# taz.de -- 50. Jahrestag Antikriegsproteste: US-Truppen auf zum Mond! | |
> Auch bürgerlicher Ungehorsam will gelernt sein: Am 5. Februar 1966 zieht | |
> die erste Vietnam-Demo durch Westberlin zum Amerika-Haus. | |
Bild: In Westberlin wurde gegen die Schrecken des Krieges in Vietnam demonstrie… | |
Was zuvor geschah: Zu Weihnachten 1965 veröffentlichen sämtliche | |
Westberliner Zeitungsverleger in ihren Tageszeitungen einen Spendenaufruf | |
für die US-Opfer des Vietnamkriegs. Von den gesammelten 130.000 Mark | |
erwirbt man kleine Freiheitsglocken aus Porzellan und schickt diese an die | |
Familien der in Vietnam gefallenen US-Soldaten. Denn die hätten, so | |
paraphrasiert der Satiriker Wolfgang Neuss den Kotau vor der „Schutzmacht“, | |
ihr Leben lassen müssen, „damit wir ungestört auf’n Kud’amm unsere | |
Weihnachtseinkäufe tätigen können … Ekel würgt mir. Ich kotze kurz.“ | |
In einem weiteren Artikel setzen er und seine Mitstreiter sogar noch einen | |
drauf. „Heute für die amerikanische Vietnam-Politik Geld spenden heißt | |
sparen fürs eigene Massengrab“, vermelden sie im eigenen Satireblatt Neuss | |
Deutschland. Viel wichtiger seien doch „Gasmasken und Luftschutzkeller für | |
die Redaktionsstäbe der Westberliner Tageszeitungen. Wie leicht fällt aus | |
Versehen so eine Napalmbombe der Amerikaner auf das Ullsteinhaus.“ | |
Neuss marschiert dann auch vorne mit, als am 5. Februar 1966 die erste | |
Vietnam-Demo durch Berlins Straßen zieht. Der SDS hat die Verwaltungsgebühr | |
von 20 Mark entrichtet, und so wird der Marsch auf das Amerikahaus vom | |
Polizeipräsidium genehmigt. Es gibt schließlich Vereins- und | |
Versammlungsfreiheit in der Bundesrepublik. Nur wie man sie nutzt, das muss | |
man noch ein bisschen üben. | |
Es ist Grüne Woche, ein langer Samstag. Winterschlussverkauf. „WSV“-Plakate | |
allenthalben. Fast hätte es noch andere gegeben – mit „Amis raus aus | |
Vietnam“-Slogan. Rudi Dutschke, Dieter Kunzelmann und einige ihrer | |
Kombattanten ziehen zwei Tage vorher mit Quast und Leimeimer los, aber | |
einige von ihnen werden von der Polizei erwischt und fahren ein. | |
Untersuchungshaft. Die Demonstration hat jetzt noch ein anderes Ziel – die | |
linken Studenten zu befreien. | |
## Großes Straßentheater | |
Die Plakate hat die Polizei sofort wieder entfernt, aber es gibt genug zu | |
lesen; die 2.500 Menschen, die sich um 14 Uhr am Steinplatz treffen, haben | |
Pappschilder und Spruchbänder gemalt. „Wo bleiben freie Wahlen für | |
Vietnam?“ ... „Beginnt in Vietnam der 3. Weltkrieg?“ ... „Wie viele Kin… | |
habt ihr heute ermordet?“ ... „Solidarität mit Kriegsgegnern in USA“ ... | |
„Vietnam den Vietnamesen“ ... „500.000 Tote. Wie viele noch?“ ... | |
„Selbstbestimmung, wenn alle tot sind?“ ... „Um ihre ‚Freiheit‘ zu | |
erreichen, gehn ‚Christen‘ wieder über Leichen!“ ... „US-Eskalation be… | |
den Weltfrieden“ ... „Warum nicht gleich Cyclon-B-Medikamente nach | |
Vietnam?!“ … „Herr Johnson läßt Menschen ausrotten wie Läuse und Motte… | |
... „Wildwest in Fernost“ … „Wird der Mond kommunistisch? US-Truppen auf | |
zum Mond!“ … | |
Im Steinplatz-Kino nebenan laufen „Tatis Schützenfest“ und „Julia, du bi… | |
zauberhaft“, aber das hier ist großes Straßentheater. Sogar der SFB hat | |
einen Ü-Wagen vor Ort. | |
Der Demo-Kurs ist mit den Behörden abgestimmt. Vom Steinplatz geht es zum | |
Bahnhof Zoo, von dort in die Joachimsthaler Straße, eine kurze Strecke über | |
den Kurfürstendamm, in die Uhlandstraße und wieder zurück zum Steinplatz. | |
Und danach mal sehen. | |
Es beginnt pünktlich, wird ja auch früh dunkel in dieser Jahreszeit. Am | |
Ende sieht man nichts mehr. Man will aber etwas sehen, nicht zuletzt der | |
Verfassungsschutz, der mitmarschiert und Fotos macht von prominenten | |
„Linksabweichlern“. | |
„Dreierreihen, bitte“, verfügt die Polizei aufgeräumt und freundlich, | |
„bitte in Dreiereihen zu demonstrieren.“ Eine Spur muss für den Verkehr | |
frei bleiben. Man gehorcht und beginnt loszuziehen. Nach 500 Metern das | |
Amerikahaus. Viele setzen sich auf die Straße. Sitzstreik. Sit-in sagt man | |
dazu schon eine Weile in den USA. Jetzt lernt es auch die deutsche Linke. | |
Dabei sind nicht nur Linke unter den Demonstranten. Neuss berichtet später, | |
er habe sogar CDU-Mitglieder getroffen, die ihre abweichende Meinung durch | |
diesen friedlichen Samstagsspaziergang durch Charlottenburg Ausdruck | |
verleihen wollen. Erste Sprechchöre. | |
„Johnson – Mörder!“ | |
„Jeder, der den Springer liest, auch auf Vietnamesen schießt.“ | |
„Geht erst mal arbeiten!“, schreit eine Passantin. | |
„Geht doch nach Ostberlin demonstrieren“, spuckt eine andere hysterisch. | |
„Dort darf ich ja nicht.“ | |
„Ebend“, schreit sie erneut, „und hier machste es!“ | |
„Genau, hier darf ich!“ | |
Immer wieder Sprechchöre. | |
„Lasst die Studenten frei!“ | |
„Amis raus aus Vietnam!“ | |
Wolfgang Neuss denkt den Satz zu Ende. | |
„Springer raus aus den Amis.“ Denen man vorher in den Arsch gekrochen ist, | |
will er vielleicht damit sagen. | |
„Wirrkopf“, wird ihm vom Straßenrand Bescheid getan. | |
Nach ein paar Minuten geht es weiter. Beim altehrwürdigen Gasthaus | |
Aschinger kommt ein Kellner heraus, wirft die kleinen Brötchen, die man | |
hier gratis zur berühmten Erbsensuppen bekommt, in die Menge. Die reagiert | |
auch gleich, skandiert: „Brötchen für Vietnam!“ Etwas später halten | |
Arbeiter ein Schild aus dem Fenster. „Sei schlau, lern beim Bau!“ Und auch | |
hier weiß die Menge eine Antwort. „Kein Maurer nach Vietnam.“ | |
## Erschrecken und Anerkennung | |
Die Menschen haben Spaß, weil sie merken, für wie viel Aufmerksamkeit sie | |
sorgen, im Positiven wie im Negativen. Meistens wohl Letzteres. „Die feinen | |
Studenten!“ „Nichts Besseres zu tun?“ Aber das ist ihnen völlig egal. | |
Sie biegen ein in den Ku’damm. Hinter den Fenstern des Café Kranzler Blicke | |
aus Erschrecken und Anerkennung. Ein paar Burschenschaftler wollen dem Spuk | |
etwas entgegensetzen. „USA schützt auch Berlin“, rufen sie. „Es lebe L. … | |
Johnson.“ Und: „Studenten sollen studieren, nicht sich blamieren!“ Aber d… | |
Protestmarschierer sind lauter. | |
Vor der Maison de France an der Uhlandstraße setzen sich einige erneut hin. | |
Auch Frankreich hat schon mal in Vietnam gekämpft und dort sein Bien Phu | |
erlebt. | |
„Frieden statt Lügen!“ | |
„Lasst die Studenten frei!“ | |
Jetzt macht ein Gerücht die Runde. „Nach der Demonstration gibt’s Freibier | |
am Amerikahaus.“ Hier geht es also weiter. | |
Einer hat beim Delikatessgeschäft Hefter im Bahnhof Zoo (“Erst einmal, dann | |
öfter, dann immer zu Hefter!“) sechs Eier der Güteklasse eins erstanden. | |
Eier für Ho Tschi Minh. Aber der edle Spender hat Schwierigkeiten, die Eier | |
loszuwerden. Ein Zeichen will man ja setzen, nachdrücklich soll es schon | |
sein, aber gleich Eier? Wie gesagt, man muss erst noch lernen, wie man das | |
macht – demonstrieren. | |
## Attacke | |
Dann ist der offizielle Teil auch schon um. Aus dem Polizeilautsprecher | |
lobt ein Wachtmeister. „Wir danken Ihnen für die ruhige eindrucksvolle | |
Demonstration, nunmehr ist sie beendet, bitte die Schilder ablegen, auf | |
Wiedersehen.“ | |
Neuss kontert mit Brecht. „Es werden die Revolutionäre gebeten / den | |
städtischen Rasen nicht zu betreten.“ Der SDS greift sich eine Flüstertüte | |
und ruft noch ein paar der mittlerweile bekannten Parolen. „Und vergessen | |
Sie nicht unsere Unterschriftenaktion.“ | |
Ermuntert von einer Handvoll SED-Funktionäre, so heißt es später in | |
SPD-Kreisen, seien die Studenten danach zur Attacke übergegangen. Ein | |
harter Kern von 150 Unverfrorenen will nicht nach Hause. Sie sind in | |
Feierlaune und ziehen ein weiteres Mal zum Amerikahaus. Noch ein Sit-in. | |
Dem ursprünglichen Einsatzbefehl der Polizei, die Menge von dort | |
fernzuhalten, tritt der Direktor Ernest J. Colton entgegen. Er zeigt sich | |
diskussionsbereit und um Deeskalation bemüht. Dreißig, vierzig | |
Demonstranten dürfen eintreten, dann wird die Tür wieder verschlossen. | |
## Das reicht der Menge nicht | |
Das reicht der Menge aber nicht. Jetzt kommen die Ho-Tschi-Minh-Eier zum | |
Einsatz. Sie fliegen aus dem Schutz der Bahnunterführung, zwei geben der | |
mit blauen und roten Mosaiksteinen gefliesten Außenwand einen zusätzlichen | |
Farbtupfer, ein drittes geht daneben, das vierte trifft wieder. Die SEDler | |
sind schnell verschwunden, geworfen haben, zum Kummer der Partei – | |
Sozialdemokraten. | |
Zwei von ihnen vergreifen sich jetzt auch am Sternenbanner und zerren es | |
herunter. Zunächst bleibt die Polizei besonnen. Erst als ein SDS-Student | |
die Flagge auf Halbmast setzen will, schreitet sie ein. „Da kann ja jeder | |
kommen!“ Zur Verstärkung rauscht ein Überfallwagen heran. Und jetzt gibt es | |
doch noch Gummiknüppel satt. | |
Die „bürgerliche Presse“ hat tags drauf viel zu schimpfen. „Berlins Schi… | |
sei beschmutzt worden, meint der SPD-eigene Telegraf, „studentische Narren“ | |
(„Berliner Morgenpost“) hätten sich zu „antiamerikanischen Ausschreitung… | |
(„BZ“) hinreißen lassen. Auch Berlins regierender Bürgermeister Willy | |
Brandt spricht von einer „Schande“ und sieht die | |
deutsch-amerikanische-Freundschaft besudelt. Von Ludwig Erhards | |
Berlin-Beauftragtem Ernst Lemmer ist sowieso nichts anderes zu erwarten, | |
auf der eilig von der Jungen Union anberaumten Gegendemo drei Tage später | |
schäumt er über die „politischen Spinner“. Und der Rektor der Freien | |
Universität meint gar, beim Berliner Stadtkommandanten John Franklin für | |
die „Beleidigung“ seiner Studenten um Entschuldigung bitten zu müssen. | |
Semesterziel erreicht! | |
Obwohl – so ganz doch nicht. Denn die, die man treffen will und über deren | |
empörte Reaktion man sich am ehesten die Hände gerieben hätte, zucken nur | |
einmal kurz mit den Achseln. Die „Amis“ sind aus dem eigenen Land Kummer | |
mit den jungen Leuten gewohnt und fragen verwundert bei den deutschen | |
Journalisten nach, warum man soviel publizistischen Wind mache um diesen | |
Protestmarsch. Nichts Besseres zu tun? | |
4 Feb 2016 | |
## AUTOREN | |
Frank Schäfer | |
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