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# taz.de -- „Eisfuchs“ von Tanya Tagaq: Sie schlägt sich durch
> Sängerin und Autorin Tagaq erzählt rotzig vom Aufwachsen in der
> kanadischen Arktis. Von Missbrauch, Natur und surrealen Traumwelten.
Bild: „Was ich mache, ist nicht in beabsichtigter Weise politisch oder düste…
Das Leben in Nunavut kann die Hölle sein. Gegen die Kälte des
Permafrostbodens helfen in der kanadischen Arktis noch die Kamiit, die
Inuit-Stiefel, aber gegen das Gefühl, dass das ganze Sein vor allem im
Winter wie eingefroren ist, kann auch die Fußbekleidung nichts ausrichten.
Die Welt wirkt hier, an ihrem Rande, bleiern, benommen, betäubt.
„Langeweilekater. Tiefster Winter. Die Sonne haben wir seit Monaten nicht
gesehen. (…) Kältefrei kriegen wir erst ab minus fünfzig Grad, gefühlte
Temperatur“, berichtet die Ich-Erzählerin, eine Schülerin im
Teenager-Alter.
Sie besucht die Residential School, und in der Schule tauscht sie die
brutale Kälte draußen ein gegen den brutalen Pubertätskampf drinnen: „Achte
Klasse. Zum Kotzen. Ich habe wieder einmal eine riesige, widerliche
Herpesblase am Kinn, aus der Flüssigkeit nässt. Ich versuche (...) mich
innerlich gegen die fiesen Bemerkungen zu wappnen, die gleich auf mich
herabprasseln werden. ‚Monsterpickel‘ wird jeder mit einer Herpesblase
genannt, und das jeden Tag, bis das Ding wieder weg ist.“
Die Sängerin und Autorin Tanya Tagaq ist in Nunavut, im Dorf Iqaluktuuttiaq
(Cambridge Bay), aufgewachsen. Nunavut heißt das an Grönland grenzende
Inuit-Territorium in Kanada, 39.000 Menschen leben dort, die Gemeinden
erreicht man nur per Flugzeug oder Schiff.
Tagaq ist selbst Inuk, sie hat sich als Kehlkopfsängerin in der
internationalen Musikszene einen Namen gemacht. Ihr lautmalerischer Gesang
mit Anteilen von Murren, Gurren und Maunzen sucht weltweit ihresgleichen.
Manchmal klingt es gar wie A-cappella-Death-Metal, was sie macht.
## Harter Stoff
Kürzlich hat die 44-Jährige ihr erstes Buch vorgelegt, das nun im Deutschen
unter dem Titel „Eisfuchs“ erschienen ist. Darin beschreibt die heute in
Toronto lebende Künstlerin, wie sie in der Arktis aufwuchs.
Es ist harter Stoff, Tagaq spricht neben den Pubertätswirren auch von
sexuellem Missbrauch, Gewalt und Alkoholismus. Zugleich driftet das Buch,
das 2018 unter dem Titel „Split Tooth“ im Englischen erschien, immer wieder
in surreale Traumwelten ab. Stilistisch changiert „Eisfuchs“ zwischen Lyrik
und Short Storys, die Autorin springt zwischen Zeiten und Genres.
Im Telefongespräch erklärt Tanya Tagaq zunächst, dass sie trotz der Härten
des Lebens und der widrigen Umwelt gerne in Nunavut Kind war. „Ich bin
glücklich, dort aufgewachsen zu sein. Es ist eine kleine Community, die
Menschen leben von der Fischerei, wir haben eine starke Verbindung zur
Natur. Dort umherzustreifen ist die entspannendste und magischste Sache,
die ich kenne. Absolut atemberaubend.“
Das Material für das Buch habe sich eigentlich mehr zufällig im Lauf der
Jahre angehäuft: „Ich wollte eigentlich nie Schriftstellerin werden, aber
nach all den Jahren des Musikmachens und dem vielen Reisen hat sich viel
Schriftliches angesammelt, darunter Erinnerungen und Träume, die ich
niedergeschrieben habe, sehr lebensnahe Träume.“ Zudem habe sie auf alte
Tagebücher aus Schulzeiten zurückgegriffen.
Ihr Debüt „Eisfuchs“ kreist einerseits um dieses positive Verhältnis von
Mensch und Natur, erzählt aber genauso von der finsteren menschlichen
Natur, die um sie herum vor allem die finstere männliche Natur ist. So
greift der Lehrer der Erzählerin im Unterricht zwischen die Beine, als sei
es das Normalste der Welt, er „bohrt seine Finger in meinen Slip / Unter
dem Tisch“, später wird sie Zeugin, als ein älteres Mädchen vergewaltigt
wird, auch das geschieht fast beiläufig.
Dabei erklärt Tagaq, dass sie und ihr Lektor die schlimmsten Stellen
herausgelassen hätten. Sie will „Eisfuchs“ aber weder als besonders
abgründiges Buch verstanden noch in einen MeToo-Kontext gestellt wissen.
„Was ich mache, ist nicht in beabsichtigter Weise politisch oder düster.
Das Buch zeigt einfach, wie die Menschen dort leben.
## Comedyshow Realität
Es ist wichtig, dass die Leute verstehen, wie hart es ist, dort zu leben,
und welche Folgen es hatte, wie die kanadische Regierung Inuit im 20.
Jahrhundert behandelt hat, was das Residential School System angerichtet
hat.“
Bis 1996 bestanden die Internate, in denen First-Nations-, Inuit- und
Métis-Angehörige segregriert wurden; ähnlich wie in Einrichtungen der
katholischen Kirche in Deutschland fand dort massenweise Missbrauch und
Gewalt statt. Ende der Neunziger entschuldigte sich Kanada bei den Opfern,
2005 wurde ein Entschädigungsprogramm ins Leben gerufen.
Für die Erzählerin in „Eisfuchs“ ist es im Jugendalter kaum möglich, all
das zu kompensieren. Sie versucht sich das Leben zu nehmen, sie schottet
sich selbst ab, sie schlägt sich im Wortsinne durch: „Der kleine Scheißer
will unbedingt Streit. In einem fort quasselt er, Jungs seien so viel
besser als Mädchen. Jungs seien stärker, Jungs seien schneller, und
schlauer natürlich auch. Schwule sind eklig und er hasst sie. Mir kommt er
vor wie eine lästige Mücke. Ich habe eine Idee. Ich springe vom Geländer
und packe ihn von hinten. (…) Problemlos bringe ich ihn zu Fall, drücke ihn
zu Boden und fordere die anderen auf, mir zu helfen. Wir lachen wie die
Wahnsinnigen.“
Humor, Musik und auch Drogen lassen die Erzählerin Vieles vergessen, sie
schnüffelt Butangas oder kifft, hört AC/DC und kleidet sich von oben bis
unten in Neon-Klamotten. Mit ihren Freunden lacht sie „über die idiotische
Comedyshow, die als Realität bezeichnet wird. Wie heilsam.“
Aber „Eisfuchs“ kann man weder auf die Coming-of-Age- noch auf die
Missbrauchserzählung reduzieren, dann würde man all die traumartigen
Passagen, das mystische Erzählen und das verstörende Ende, das hier nicht
gespoilert werden soll, außen vor lassen. Dabei scheinen die Traumwelten,
viele sexueller Natur, die Erzählerin verarbeiten zu lassen, was alles
geschehen ist, ohne dass je darüber gesprochen wurde. Da bekommt das Buch
eine psychoanalytische Dimension, ebenso in dem Plot.
## Den Überlebenden der Residential Schools gewidmet
Die politische Ebene schwingt ohnehin immer mit, so widmet Tagaq das Buch
den „Überlebenden der Residential Schools“ und den „verschwundenen und
ermordeten indigenen Frauen und Mädchen Kanadas“. Denn auch das spurlose
Verschwinden indigener Frauen und der Mord an ihnen blieben lange
unaufgearbeitet. Zwischen 1980 und 2012 wurden 1.017 Mordfälle bestätigt,
eine Untersuchungskommission stufte die Fälle 2019 als „race-based genocide
of Indigenous peoples“ ein – Premier Justin Trudeau kündigte daraufhin
einen nationalen Aktionsplan an.
Für die sexuelle Gewalt findet Tagaq immer wieder drastische Worte, im
eingestreuten lyrischen Essay „Kollektiver Bewusstseinswandel“ schreibt
sie: „Während wir / Unsere Kotze essen / Vom Speisesaalboden / Der
Residential School / Vom Boden einer Pornokulisse / Facial als Strafe für
alle“.
Die Stärke von „Eisfuchs“ besteht darin, dass Tagaq all das in eine
sprachlich starke Fiktion einbindet, in der das Opfersein nicht
fetischisiert wird, in der sie das (christliche) Narrativ von Scham
verdammt. Ihr Buch kommt rotzig und lebensbejahend daher, die Erzählerin
kommt darin als beeindruckend starke Person herüber, die Wege gefunden hat,
sich von den Wunden der Kindheit zu kurieren. Und darin dürfte sie dann
doch einiges mit der großen Künstlerin Tanya Tagaq gemein haben.
11 Mar 2020
## AUTOREN
Jens Uthoff
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