |
vertrockneten Krokusse, wie gepflanzt für Künstlerfotos in Schwarzweiß.“ | |
Ja, so war das, und eben, soziologisch betrachtet, auch so: „Einladend | |
auch, dass es im Westteil keine strikt hierarchisierte Gesellschaft mehr zu | |
geben schien, weil sich das geschäftswillige Bürgertum spätestens seit dem | |
Mauerbau verdünnisiert hatte und Platz machte – für Studenten, | |
Künstlerkandidaten, Lebenshungrige und auch für mich.“ Und das Ganze wird | |
dann fünfzehn Seiten weiter auf den Punkt gebracht: „… das Schöne in | |
Westberliner Zeiten war ja, dass man sich um Ostberlin nicht kümmern | |
musste.“ | |
## Die Spielzeit 78/79 | |
Das sind Beobachtungen aus der „Spielzeit 78/79“, um Cailloux selbst zu | |
zitieren, der damit natürlich seinerseits den Titel seines ersten Romans | |
paraphrasiert. Der Ich-Erzähler lebt da erst ein paar Jahre in Westberlin, | |
nach dem Ende seiner Düsseldorfer und Hamburger Unternehmerjahre, sieht dem | |
schnell wachsenden Ruhm der Neuen Wilden zu und geht abends in den | |
„Dschungel“, wo es „stets diese beiden Hauptgruppen“ gibt: „die näch… | |
Erzähler und die Tänzer, die Dichotomie eines voll im Saft stehenden | |
Szenevolks – immer dabei auch eine in den handlungsarmen Ecken der Diskos | |
diskutierende Hegel- und Heidegger-Runde, das passte.“ Also wohl doch die | |
große Zeit, diese späten Siebziger, frühen Achtziger, irgendwo zwischen | |
Schöneberg und Moritzplatz: Leiser scheint recht zu behalten. | |
Das Heute jedenfalls kann da nicht mithalten. Denn im Heute lernt der | |
Erzähler Ella kennen, eben in diesem Café der Übriggebliebenen, mit der er | |
ein geschätztes Jahr verbringen wird. So genau lässt sich das nicht sagen, | |
denn dies ist die farbloseste und uninteressanteste Liebes-, nein | |
Beziehungsgeschichte, die ich seit Langem gelesen habe, und sie zieht sich | |
durch den Großteil des Buches. Das plätschert zäh vor sich hin. | |
Cailloux analysiert dieses Verhältnis zwischen zwei Menschen, die | |
eigentlich überhaupt nicht zueinander passen (was dem Leser ganz schnell | |
klar ist) tatsächlich so ausführlich und langatmig, als befänden wir uns in | |
den endlosen Beziehungsgesprächen der Siebziger. | |
## Blasse Schimäre | |
Was er da tut, kommentiert er sogar an einer Stelle – unfreiwillig? – | |
selbst: „Konnte man sich alles im Bildungsfernsehen der hinteren Kanäle | |
ankucken, die Probleme der Bindungsfähigkeit, die Konflikte zwischen den | |
verschiedenen Hirnteilen, einer hat Hunger, der andere sorgt sich ums | |
Dickwerden, ein Haufen Neuronen will Liebe. Der andere lieber das Selbst | |
davor schützen …“ Dabei bleibt Ella blass, eine Schimäre: Wenn sie auf | |
Seite 262 endlich für immer gegangen ist, wissen wir nicht mehr über sie | |
als auf Seite 48, wo sie das erste Mal auftaucht. | |
Mit Ella fährt der Erzähler einmal nach Erfurt, in seine Geburtsstadt, zum | |
ersten Mal in seinem Leben, zur alten Frau Richter, die die Eltern noch im | |
Krieg als Flüchtlinge aufgenommen hat. Er erfährt dort sehr viel über sich | |
und seine Familie, die Trennung seiner Eltern, Denunziationsvorwürfe noch | |
in der Nazizeit, was er bisher nicht wissen wollte: denn ein Familienmensch | |
ist er nicht und will es auch nicht werden (im Gegensatz zu Ella, | |
natürlich). | |
Diese Passage gehört zu den beiden stärksten des Buches, auch die Sprache | |
ist dort konzentrierter und genauer als in anderen Teilen, in denen sich so | |
unmögliche Wörter wie „verunmöglichen“ tummeln. Da wird der Erzähler | |
gewissermaßen mit einer frühen Kindheit ausgestattet, und darüber staunt | |
er. | |
In der zweiten sehr starken Passage geht es um Erinnerungskultur, genauer: | |
um das Reden über 1968 und die Folgen. Eine öffentliche Veranstaltung, | |
Schweizer Seite des Bodensees, der Erzähler ist als Alt-Hippie geladen, | |
zwei Professorinnen sind dabei, ein alter SDS-Kader und andere, aber der | |
Stargast ist natürlich ein ehemaliger RAF-Terrorist, der nun schon seit | |
Jahren durch die Talkshows tingelt. | |
Das sind schulbuchreife 28 Seiten, wie Cailloux da die | |
68er-Erinnerungskultur inszeniert, und da gewinnt er auch die ironische | |
Ebene aus dem Vorgängerroman wieder, die ansonsten in diesem Buch oft | |
fehlt. Denn Ella, die langweilige Ella, hat schon fast recht, wenn sie | |
sagt: „Du bist einfach immer nur negativ.“ | |
Aber nur fast. Cailloux’ Buch handelt von jenen Verlusten, die dem | |
Melancholiker undeutlich oder unbekannt bleiben und die deshalb, dem Titel | |
zum Trotz, am Ende nicht auf der Habenseite der Bilanz auftauchen. | |
„Geschichten vom unbekannten Verlust“ hat Helmut Lethen einmal eine | |
Sammelrezension von vier Romanen überschrieben, die alle mehr oder weniger | |
um die Vorgeschichte oder die Folgen von 1968 kreisten. Das ist allerdings | |
lange her: Der Text ist im Oktoberheft 1979 des Merkur erschienen. | |
Cailloux’ Roman mémoire hätte sich da nahtlos eingereiht. | |
## ■ Bernd Cailloux: „Gutgeschriebene Verluste“. Suhrkamp, Berlin 2012, 2… | |
Seiten, 21,95 Euro | |
29 Feb 2012 | |
## AUTOREN | |
Jochen Schimmang | |
## TAGS | |
Vietnamkrieg | |
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